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VwGH 18.01.2023, Ra 2020/22/0269

VwGH 18.01.2023, Ra 2020/22/0269

Entscheidungsart: Erkenntnis

Rechtssatz


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Normen
MRK Art8 Abs2
NAG 2005 §11 Abs3
VwGG §42 Abs2 Z3 litb
VwGG §42 Abs2 Z3 litc
RS 1
Die Aufrechterhaltung des Kontaktes mittels moderner Kommunikationsmittel mit einem Kleinkind ist kaum möglich. Dem Vater eines Kindes (und umgekehrt) kommt grundsätzlich das Recht auf persönlichen Kontakt zu (vgl. ; ).
Hinweis auf Stammrechtssatz
GRS wie Ra 2019/21/0128 E RS 1 (hier 3 1/2 Jahre und Säugling)

Entscheidungstext

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Pelant, den Hofrat Dr. Mayr und die Hofrätin Dr. Holzinger als Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag.a Thaler, über die Revision des S D, vertreten durch die Neulinger Mitrofanova Ceovic Rechtsanwälte OG in 1020 Wien, Taborstraße 11B, gegen das Erkenntnis des Verwaltungsgerichts Wien vom , VGW-151/074/9546/2020-12, betreffend Aufenthaltstitel (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Landeshauptmann von Wien), zu Recht erkannt:

Spruch

Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.

Der Bund hat dem Revisionswerber Aufwendungen in der Höhe von € 1.346,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

1 Der Revisionswerber ist Staatsangehöriger von Bosnien und Herzegowina. Unter Berufung auf seine am  mit einer österreichischen Staatsbürgerin geschlossenen Ehe stellte er am bei der österreichischen Vertretungsbehörde in Sarajewo einen Antrag auf Erteilung eines Aufenthaltstitels „Familienangehöriger“.

2 Mit Bescheid des Landeshauptmannes von Wien vom wurde dieser Antrag gemäß § 11 Abs. 2 Z 4 iVm Abs. 5 und § 21 Abs. 1 zweiter Satz Niederlassungs- und Aufenthaltsgesetz (NAG) abgewiesen.

3 Die gegen diesen Bescheid erhobene Beschwerde wies das Verwaltungsgericht Wien nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung mit dem angefochtenen Erkenntnis vom ab. Die Revision erklärte das Verwaltungsgericht gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG für nicht zulässig.

Begründend hielt das Verwaltungsgericht - das sich nur auf das Nichtvorhandensein ausreichender finanzieller Mittel stützte - fest, dass der in § 11 Abs. 5 NAG normierte gesetzliche Richtsatz nicht erreicht werde. Es kam im Rahmen der Interessenabwägung nach § 11 Abs. 3 NAG zu dem Ergebnis, dass das öffentliche Interesse an der Nichterteilung des Aufenthaltstitels höher zu gewichten sei als das Interesse des Revisionswerbers, der einen Erstantrag gestellt habe und nicht auf einen dauernden Verbleib mit seiner nunmehrigen Ehefrau, die österreichische Staatsangehörige ist, habe vertrauen dürfen. Ein Zwang für die Ehefrau des Revisionswerbers und das gemeinsame Kind, bei Verweigerung des Aufenthaltstitels an den Revisionswerber das Gebiet der Europäischen Union verlassen zu müssen, sei nicht ersichtlich.

4 Gegen dieses Erkenntnis richtet sich die vorliegende Revision.

5 Der Verwaltungsgerichtshof hat - nach Durchführung eines Vorverfahrens, in dem die belangte Behörde von der Erstattung einer Revisionsbeantwortung Abstand nahm - in einem nach § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat erwogen:

6 Die Revision, die sich in ihrer Zulässigkeitsbegründung gegen die vom Verwaltungsgericht nach § 11 Abs. 3 NAG vorgenommene Interessenabwägung wendet, erweist sich als zulässig und berechtigt.

