VwGH 10.05.2022, Ra 2020/08/0153
Entscheidungsart: Erkenntnis
Rechtssätze
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Norm | AlVG 1977 §10 Abs1 Z1 |
RS 1 | Nach der gefestigten Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofs kann ein Arbeitsloser vom Arbeitsmarktservice zu einer Beschäftigung zugewiesen werden, sofern diese nicht evident unzumutbar ist bzw. das Arbeitsmarktservice nicht von vornherein (etwa auf Grund eines diesbezüglichen Einwands des Arbeitslosen) Kenntnis von einem die Unzumutbarkeit begründenden Umstand hat. Es liegt dann am Arbeitslosen, beim Vorstellungsgespräch mit dem potenziellen Dienstgeber die näheren Bedingungen der bekannt gegebenen Beschäftigungsmöglichkeit zu erörtern (vgl. etwa die hg. Erkenntnisse vom , Zl. 2012/08/0070, und vom , Zl. Ro 2014/08/0019). |
Hinweis auf Stammrechtssatz | GRS wie Ra 2015/08/0004 E RS 1 |
Normen | |
RS 2 | Steht der Aufnahme eines unmittelbaren Beweises kein tatsächliches Hindernis entgegen, darf sich das VwG nicht mit einem mittelbaren Beweis zufrieden geben. Die Unmittelbarkeit in Hinblick auf die Aussage eines Zeugen (bzw. einer Partei) verlangt damit dessen Einvernahme vor dem erkennenden VwG. |
Hinweis auf Stammrechtssatz | GRS wie Ra 2019/03/0055 E RS 3 (hier nur zweiter Satz) |
Entscheidungstext
Betreff
Der Verwaltungsgerichtshof hat durch die Vorsitzende Vizepräsidentin Dr.in Sporrer und die Hofrätin Dr. Julcher als Richterinnen sowie den Hofrat Dr. Bodis als Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag.a Kienesberger, über die Revision des Mag. G G in H, vertreten durch Dr. A. Herbert Pochieser, Rechtsanwalt in 1070 Wien, Schottenfeldgasse 2-4/2/23, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom , W262 2224854-1/4E, betreffend Verlust des Anspruchs auf Notstandshilfe (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: regionale Geschäftsstelle des Arbeitsmarktservice Bruck/Leitha), zu Recht erkannt:
Spruch
Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.
Der Bund hat dem Revisionswerber Aufwendungen in der Höhe von EUR 1.346,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.
Begründung
1 Mit Bescheid vom stellte die regionale Geschäftsstelle des Arbeitsmarktservice Bruck an der Leitha (AMS) fest, dass der Revisionswerber gemäß § 10 iVm. § 38 AlVG den Anspruch auf Notstandshilfe für den Zeitraum von bis verloren habe. Eine Nachsicht werde nicht erteilt. Der Mitbeteiligte habe die Arbeitsaufnahme als Mitarbeiter im Verpackungsbereich bei der Firma L-GmbH & Co KG vereitelt. Dem Bescheid vorangegangen war eine niederschriftliche Einvernahme des Revisionswerbers.
2 Die gegen diesen Bescheid erhobene Beschwerde des Revisionswerbers wies das AMS mit Beschwerdevorentscheidung vom ab und änderte den Zeitraum des Anspruchsverlustes auf den bis .
3 Begründend führte das AMS zusammengefasst aus, dem Revisionswerber sei am u.a. ein Angebot für eine - auf den Zeitraum von bis befristete - Stelle als Verpacker bei der Firma L-GmbH & Co KG übermittelt worden.
4 Nach den Angaben im Stellenangebot sollte die Bewerbung direkt an das AMS zwecks Vornahme einer Personalvorauswahl erfolgen. Der Revisionswerber habe sich für diese Stelle durch Übermittlung eines E-Mails samt mehreren „Anhängen“ an die im Stellenangebot angegebene E-Mail-Adresse des AMS beworben. Die „Anhänge“ hätten aus einem Lebenslauf, einer „ärztlichen Diagnose“ und einer Bestätigung über die Bewilligung eines - sich teilweise mit dem Zeitraum der befristeten Stelle überschneidenden - Kuraufenthaltes bestanden. Diese Form der Bewerbung entspreche nicht dem derzeitigen auf dem Arbeitsmarkt üblichen Standard, zumal im Stellenangebot eine „aussagekräftige Bewerbung“ verlangt worden sei. Durch die Mitübermittlung der ärztlichen Diagnose und der Bestätigung über den Kuraufenthalt habe der Revisionswerber den Eindruck vermittelt, darauf hinweisen zu wollen, dass er die Stelle nicht anzunehmen habe. Das Gesamtverhalten des Revisionswerbers lasse nur den Schluss zu, dass er keine ausreichenden bzw. zielgerichteten Anstrengungen unternommen habe, die vermittelte Beschäftigung tatsächlich zu erlangen, womit der Tatbestand des § 10 AlVG erfüllt sei.
