Suchen Hilfe
VwGH 06.07.2022, Ra 2020/11/0003

VwGH 06.07.2022, Ra 2020/11/0003

Entscheidungsart: Erkenntnis

Rechtssätze


Tabelle in neuem Fenster öffnen
Normen
AVG §37
AVG §39 Abs2
VwGVG 2014 §24 Abs1
RS 1
Bei einer widersprüchlichen Beweislage hat das VwG derart grundsätzlich eine öffentliche mündliche Verhandlung durchzuführen, zumal bei dieser die widersprüchlichen Beweisergebnisse unmittelbar geklärt werden können (vgl. schon ; , mwH).
Hinweis auf Stammrechtssatz
GRS wie Ra 2018/03/0131 E RS 7
Normen
AVG §37
AVG §45 Abs3
VwGVG 2014 §17
VwGVG 2014 §24 Abs1
RS 2
Das VwG hat rechtliches Gehör grundsätzlich im Rahmen einer Verhandlung einzuräumen (vgl. , mwH).
Hinweis auf Stammrechtssatz
GRS wie Ra 2018/03/0131 E RS 8

Entscheidungstext

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Schick sowie die Hofrätinnen Dr. Pollak und MMag. Ginthör als Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag. Vitecek, über die Revision des minderjährigen W N in W, vertreten durch Dr. Stefan Stastny, Rechtsanwalt in 8650 Kindberg, Hauptstraße 7, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom , Zl. W265 2219622-1/21E, betreffend Entschädigung nach dem Impfschadengesetz (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Sozialministeriumservice, Landesstelle Kärnten), zu Recht erkannt:

Spruch

Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.

Der Bund hat dem Revisionswerber Aufwendungen in Höhe von € 1.106,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen. Das Mehrbegehren wird abgewiesen.

Begründung

1 Mit Schreiben vom stellte der am geborene Revisionswerber durch seinen Vater als gesetzlichen Vertreter bei der belangten Behörde einen Antrag auf Entschädigung nach dem Impfschadengesetz und schloss diesem ein Konvolut an Unterlangen bei. Begründend wurde zum Antrag im Wesentlichen ausgeführt, der Revisionswerber habe im Juni und Juli 2014 und am drei FSME-Teilimpfungen erhalten. Abgesehen von wiederholten Ohrenentzündungen habe sich das Kind bis zu den Impfungen normal entwickelt. Nach den ersten beiden Teilimpfungen seien Verhaltensänderungen und verstärkte Hörprobleme festzustellen gewesen. Eine Ohrenoperation habe sofortige Besserung - auch im Verhalten - gebracht. Zwei Tage nach der dritten FSME-Teilimpfung am habe der Revisionswerber schwere Muskelzuckungen bekommen, sei teilweise hyperaktiv, nicht ansprechbar, unkonzentriert und nervös geworden, sodass eine stationäre Aufnahme im Krankenhaus erforderlich geworden sei. Dort sei Ende August 2015 eine schwere Entwicklungsstörung festgestellt worden.

