VwGH 16.02.2021, Ra 2020/19/0153
Entscheidungsart: Erkenntnis
Rechtssätze
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RS 1 | Eine dem ordre public zuwiderlaufende Kinderehe kann auch dann vorliegen, wenn im Zeitpunkt der Eheschließung bloß einer der Ehepartner minderjährig war. Eine von einem Minderjährigen geschlossene Ehe ist jedoch nicht schon allein wegen der Minderjährigkeit der Ehepartner und eines deswegen gegebenen Fehlens der Ehefähigkeit jedenfalls als eine dem ordre public widerstreitende Kinderehe anzusehen. |
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RS 2 | Bei der Beurteilung, ob eine dem ordre public widerstreitende Kinderehe vorliegt, ist darauf Bedacht zu nehmen, ob die Entscheidung über die Eheschließung ohne Einschränkung der Willensfreiheit, insbesondere ob die Ehe selbstbestimmt und ohne Zwang eingegangen wurde, und ohne Anknüpfung an Bedingungen erfolgt ist. Durch die Eheschließung und das im Eheband erfolgte Leben darf zudem der Schutz des Kindeswohles, insbesondere die Wahrung der (Persönlichkeits-)Rechte des Minderjährigen sowie der Schutz vor Ausbeutung und unzulässigen Verpflichtungen jeglicher Art, nicht in wesentlicher Weise beeinträchtigt sein. Dabei wird - neben der stets bei der Prüfung nach § 6 IPRG zu beachtenden Intensität der Inlandsbeziehung - regelmäßig dem Alter der Ehegatten und im Besonderen der daraus resultierenden Einsichtsfähigkeit nicht unwesentliche Bedeutung zukommen. Zudem sind der Bestand, die Dauer und die Ausgestaltung der Ehe sowie der Wille des minderjährigen Ehegatten einer näheren Betrachtung zu unterwerfen. Aber auch weitere den Einzelfall betreffende Umstände, etwa ob in Bezug auf die Eheschließung eine ernsthafte (und nicht bloß formelhafte) Überprüfung der Reife der Ehepartner und der Bereitschaft, die Ehe aus freien Stücken einzugehen, durch Behörden oder Gerichte stattgefunden hat, werden ebenso Berücksichtigung zu finden haben, wie der Wille des bei Eheschließung noch minderjährigen, aber mittlerweile volljährigen Ehepartners, die Ehe fortzusetzen, und worauf dieser Entschluss zurückzuführen ist. Dabei ist insoweit ein strenger Maßstab anzulegen, als jedenfalls verlässlich ausgeschlossen werden können muss, dass von einer von einem Minderjährigen im Ausland geschlossenen Ehe, die Rechtswirkungen im Inland zeitigen soll, eine Gefährdung des ordre public ausgeht, indem eine maßgebliche Beeinträchtigung des Kindeswohl oder des freien Ehewillens vorliegt. |
Hinweis auf Stammrechtssatz | GRS wie Ra 2020/14/0006 E RS 12 (hier: ohne den dritten und den letzten Satz) |
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RS 3 | Die Heiratsurkunde beweist als öffentliche Urkunde die Tatsache und den Zeitpunkt der Eheschließung, sie entfaltet hingegen keine Beweiskraft für Fragen zu den näheren Umständen der Eheschließung, insbesondere zur Bereitschaft der Ehepartner, die Ehe aus freien Stücken einzugehen, sowie dazu, ob für die Eheschließung ein Vermögensvorteil geleistet worden ist (vgl. etwa ). |
Entscheidungstext
Betreff
Der Verwaltungsgerichtshof hat durch die Vorsitzende Senatspräsidentin Dr. Büsser sowie den Hofrat Dr. Pürgy und die Hofrätin Dr.in Sembacher als Richter, unter Mitwirkung des Schriftführers Mag. Schara, über die Revision des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl in 1030 Wien, Modecenterstraße 22, gegen das am mündlich verkündete und mit schriftlich ausgefertigte Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts, Zl. W233 2181270-1/24E, betreffend eine Angelegenheit nach dem AsylG 2005 (mitbeteiligte Partei: J M, vertreten durch Mag. Robert Bitsche, Rechtsanwalt in 1050 Wien, Nikolsdorfergasse 7-11/15), zu Recht erkannt:
Spruch
Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.
Begründung
I.
1 Der Mitbeteiligte, ein afghanischer Staatsangehöriger, der im Iran geboren und aufgewachsen ist, reiste gemeinsam mit seinem Sohn und der Kindesmutter nach Österreich ein und stellte gemeinsam mit diesen am einen Antrag auf internationalen Schutz. Im Jahr 2017 wurde in Österreich die gemeinsame Tochter geboren.