5 In seinem Vorlageantrag bestritt der Revisionswerber, die Arbeitsaufnahme vereitelt zu haben, und brachte u.a. vor, die mit dem E-Mail übermittelten Dokumente seien „zur Nutzung“ durch das AMS - zwecks Vorauswahl - vorgesehen gewesen und nicht an die potentielle Dienstgeberin, die Firma L-GmbH & Co KG, gerichtet worden. Als konkrete Bewerbung sei nur der Lebenslauf anzusehen. Weiters trat er unter Verweis auf das ärztliche Schreiben der Ansicht des AMS entgegen, wonach die angebotene Stelle zumutbar gewesen sei. Aufgrund der unzureichenden Beschreibung der Tätigkeit bzw. der Arbeitsvorgänge im Stellenangebot könne dies nicht beurteilt werden.
6 Mit dem angefochtenen - ohne Durchführung einer mündlichen Verhandlung ergangenen - Erkenntnis wies das Bundesverwaltungsgericht in Bestätigung der Beschwerdevorentscheidung des AMS vom die Beschwerde des Revisionswerbers als unbegründet ab und sprach aus, dass die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig sei.
7 Das Bundesverwaltungsgericht stellte u.a. fest, die zugewiesene Stelle sei für den Revisionswerber zumutbar. Der Revisionswerber leide an keinen die Zumutbarkeit der zugewiesenen Stelle in Zweifel ziehenden gesundheitlichen Beeinträchtigungen. Eine Beschäftigung sei aufgrund der vom Revisionswerber gewählten Form seiner Bewerbung nicht zustande gekommen, wobei er diese Folge billigend in Kauf genommen habe.
8 In seiner Beweiswürdigung führte das Bundesverwaltungsgericht zur Frage der Zumutbarkeit aus, der Revisionswerber habe weder bei der Zuweisung der Stelle, noch in der niederschriftlichen Einvernahme vor dem AMS am konkrete Bedenken zur gesundheitlichen Zumutbarkeit geäußert, er habe diesbezügliche Einwendungen sogar explizit verneint. Auch in der Beschwerde bzw. im Vorlageantrag seien keine diesbezüglichen konkreten Einwendungen geltend gemacht worden. Der übermittelten Diagnoseliste eines Facharztes sei nicht eindeutig zu entnehmen, dass die zugewiesene Tätigkeit evident nicht zumutbar gewesen sei.
9 Zur Frage des Vorliegens einer Vereitelungshandlung führte das Bundesverwaltungsgericht aus, dass die Bewerbung des Revisionswerbers, die lediglich aus der Übermittlung seines standardisierten Lebenslaufes samt den Unterlagen betreffend seinen Gesundheitszustand bzw. seinen Kuraufenthalt bestanden habe, geeignet gewesen sei, die potentielle Dienstgeberin von einer Einstellung abzuhalten, was der Revisionswerber zumindest in Kauf genommen und weshalb er mit bedingtem Vorsatz gehandelt habe. Diese Vereitelungshandlung sei kausal für das Nichtzustandekommen der Beschäftigung gewesen. Der Umstand, dass die Bewerbung vom AMS nicht an die potentielle Dienstgeberin weitergeleitet worden sei, sei nicht entscheidend.
10 Gegen dieses Erkenntnis richtet sich die außerordentliche Revision, über die der Verwaltungsgerichtshof nach Durchführung des Vorverfahrens, in dem von der belangten Behörde keine Revisionsbeantwortung erstattet wurde, in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat erwogen hat:
11 Zur Zulässigkeit der Revision wird u.a. vorgebracht, das Erkenntnis weiche von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ab, weil das Bundesverwaltungsgericht trotz Vorliegens widersprechender prozessrelevanter Behauptungen der Prozessparteien - insbesondere zur Frage des Vorsatzes - von der beantragten Abhaltung einer mündlichen Verhandlung abgesehen habe. Weiters wird in der Revision die Zumutbarkeit der zugewiesenen Beschäftigung in Abrede gestellt.