2 Am wurde der Revisionswerber vom Amtssachverständigen der belangten Behörde, einem Facharzt für Kinder- und Jugendheilkunde, persönlich untersucht. In seinem am erstatteten Gutachten führte der Sachverständige zusammengefasst aus, die Entwicklungsverzögerung des Revisionswerbers liege zwar im Zeitraum der durchgeführten Impfungen, allerdings könne ein kausaler Zusammenhang laut Literatur und Ablauf der Ereignisse nicht gegeben sein. Eine „Pro-Schlussfolgerung“ sei weitestgehend unwahrscheinlich. Der Revisionswerber sei seit den ersten Lebensmonaten in der Entwicklung im Vergleich zu seiner Zwillingsschwester verzögert. Dies zeige sich objektivierbar am Erlernen des Laufens (erst im 18. Lebensmonat) und dem Erlernen des Sprechens (noch im vierten Lebensjahr nur Einzelworte oder Zweiwortsätze). Das verspätete Erlernen des Laufens sei bereits vor der Durchführung aller FSME Teil-Impfungen festgestellt worden. Nach FSME-lmpfungen seien zwar in Einzelfällen Erkrankungen des zentralen oder peripheren Nervensystems einschließlich aufsteigender Lähmungen bis hin zur Atemlähmung (z.B. Guillain-Barré-Syndrom) beschrieben worden, allerdings seien weder die gegenständliche Entwicklungsverzögerung, vor allem des Sprechens, noch die choreatischen Bewegungsstörungen typische bei FSME-Impfungen beschriebene Symptome. In Zusammenschau der Befunde sei daher weder von einer Impfreaktion noch von einer Impfkomplikation auszugehen. In Summe sprächen erheblich mehr Aspekte gegen einen ursächlichen Zusammenhang zwischen FSME-Impfung und Auftreten einer Entwicklungsverzögerung mit choreatischem Bewegungsmuster. Aus ärztlich-wissenschaftlicher Sicht sei daher kein wahrscheinlicher Zusammenhang anzunehmen.

3 Aufgrund von diversen Stellungnahmen sowie Einwendungen und der Vorlage von Konvoluten an korrigierten sowie neuen Befunden erstellte der bereits mit diesem Fall befasste Sachverständige am ein neues (bereinigtes) Gutachten, in dem er ausführte, dass die nachgereichten bzw. berichtigten Befunde inhaltlich keinen Einfluss auf die Befundinterpretation hätten und (weiterhin) mehr Hinweise gegen einen kausalen Zusammenhang zwischen den FSME-Impfungen und dem Auftreten einer Entwicklungsverzögerung mit choreatischer Bewegungsstörung sprächen als dafür. Die Feststellung der Entwicklungsverzögerung (konkret das verspätete Erlernen des Laufens) sei vor der Durchführung aller FSME-Teilimpfungen festgestellt worden. Die Sprachentwicklungsstörung könne alleinig mit einer Hörstörung assoziiert sein, die motorische Entwicklungsverzögerung mit Verzögerung der Meilensteine der Entwicklung sei mit der Hörstörung allein nicht erklärbar. Ein kausaler Zusammenhang zumindest dieser Teilsymptomatik der Entwicklungsverzögerung sei jedenfalls nicht mit den FSME-Impfungen in Abhängigkeit zu bringen, da diese Impfungen erst nach der Beobachtung der ersten Beschwerden verabreicht worden seien.