2 Mit Bescheid des Bundesamts für Fremdenwesen und Asyl (BFA) vom wurde der Antrag des Mitbeteiligten hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten abgewiesen, ihm der Status des subsidiär Schutzberechtigten zuerkannt und eine befristete Aufenthaltsberechtigung erteilt. Betreffend die beiden Kinder des Mitbeteiligten und deren Mutter ergingen gleichlautende Entscheidungen.
Hinsichtlich des Familienstandes des Mitbeteiligten stellte das BFA ausdrücklich fest, dass der Mitbeteiligte und die Mutter seiner Kinder nicht verheiratet seien. Der Mitbeteiligte sei nicht standesamtlich verheiratet, er habe die „moslemische Eheschließung“ nur behauptet, jedoch nicht darlegen können, dass er verheiratet sei.
3 Den dagegen erhobenen Beschwerden gab das Bundesverwaltungsgericht (BVwG) mit Erkenntnis vom Folge und erkannte dem Mitbeteiligten, seinen Kindern und deren Mutter den Status von Asylberechtigten zu. Die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG wurde für nicht zulässig erklärt.
Der Kindesmutter sei auf Grund ihrer „westlichen Orientierung“ der Status der Asylberechtigten zuzuerkennen. Der Mitbeteiligte sei ihr Ehemann und lebe mit ihr und den gemeinsamen Kindern im gemeinsamen Haushalt. Er sei somit im Sinn des § 2 Abs. 1 Z 22 in Verbindung mit § 34 Abs. 2 AsylG 2005 Familienangehöriger einer Fremden, der der Status einer Asylberechtigten zuerkannt worden sei. Hinweise darauf, dass die Ehe nicht bereits vor der Einreise bestanden hätte, seien im Verfahren nicht hervorgekommen.
4 Mit Erkenntnis vom , Ra 2019/19/0149, hob der Verwaltungsgerichtshof die Entscheidung des BVwG betreffend den Mitbeteiligten infolge Verletzung der Begründungspflicht auf. Das BVwG habe in Zusammenhang mit der Feststellung, wonach der Mitbeteiligte entgegen der Auffassung des BFA der Ehemann der Mutter seiner Kinder sei, keinerlei beweiswürdigende Erwägungen angestellt.
5 Im fortgesetzten Verfahren gab das BVwG mit dem angefochtenen, am mündlich verkündeten und mit schriftlich ausgefertigten Erkenntnis der Beschwerde des Mitbeteiligten erneut statt und erkannte dem Mitbeteiligten den Status des Asylberechtigten im Familienverfahren nach § 34 AsylG 2005 zu. Die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG wurde für nicht zulässig erklärt.
In seiner Begründung führte das BVwG aus, die Ehe des Mitbeteiligten mit der Kindesmutter sei am in Teheran geschlossen worden und habe somit bereits vor der Einreise in das Bundesgebiet bestanden. Die Ehe sei auch im Entscheidungszeitpunkt aufrecht. Das Datum der Eheschließung gehe aus einer vom Standesamt Wien-Innere Stadt am ausgestellten Heiratsurkunde hervor, die der Mitbeteiligte im fortgesetzten Beschwerdeverfahren in Vorlage gebracht habe. Als inländische öffentliche Urkunde liefere sie vollen Beweis über jene Tatsachen und Rechtsverhältnisse, die die Voraussetzungen für ihre Ausstellung gebildet haben und in der Urkunde ausdrücklich genannt seien.
6 Das BFA erhob gegen die Zuerkennung des Status des Asylberechtigten an den Mitbeteiligten die vorliegende Amtsrevision.
7 Der Mitbeteiligte erstattete eine Revisionsbeantwortung, in der die Zurückweisung, in eventu die Abweisung der Revision beantragt wird.
II.
Der Verwaltungsgerichtshof hat in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat erwogen:
8 Die Revision bringt zur Begründung ihrer Zulässigkeit vor, es bestehe noch keine ausdrückliche Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes zu der Frage, ob eine „Kinderehe“ zu einer Asylzuerkennung nach § 34 AsylG 2005 führen könne. Die Mutter der Kinder des Mitbeteiligten sei im Zeitpunkt der behaupteten Eheschließung klar nicht ehefähig gewesen. In Zusammenhang mit der Würdigung der Heiratsurkunde vom bestehe insofern eine Rechtsfrage grundsätzlicher Bedeutung, als auf Grund der aus der Urkunde hervorgehenden Minderjährigkeit der Kindesmutter im Zeitpunkt der Eheschließung Bedenken gegen deren Beweiskraft bestünden. Zudem seien dem BVwG die vom BFA dargelegten Bedenken zum Vorliegen einer Kinderehe bekannt gewesen, sodass es hierauf von Amts wegen hätte eingehen müssen.