12 Die Revision ist zulässig und im Ergebnis berechtigt.
13 Nach § 9 Abs. 1 AlVG ist arbeitswillig, wer unter anderem bereit ist, eine durch die regionale Geschäftsstelle vermittelte zumutbare Beschäftigung anzunehmen. Eine Beschäftigung ist gemäß § 9 Abs. 2 AlVG u.a. nur dann zumutbar, wenn sie den körperlichen Fähigkeiten des Arbeitslosen angemessen ist sowie seine Gesundheit und Sittlichkeit nicht gefährdet.
14 Gemäß § 10 Abs. 1 Z 1 AlVG verliert eine arbeitslose Person, die sich weigert, eine ihr von der regionalen Geschäftsstelle zugewiesene zumutbare Beschäftigung anzunehmen oder die Annahme einer solchen Beschäftigung vereitelt, für die Dauer der Weigerung, jedenfalls aber für die Dauer der auf die Weigerung folgenden sechs Wochen - bzw. unter näher umschriebenen Voraussetzungen acht Wochen - den Anspruch auf Arbeitslosengeld.
15 Gemäß § 38 AlVG sind diese Bestimmungen auf die Notstandshilfe sinngemäß anzuwenden.
16 Zunächst ist festzuhalten, dass der Tatbestand des § 10 Abs. 1 Z 1 AlVG zwar nur dann verwirklicht wird, wenn es sich um eine zumutbare und damit für die Zuweisung geeignete Beschäftigung handelt (vgl. , mwN).
17 Ist eine Beschäftigung aber nicht evident unzumutbar und hat das AMS nicht von vornherein (etwa auf Grund eines diesbezüglichen Einwands des Arbeitslosen) Kenntnis von einem die Unzumutbarkeit der Beschäftigung begründenden Umstand, so kann es den Arbeitslosen zu dieser Tätigkeit zuweisen. Es liegt dann am Arbeitslosen, beim Vorstellungsgespräch mit dem potenziellen Dienstgeber die näheren Bedingungen der bekannt gegebenen Beschäftigungsmöglichkeit zu erörtern (vgl. etwa , unter Hinweis auf ).
18 Von einer evidenten Unzumutbarkeit der Beschäftigung war im vorliegenden Fall nicht auszugehen, zumal der Revisionswerber nach der - in der Revision nicht bestrittenen - Feststellung des Bundesverwaltungsgerichtes nicht bereits anlässlich der Zuweisung gegenüber dem AMS die Zumutbarkeit in Zweifel gezogen hatte. Er war daher verpflichtet, zunächst die erforderlichen Bewerbungsschritte in geeigneter Form zu setzen und gegebenenfalls in einem Vorstellungsgespräch die näheren Umstände der Beschäftigung zu klären.
19 Soweit das Bundesverwaltungsgericht dem Revisionswerber allerdings vorwarf, das Zustandekommen des Beschäftigungsverhältnisses durch die Art und Weise seiner Bewerbung vorsätzlich vereitelt zu haben, hat es das angefochtene Erkenntnis mit einem relevanten Verfahrensmangel belastet.
20 Dazu ist grundsätzlich festzuhalten, dass nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes das Verwaltungsgericht in Entsprechung des im § 25 VwGVG verankerten Unmittelbarkeitsprinzips verpflichtet ist, sich einen persönlichen Eindruck von der Glaubwürdigkeit von Zeugen bzw. Parteien zu verschaffen und insbesondere darauf seine Beweiswürdigung zu gründen (vgl. , mwN). Die Unmittelbarkeit in Hinblick auf die Aussage eines Zeugen bzw. einer Partei verlangt damit dessen Einvernahme vor dem erkennenden Verwaltungsgericht (vgl. ausführlich ; , Ra 2018/03/0131, jeweils mwN).