4 Nach Einlangen weiterer Stellungnahmen übermittelte die Rechtsvertretung des Revisionswerbers am ein Privatgutachten eines Arztes für Allgemeinmedizin, datiert mit . Auf Grundlage einer persönlichen Untersuchung des Revisionswerbers, der Aktenlage sowie Fotos und über 20 Filmen aus den privaten Archiven der Familie des Revisionswerbers kam der Sachverständige zu dem Schluss, dass der Revisionswerber sich bis zu den Impfungen motorisch normal entwickelt habe und aus wissenschaftlich-ärztlicher Sicht bei derzeitigem Wissensstand ein kausaler Zusammenhang zwischen der Erkrankung des Revisionswerbers und seiner Impfung gegen FSME höchst wahrscheinlich sei. So seien drei Tage nach der dritten FSME-Impfung beim Revisionswerber Muskelzuckungen sowie choreatische Muskelzuckungen des gesamten Körpers und eine hyperkinetische Gesamtaktivität eingetreten. Dieses Krankheitsgeschehen werde auch durch den daraufhin erfolgten Krankenhausaufenthalt im AKH Wien bestätigt. Der eindeutige zeitliche Zusammenhang sei somit gegeben. Trotz intensiver diagnostischer Abklärung inklusive eines Gentests auf fragiles XSyndrom, MRT und EEG, laborchemischen, virologischen und immunologischen Untersuchungen während des Spitalsaufenthaltes habe kein Hinweis auf andere Ursachen für die Erkrankung eruiert werden können. Der Revisionswerber sei daher ohne Therapie mit der Hauptdiagnose choreatische Bewegungsstörung nach Hause entlassen worden. Nachdem alle anderen Ursachen für derartige Geschehen mittels umfassender Diagnostik ausgeschlossen worden seien und auch die sorgfältig erhobene Familienanamnese unauffällig gewesen sei, seien keine anderen Ursachen für das Krankheitsgeschehen auffindbar. Der Fachinformation des Präparats „Encepur® 0,25 ml für Kinder“ der Firma GlaxoSmithKline im Austria Kodex der Jahre 2014, 2015 sei zu entnehmen, dass als neurologische Nebenwirkungen in Einzelfällen Erkrankungen des peripheren Nervensystems, einschließlich Lähmungen bis hin zur Atemlähmung (z.B. Guillain-Barré-Syndrom), nach FSME-lmpfungen vorgekommen seien. Diese allgemeine Formulierung, der die Symptomlage des Revisionswerbers nur sehr vage zugeordnet werden könne, werde im Medikamentenkodex der Schweiz genau ausgeführt und präzisiert. Hier werde für die FSME-Impfung Encepur N mit derselben Zusammensetzung wie in Österreich (Virusstamm Karlsruhe, K23) die österreichische Information präzisiert. In Einzelfällen seien Erkrankungen des zentralen oder des peripheren Nervensystems nach FSME-Impfungen beschrieben worden. Genau diese Bewegungsstörungen, wie Chorea, Grimassieren etc., zählten zu den extrapyramidalen Hyperkinesien und seien nach der Impfung auch beim Revisionswerber beobachtet worden. Daher bestehe kein Zweifel darüber, dass seine nach der Impfung aufgetretenen Symptome in Literatur und Fachwelt als unerwünschte Wirkung des FSME-Impfstoffes „Encepur® 0,25 ml für Kinder“ bekannt gewesen seien. Die genauen pathophysiologischen Zusammenhänge der Erkrankung des Revisionswerbers werde man nicht mehr mit Sicherheit nachvollziehen können. Nachdem aber die FSME-Impfung mit Encepur eine Impfung mit abgetöteten Viren darstelle, sei pathophysiologisch eine derartige unerwünschte Wirkung plausibel erklärbar. So könne etwa eine Autoimmunreaktion (Chorea minor), hervorgerufen durch Bestandteile der Impfung, die beschriebene extrapyramidale Dyskinesie auslösen.

5 Nach Vorlage dieses Privatgutachtens an den bereits befassten Sachverständigen der belangten Behörde führte dieser in einem weiteren Gutachten vom aus, die nachgereichten bzw. berichtigten Befunde hätten inhaltlich keinen ändernden Einfluss auf die Befundinterpretation im Sinne der Ersteinschätzung vom und der Zweiteinschätzung vom , da Hinweise auf eine Entwicklungsverzögerung bereits vor Beginn der Immunisierung mit FSME vorhanden gewesen seien. Die choreatiforme Bewegungsstörung sei zeitlich mit der dritten Teilimpfung assoziierbar, in der Literatur als Nebenwirkung der FSME-Impfung beschrieben (Medikamentenkodex der Schweiz), jedoch seien diese Beschwerden im Verlauf vergänglich. Ein zeitlicher Zusammenhang der dritten Teilimpfung FSME Encepur mit dem Auftreten der extrapyramidal-motorischen Störungen in Form der Dyskinesien sei daher plausibel. Ein zeitlicher Zusammenhang mit der Sprachentwicklungsstörung bzw. der autistischen Störung sei in der Literatur nicht beschrieben. Die Sprachentwicklungsstörung könne allein mit einer Hörstörung assoziiert sein, die motorische Entwicklungsverzögerung mit Verzögerung der Meilensteine der Entwicklung sei mit der Hörstörung allein nicht erklärbar. Das Auftreten der Autismus-Spektrum-Störung mit Impfungen genereller Art sei in der Literatur nicht nachvollziehbar und nicht belegt. Für einen speziellen Zusammenhang mit einer FSME-lmpfung (FSME Immun oder Encepur) gebe es in der Literatur keinen Anhaltspunkt. Auch in den diversen, offensichtlich unterschiedlichen Beipackinformationen zu FSME in Österreich, Deutschland und der Schweiz läge keine Evidenz für das Auftreten einer Autismus-Spektrum-Störung vor. Zusammenfassend sei somit festzuhalten, dass „eine unwahrscheinliche Plausibilität zwischen FSME Encepur Impfung und dem nachhaltigen Auftreten einer Autismus-Spektrum-Störung und eine mögliche Plausibilität zwischen FSME Encepur Impfung und dem Auftreten einer transienten (nicht mehr manifesten) extrapyramidal-motorischen Störung“ vorliege.