7 Im Allgemeinen kann die im Rahmen der Entscheidung über einen Antrag auf Erteilung eines Aufenthaltstitels unter Bedachtnahme auf die jeweiligen Umstände des Einzelfalles in Form einer Gesamtbetrachtung durchgeführte Interessenabwägung im Sinn des Art. 8 EMRK - wenn sie auf einer verfahrensrechtlich einwandfreien Grundlage erfolgte und in vertretbarer Weise im Rahmen der von der Rechtsprechung entwickelten Grundsätze vorgenommen wurde - nicht erfolgreich mit Revision im Sinn des Art. 133 Abs. 4 B-VG bekämpft werden (vgl. , Rn. 7, mwN). Die vom Verwaltungsgericht vorgenommene Interessenabwägung im Sinn des Art. 8 EMRK ist vom Verwaltungsgerichtshof nur dann aufzugreifen, wenn das Verwaltungsgericht die vom Verwaltungsgerichtshof aufgestellten Leitlinien und Grundsätze nicht beachtet und somit seinen Anwendungsspielraum überschritten oder eine krasse und unvertretbare Fehlbeurteilung des Einzelfalles vorgenommen hat (vgl. , Rn. 13, mwN).

8 Der Verwaltungsgerichtshof erkennt in ständiger Rechtsprechung, dass der Bindung eines Fremden an einen österreichischen Ehepartner im Rahmen der Abwägung nach Art. 8 EMRK große Bedeutung zukommt. In einem solchen Fall müssen nähere Feststellungen zu den Lebensverhältnissen des Fremden und seines Ehepartners sowie zur Möglichkeit der Führung eines Familienlebens außerhalb Österreichs getroffen werden (vgl. , mwN).

9 Des Weiteren hat der Verwaltungsgerichtshof wiederholt zum Ausdruck gebracht, dass auch das Kindeswohl bei einer Interessenabwägung zu berücksichtigen ist (vgl. , Rn. 11, mwN).

10 Diese Grundsätze hat das Verwaltungsgericht im vorliegenden Fall nicht hinreichend beachtet. Das Verwaltungsgericht hat zwar Feststellungen dazu getroffen, dass sowohl das Kind des Revisionswerbers aus seiner früheren Ehe als auch das gemeinsame (österreichische) Kind des Revisionswerbers und seiner nunmehrigen Ehefrau in Wien leben, eine ausdrückliche Beurteilung der Auswirkungen der angefochtenen Entscheidung auf das Familienleben des Revisionswerbers insbesondere mit seinen Kindern bzw. auf deren Kindeswohl ist jedoch unterblieben. Das angefochtene Erkenntnis enthält auch keine Ausführungen betreffend eine allfällige Möglichkeit der Fortsetzung des Familienlebens außerhalb Österreichs und die Zumutbarkeit einer (zumindest temporären) Trennung. Im Übrigen wäre diesbezüglich auch zu berücksichtigen gewesen, dass die Aufrechterhaltung des Kontaktes mittels moderner Kommunikationsmittel mit einem - wie im gegenständlichen Fall rund dreieinhalbjährigen - Kleinkind und einem Säugling von rund acht Monaten kaum bzw. nicht möglich ist. Dem Vater eines Kindes (und umgekehrt) kommt grundsätzlich das Recht auf persönlichen Kontakt zu (vgl. , Rn. 50, mwN).

11 Indem das Verwaltungsgericht die dargelegten Aspekte nicht ausreichend und nicht in einer für den Verwaltungsgerichtshof nachvollziehbaren Weise in seine Interessenabwägung nach Art. 8 EMRK einbezogen hat, hat es seine Begründung insoweit mit einem Mangel belastet, dessen Relevanz nicht ausgeschlossen werden kann.

12 Das angefochtene Erkenntnis war daher wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 lit. b und c VwGG aufzuheben.

13 Die Entscheidung über den Aufwandersatz beruht auf den §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2014.

Wien, am

Zusatzinformationen


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Normen
MRK Art8 Abs2
NAG 2005 §11 Abs3
VwGG §42 Abs2 Z3 litb
VwGG §42 Abs2 Z3 litc
Schlagworte
Begründung Begründungsmangel Besondere Rechtsgebiete
ECLI
ECLI:AT:VWGH:2023:RA2020220269.L00
Datenquelle

Fundstelle(n):
UAAAF-45400

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