21 Im vorliegenden Revisionsfall hat das AMS dem Revisionswerber ein Stellenangebot für eine - auf zwei Monate befristete - Tätigkeit im Verpackungsbereich („händisches Befüllen von Kartonverpackungen (Premiumboxen)“) übermittelt. Die Bewerbung sollte mit „aussagekräftigen Bewerbungsunterlagen“ direkt beim AMS erfolgen bzw. an das AMS gerichtet werden, weil das AMS im Auftrag des ausschreibenden Unternehmens die Personalvorauswahl übernommen habe. Im Anschreiben, mit dem das Stellenangebot dem Revisionswerber übermittelt wurde, führte das AMS weiters an: „Wir klären, ob Ihre Qualifikationen und Kompetenzen den Anforderungen entsprechen und eine Bewerbung aussichtsreich ist“. In einem solchen Fall werde die Bewerbung an das Unternehmen weitergeleitet. In der Stellenbeschreibung wurde dazu ergänzend ausgeführt: „Ihre Bewerbung wird anhand des Anforderungsprofils vorselektiert und bei Eignung an das Unternehmen weitergeleitet.“
22 Vor diesem Hintergrund erscheint das Vorbringen des Revisionswerbers, wonach die Übermittlung seiner medizinischen Befunde sowie der Bestätigung über den bewilligten Kuraufenthalt (der sich teilweise mit der auf zwei Monate befristeten Beschäftigung überschnitten hätte) - ergänzend zum Lebenslauf - lediglich der Information zwecks Berücksichtigung bei Durchführung der Vorselektion gedient habe, nicht unplausibel. Es kann somit nicht ohne weiteres angenommen werden, dass der Revisionswerber mit der Übermittlung dieser Unterlagen - zumindest mit bedingtem Vorsatz - auf eine Vereitelung des Beschäftigungsverhältnisses abgezielt hat. Wenig nachvollziehbar erscheinen in diesem Zusammenhang auch die Ausführungen des Bundesverwaltungsgerichtes, wonach die alleinige Übermittlung eines „standardisierten“ Lebenslaufes den Erfordernissen im Stellenangebot nicht entspreche und daher als Teil der Vereitelungshandlung anzusehen sei. Das Bundesverwaltungsgericht lässt diesbezüglich eine Begründung vermissen, warum der - in den Verwaltungsakten einliegende und professionell wirkende - Lebenslauf nicht als ausreichend aussagekräftig anzusehen sei. Darüber hinaus finden sich auch keine Ausführungen dazu, welche - in der Stellenbeschreibung geforderten - „aussagekräftigen Bewerbungsunterlagen“ zusätzlich zum Lebenslauf im Hinblick auf die angebotene Beschäftigung „händisches Befüllen von Kartonverpackungen“ vom Revisionswerber nach Ansicht des Bundesverwaltungsgerichtes hätten vorgelegt werden sollen.
23 Aus alldem ergibt sich, dass das Bundesverwaltungsgericht eine vorsätzliche Vereitelungshandlung des Revisionswerbers nicht hätte annehmen dürfen, ohne die damit im Zusammenhang stehenden Aspekte im Rahmen einer mündlichen Verhandlung mit dem Revisionswerber näher zu erörtern und sich einen persönlichen Eindruck von seiner Glaubwürdigkeit zu verschaffen (vgl. ).
24 Das angefochtene Erkenntnis war daher gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 VwGG wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufzuheben.
25 Von der beantragten Durchführung einer mündlichen Verhandlung vor dem Verwaltungsgerichtshof konnte gemäß § 39 Abs. 2 Z 3 VwGG abgesehen werden.
26 Die Zuerkennung von Aufwandersatz beruht auf den §§ 47 ff VwGG iVm der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2014.
Wien, am
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Schlagworte | Beweismittel Zeugen Parteiengehör Unmittelbarkeit Teilnahme an Beweisaufnahmen Sachverhalt Sachverhaltsfeststellung Beweismittel Parteienvernehmung Sachverhalt Sachverhaltsfeststellung Beweismittel Zeugenbeweis Verfahrensgrundsätze im Anwendungsbereich des AVG Unmittelbarkeitsprinzip Gegenüberstellungsanspruch Fragerecht der Parteien VwRallg10/1/2 |
ECLI | ECLI:AT:VWGH:2022:RA2020080153.L00 |
Datenquelle |
Fundstelle(n):
ZAAAF-45219