6 Mit Schriftsatz vom gab der Revisionswerber eine umfassende Stellungnahme zum letztgenannten Gutachten ab und führte weiters aus, sein Vater habe der belangten Behörde einen Link per E-Mail übermittelt, der Aufnahmen des Revisionswerbers vor und nach der Impfung enthalte. Diese Aufnahmen seien auch dem Amtssachverständigen angeboten worden, der - wie auch die belangte Behörde - die Durchsicht verweigert habe. Wer, wie der Privatgutachter, die dargestellten Aufnahmen (Videos) sehe, könne feststellen, dass es sich nicht um bloße Zuckungen gehandelt habe, sondern der Revisionswerber um sein Leben gekämpft habe. Laut den im Schriftsatz aufgezählten Anlagen legte der Revisionswerber einen USB-Stick bei, auf dem „sämtliche Videos und Fotos, inklusive jenes des Ausbruches der Krampfanfälle vier Tage nach Impfung dokumentiert“ seien.

7 Mit Bescheid vom wies die belangte Behörde den Antrag des Revisionswerbers auf Entschädigung nach dem Impfschadengesetz nach dessen §§ 1b und 3 ab.

8 Begründend führte sie aus, der beauftragte Sachverständige habe eine „Entwicklungsverzögerung mit Schwerpunkt Sprache und emotionale Störung des Kindesalters mit Ängstlichkeit und eine tiefgreifende Entwicklungsstörung sowie eine choreatische Bewegungsstörung“ festgestellt. Dabei handle es sich nicht um typische bei FSME-Impfungen beschriebene Symptome. Weiters sei das verspätete Erlernen des Laufens und des Sprechens vor der Durchführung aller FSME-Teilimpfungen festgestellt worden. Es sprächen mehr Hinweise gegen als für einen kausalen Zusammenhang der dritten FSME-Teilimpfung mit der Gesundheitsschädigung des Revisionswerbers. Die einbezogene ärztliche Fachabteilung beim Bundesministerium für Arbeit, Soziales, Gesundheit und Konsumentenschutz habe das Sachverständigengutachten vom und die ergänzende Stellungnahme vom zur Gänze für schlüssig und nachvollziehbar befunden. Dagegen erscheine aus Sicht der ärztlichen Fachabteilung die Ansicht des Privatgutachters wenig begründet und ohne entsprechendes Literaturverzeichnis belegt. Um jedoch einen Härtefall zu vermeiden, sei der Sachverständige für Kinder- und Jugendheilkunde um eine besonders ausführliche Stellungnahme ersucht worden. In seinem Gutachten vom habe er klargestellt, dass eine unwahrscheinliche Plausibilität zwischen der FSME-Encepur-Impfung und dem nachhaltigen Auftreten einer Autismus-Spektrum Störung und eine mögliche Plausibilität zwischen einer FSME-Encepur-Impfung und dem Auftreten einer transienten (nicht mehr manifesten) extrapyramidal-motorischen Störung vorliege.