9 Die Revision ist zulässig und auch begründet.
10 Der Verwaltungsgerichtshof hat hinsichtlich der ersten von der Revision aufgeworfenen Rechtsfrage zuletzt klargestellt, dass eine dem ordre public zuwiderlaufende Kinderehe auch dann vorliegen kann, wenn im Zeitpunkt der Eheschließung bloß einer der Ehepartner minderjährig war. Eine von einem Minderjährigen geschlossene Ehe ist jedoch nicht schon allein wegen der Minderjährigkeit der Ehepartner und eines deswegen gegebenen Fehlens der Ehefähigkeit jedenfalls als eine dem ordre public widerstreitende Kinderehe anzusehen. Bei der Beurteilung, ob eine solche verpönte Kinderehe vorliegt, ist darauf Bedacht zu nehmen, ob die Entscheidung über die Eheschließung ohne Einschränkung der Willensfreiheit, insbesondere ob die Ehe selbstbestimmt und ohne Zwang eingegangen wurde, und ohne Anknüpfung an Bedingungen erfolgt ist. Durch die Eheschließung und das im Eheband erfolgte Leben darf zudem der Schutz des Kindeswohles, insbesondere die Wahrung der (Persönlichkeits-)Rechte des Minderjährigen sowie der Schutz vor Ausbeutung und unzulässigen Verpflichtungen jeglicher Art, nicht in wesentlicher Weise beeinträchtigt sein. Zudem sind der Bestand, die Dauer und die Ausgestaltung der Ehe sowie der Wille des minderjährigen Ehegatten einer näheren Betrachtung zu unterwerfen. Aber auch weitere den Einzelfall betreffende Umstände, etwa ob in Bezug auf die Eheschließung eine ernsthafte (und nicht bloß formelhafte) Überprüfung der Reife der Ehepartner und der Bereitschaft, die Ehe aus freien Stücken einzugehen, durch Behörden oder Gerichte stattgefunden hat, werden ebenso Berücksichtigung zu finden haben, wie der Wille des bei Eheschließung noch minderjährigen, aber mittlerweile volljährigen Ehepartners, die Ehe fortzusetzen, und worauf dieser Entschluss zurückzuführen ist (vgl. ).
11 Wie die Revision zutreffend aufzeigt, hat sich das BVwG mit der Frage des Vorliegens einer verpönten Kinderehe nicht auseinandergesetzt. Das BVwG traf lediglich die Feststellung, dass der Mitbeteiligte mit der Mutter seiner Kinder am in Teheran die Ehe geschlossen habe, diese somit bereits vor der Einreise in das Bundesgebiet bestanden habe und im Entscheidungszeitpunkt aufrecht sei. Dabei stützte es sich ausschließlich auf die vom Standesamt Wien-Innere Stadt am ausgestellte Heiratsurkunde.
12 Die Heiratsurkunde beweist als öffentliche Urkunde die Tatsache und den Zeitpunkt der Eheschließung, sie entfaltet hingegen keine Beweiskraft für Fragen zu den näheren Umständen der Eheschließung, insbesondere zur Bereitschaft der Ehepartner, die Ehe aus freien Stücken einzugehen, sowie dazu, ob für die Eheschließung ein Vermögensvorteil geleistet worden ist (vgl. etwa ). Da der vom Mitbeteiligten vorgelegten inländischen Heiratsurkunde keine Beweiskraft hinsichtlich der bei der Beurteilung der Frage, ob eine verpönte Kinderehe vorliege, zu berücksichtigenden Umstände zukommt, hätte sich das BVwG nicht auf die Feststellung der bloßen Tatsache der Eheschließung beschränken dürfen.
13 Indem das BVwG in Verkennung der Rechtslage keine ergänzenden - den im Erkenntnis VwGH Ra 2020/14/0006 dargelegten Vorgaben Rechnung tragenden - Feststellungen getroffen hat, belastet es das angefochtene Erkenntnis mit einem sekundären Feststellungsmangel.
14 Das angefochtene Erkenntnis des BVwG war daher gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufzuheben.
Wien, am
Zusatzinformationen
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Schlagworte | Verwaltungsrecht Internationales Rechtsbeziehungen zum Ausland VwRallg12 |
ECLI | ECLI:AT:VWGH:2021:RA2020190153.L00 |
Datenquelle |
Fundstelle(n):
ZAAAF-45391