9 Aufgrund der gegen diesen Bescheid erhobenen Beschwerde des Revisionswerbers, in der die Durchführung einer mündlichen Verhandlung nicht beantragt war, wurde dieser vom Verwaltungsgericht für den zu einer Untersuchung durch einen Arzt in Graz geladen und gleichzeitig zur Vorlage eines USB-Sticks „mit Fotos und Videos, welche eine mögliche bereits vor den Impfungen bestehende motorische und sprachliche Entwicklungsverzögerung dokumentieren und einen Vergleich mit der Entwicklung der Zwillingsschwester ermöglichen“, aufgefordert. Dazu wurde von der Vertretung des Revisionswerbers einerseits mitgeteilt, der belangten Behörde sei bereits ein USB-Stick zum Beweis des Gegenteils vorgelegt worden, welcher sich im Akt befinden müsse, andererseits, dass dem Kind eine Autofahrt von Wien nach Graz und zurück aufgrund seines Zustandes unzumutbar sei (belegt durch einen der Mitteilung beigelegten Arztbrief des Kinderarztes des Revisionswerbers) und seine Mutter sich derzeit um einen Säugling kümmern müsse und daher nicht als Begleitperson zur Verfügung stehe.

10 Mit dem angefochtenen Erkenntnis wies das Verwaltungsgericht die Beschwerde des Revisionswerbers - ohne Durchführung einer mündlichen Verhandlung - als unbegründet ab. Gleichzeitig sprach es gemäß § 25a VwGG aus, dass eine ordentliche Revision an den Verwaltungsgerichtshof unzulässig sei.

11 Begründend stellte das Verwaltungsgericht fest, dass nach Angaben des Vaters des Revisionswerbers nach dessen dritter FSME-Teilimpfung schwere Muskelzuckungen aufgetreten seien und es zu einer Wesensveränderung gekommen sei. Der Revisionswerber sei teilweise hyperaktiv, nicht ansprechbar, unkonzentriert und nervös gewesen. Nach seiner stationären Behandlung sei das Muskelzucken nach einiger Zeit wieder etwas weniger geworden, die Hyperaktivität und gewisse Verhaltensstörungen seien geblieben. Der Revisionswerber leide an atypischem Autismus (F 84.0) und einer leichten Intelligenzminderung (F 70) und sei Inhaber eines Behindertenpasses mit einem Grad der Behinderung von 70 v.H. aufgrund der Funktionseinschränkung „Tiefgreifende Entwicklungsstörung, Anfallsäquivalenz“. Ein kausaler Zusammenhang zwischen der Verabreichung der FSME-Impfungen und der Hörstörung sowie der Entwicklungsstörung mit choreatischem Bewegungsmuster könne demgegenüber nicht mit Wahrscheinlichkeit festgestellt werden. Dies ergebe sich aus dem von der belangten Behörde eingeholten und dem angefochtenen Bescheid zugrunde gelegten schlüssigen Sachverständigengutachten des Facharztes für Kinder- und Jugendheilkunde vom . Danach bestünde zwar ein zeitlicher Zusammenhang zwischen der dritten Teilimpfung und dem Auftreten der choreatischen Bewegungsstörung, und es seien auch im Medikamentenkodex der Schweiz in Einzelfällen extrapyramidalmotorische Störungen wie Dyskinesien und Dystonien beschrieben, allerdings seien durch die FSME-Impfung hervorgerufene Autismus-Spektrum-Störungen weder in der Literatur noch in den vom Hersteller aufgelisteten Nebenwirkungen oder im Medikamentenkodex der Schweiz aufgezählt. Eine Trennung der choreatischen Bewegungsstörung von der Autismus-Spektrum-Störung, insbesondere der sprachlichen Entwicklungsstörung, sei im Fall des Revisionswerbers hingegen nicht möglich. Was die Einholung eines weiteren, vom Verwaltungsgericht in Auftrag gegebenen Sachverständigengutachtens eines Facharztes für Kinder- und Jugendheilkunde (in Graz) betreffe, sei der Revisionswerber seiner Mitwirkungspflicht nicht nachgekommen, indem er die Untersuchung verweigert habe und dieser letztlich unentschuldigt ferngeblieben sei. Das im Verfahren vorgelegte Privatgutachten eines Arztes für Allgemeinmedizin vom sei insgesamt nicht geeignet, das von der belangten Behörde eingeholte Sachverständigengutachten vom zu entkräften. Neben nicht belegten Ausführungen, dass auch die Hörstörung als Impfschaden zu qualifizieren sei, seien auch die weiteren Ausführungen nicht schlüssig, denen zufolge kein Zweifel daran bestehe, dass die nach der dritten Teilimpfung aufgetretenen Symptome in Literatur und Fachwelt als unerwünschte Wirkung des FSME-Impfstoffes Encepur für Kinder bekannt gewesen seien. Dementsprechend sei die erforderliche Kausalität der angeschuldigten Impfungen für die diagnostizierte Krankheit des Revisionswerbers zu verneinen.

12 Rechtlich führte das Verwaltungsgericht aus, anhand der drei nach der Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes maßgeblichen Kriterien - entsprechende Inkubationszeit, entsprechende Symptomatik, keine andere wahrscheinlichere Ursache - sei zu überprüfen, ob die belangte Behörde ohne Rechtswidrigkeit zu dem Ergebnis gelangt sei, dass nicht einmal die Wahrscheinlichkeit einer Kausalität der gegenständlichen Impfung für die Leiden des Revisionswerbers anzunehmen sei. Es könne ein zeitlicher Zusammenhang des Auftretens der (nicht mehr manifesten) choreatischen Bewegungsstörung etwa drei Tage nach der dritten FSME-Teilimpfung am  mit Wahrscheinlichkeit angenommen werden. Es lägen aber eindeutige Hinweise darauf vor, dass schon vor der dritten Teilimpfung eine Störung insbesondere der sprachlichen und sozialen Entwicklung aufgetreten sei. Ein zeitlicher Zusammenhang der Entwicklungsstörung mit den angeschuldigten Impfungen sei daher nicht feststellbar gewesen. Dementsprechend sei auch das Vorliegen des zweiten Kriteriums - das Auftreten von Symptomen einer Impfreaktion - im gegenständlichen Fall zu verneinen, zumal den Feststellungen zufolge bislang kein wissenschaftlicher Beweis für einen kausalen Zusammenhang zwischen der verabreichten Impfung und der Entwicklungsstörung in Form einer Autismus-Spektrum-Störung habe erbracht werden können. Dass der Medikamentenkodex der Schweiz extrapyramidalmotorische Störungen wie Dyskinesen und Dystonien in Einzelfällen als Nebenwirkungen beschreibe, sei aufgrund der bereits festgehaltenen Untrennbarkeit der Bewegungsstörungen von der Entwicklungsstörung nicht geeignet, einen kausalen Zusammenhang zu belegen, zumal Symptome aus dem Autismus-Spektrum als Nebenwirkungen von FSME-Impfungen in der Literatur nicht bekannt seien. Das dritte Kriterium - das Nichtvorliegen einer anderen wahrscheinlicheren Ursache für die Erkrankung - sei aufgrund der fehlenden Empirie in Bezug auf die Ursachen der Erkrankung zwar gegenständlich zu bejahen. Die Erfüllung dieses Kriteriums alleine könne jedoch nicht zur Annahme der erforderlichen „Kausalitätswahrscheinlichkeit“ führen.

13 Zum Entfall der mündlichen Verhandlung führte das Verwaltungsgericht aus, dass eine Verhandlung für nicht erforderlich erachtet werde, zumal für die Entscheidung über die vorliegende Beschwerde der maßgebliche Sachverhalt durch Aktenstudium des vorgelegten Aktes, insbesondere auch der Beschwerde, zu klären gewesen sei. Alle aus Sicht des Verwaltungsgerichtes notwendigen Unterlagen befänden sich im verwaltungsbehördlichen Akt. Es müsse einem Senat zugebilligt werden können, dass sich dieser darüber ein Urteil zu bilden vermöge, ob die Akten erkennen ließen, dass die mündliche Erörterung eine weitere Klärung der Rechtssache nicht erwarten lasse, zumal für die Entscheidung über die vorliegende Beschwerde keine Sachverhalts-, sondern lediglich rechtliche Fragen zu klären gewesen seien. Der Revisionswerber habe auch seine Mitwirkungspflicht verletzt, weil er die Untersuchung durch den vom Verwaltungsgericht bestellten Sachverständigen, einen Facharzt für Kinder- und Jugendheilkunde, verweigert bzw. dem Untersuchungstermin beim bestellten Sachverständigen unentschuldigt nicht Folge geleistet habe.

14 Dagegen richtet sich die vorliegende Revision, zu der das Verwaltungsgericht die Verfahrensakten vorgelegt hat. Eine Revisionsbeantwortung wurde nicht erstattet.

15 Der Verwaltungsgerichtshof hat in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat erwogen:

16 Die Revision ist zulässig, weil sie zutreffend vorbringt, das Verwaltungsgericht habe entgegen der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes von einer mündlichen Verhandlung abgesehen. Die Revision ist auch begründet.

17 Die maßgeblichen Bestimmungen des Impfschadengesetzes, BGBl. Nr. 371/1973 in der Fassung BGBl. I Nr. 98/2019, lauten auszugsweise:

„§ 1b. (1) Der Bund hat ferner für Schäden nach Maßgabe dieses Bundesgesetzes Entschädigung zu leisten, die durch eine Impfung verursacht worden sind, die nach einer gemäß Abs. 2 erlassenen Verordnung zur Abwehr einer Gefahr für den allgemeinen Gesundheitszustand der Bevölkerung im Interesse der Volksgesundheit empfohlen ist.

(2) Der Bundesminister für Gesundheit, Sport und Konsumentenschutz hat durch Verordnung jene Impfungen zu bezeichnen, die nach dem jeweiligen Stand der medizinischen Wissenschaft zur Abwehr einer Gefahr für den allgemeinen Gesundheitszustand der Bevölkerung im Interesse der Volksgesundheit empfohlen sind.

(3) Nach Maßgabe dieses Bundesgesetzes ist Entschädigung jedenfalls für Schäden zu leisten, die durch im jeweils ausgestellten Mutter-Kind-Paß genannte Impfungen verursacht worden sind.“

18 Der nach § 3 Abs. 3 Impfschadengesetz bei der Beurteilung eines Entschädigungsanspruchs (u.a.) sinngemäß anzuwendende § 2 des Heeresversorgungsgesetzes (HVG), BGBl. Nr. 27/1964 idF BGBl. I Nr. 162/2015, lautet auszugsweise:

„§ 2. (1) Eine Gesundheitsschädigung ist als Dienstbeschädigung im Sinne des § 1 anzuerkennen, wenn und insoweit die festgestellte Gesundheitsschädigung zumindest mit Wahrscheinlichkeit auf das schädigende Ereignis oder die der Dienstleistung eigentümlichen Verhältnisse ursächlich zurückzuführen ist. ...

(2) Die Glaubhaftmachung eines ursächlichen Zusammenhanges durch hiezu geeignete Beweismittel genügt für die Anerkennung einer Gesundheitsschädigung als Dienstbeschädigung, wenn die obwaltenden Verhältnisse die Beschaffung von Urkunden oder amtlichen Beweismitteln zur Führung des Nachweises der Ursächlichkeit ausschließen.

...“

19 Nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofs besteht ein Anspruch auf Entschädigung nach dem Impfschadengesetz nicht nur bei einem „Kausalitätsnachweis“, sondern schon im Falle der „Kausalitätswahrscheinlichkeit“. Davon ausgehend ist jedenfalls dann, wenn auf Grund der Ergebnisse des Ermittlungsverfahrens anzunehmen ist, dass die drei maßgeblichen Kriterien (passende Inkubationszeit, entsprechende Symptomatik, keine andere wahrscheinlichere Ursache) erfüllt sind, von der Wahrscheinlichkeit der Kausalität der Impfung für die betreffende Gesundheitsschädigung auszugehen (vgl.  mwN).

20 Das Verwaltungsgericht stützte seine Entscheidung ausschließlich auf die im behördlichen Verfahren eingeholten ärztlichen Gutachten, die es als schlüssig und nachvollziehbar beurteilte.

21 Ein Verwaltungsgericht hat (selbst bei anwaltlich vertretenen Personen) auch ohne Antrag von Amts wegen eine öffentliche mündliche Verhandlung durchzuführen, wenn es dies für erforderlich hält, wobei die Durchführung einer mündlichen Verhandlung ohne Parteiantrag nicht im Belieben, sondern im pflichtgemäßen Ermessen des Verwaltungsgerichtes selbst steht. Dies ist etwa dann anzunehmen, wenn die Beweiswürdigung der Verwaltungsbehörde substantiiert bekämpft und/oder ein konkretes sachverhaltsbezogenes Vorbringen erstattet wird. Bei einer widersprüchlichen Beweislage hat das Verwaltungsgericht derart grundsätzlich eine öffentliche mündliche Verhandlung durchzuführen, zumal bei dieser die widersprüchlichen Beweisergebnisse unmittelbar geklärt werden können. Das Verwaltungsgericht hat auch rechtliches Gehör grundsätzlich im Rahmen einer Verhandlung einzuräumen. Bei konkretem sachverhaltsbezogenen Vorbringen ist jedenfalls eine mündliche Verhandlung durchzuführen (vgl. zum Ganzen etwa bis 0174, mwN).

22 Wenn das Verwaltungsgericht eine Ergänzung des Ermittlungsverfahrens als geboten ansah und deshalb die Einholung einer weiteren gutachterlichen Stellungnahme durch einen Sachverständigen in Graz veranlasste, so zeigt schon diese Vorgangsweise, dass der entscheidungserhebliche Sachverhalt eben (noch) nicht geklärt war.

23 Überdies ist der Revisionswerber mit dem vorgelegten Privatgutachten dem Gutachten des behördlichen Sachverständigen auf gleicher fachlicher Ebene entgegengetreten und hat im gesamten Verfahrensverlauf konsistent darauf hingewiesen, dass vor der FSME-Impfung keine Entwicklungsverzögerung vorgelegen sei. Hierzu hat die Vertretung des Revisionswerbers auch die Einvernahme des ehemaligen Kinderarztes angeregt sowie auf diverse an die belangte Behörde übermittelte Videos und Fotos (dass diese nicht vorgelegt worden wären, hat das Verwaltungsgericht nicht festgestellt) zum Beleg dafür verwiesen, dass der Revisionswerber vor seiner FSME-Impfung an keiner Entwicklungsstörung gelitten habe.

24 Vor diesem Hintergrund durfte das Verwaltungsgericht nicht von einem geklärten Sachverhalt ausgehen, sondern es war die Durchführung einer mündlichen Verhandlung, in deren Rahmen zweckmäßigerweise die beigezogenen Sachverständigen ihre Gutachten zu erläutern und ergänzende Fragen zu beantworten hätten, geboten.

25 Das angefochtene Erkenntnis war daher wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 lit. b und c VwGG aufzuheben. Bei diesem Ergebnis konnte eine Auseinandersetzung mit dem weiteren Revisionsvorbringen entfallen.

26 Die Entscheidung über den Aufwandersatz beruht auf den §§ 47 ff. VwGG in Verbindung mit der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2014. Das Mehrbegehren war im Hinblick auf die in § 6 Abs. 2 Impfschadengesetz normierte Gebührenfreiheit abzuweisen.

Wien, am

Zusatzinformationen


Tabelle in neuem Fenster öffnen
Normen
AVG §37
AVG §39 Abs2
AVG §45 Abs3
VwGVG 2014 §17
VwGVG 2014 §24 Abs1
Schlagworte
Parteiengehör Unmittelbarkeit Teilnahme an Beweisaufnahmen
ECLI
ECLI:AT:VWGH:2022:RA2020110003.L00
Datenquelle

Fundstelle(n):
OAAAF-45240