VwGH 28.10.2021, Ra 2020/08/0131
Entscheidungsart: Erkenntnis
Rechtssätze
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Normen | EURallg 32004R0883 Koordinierung Soziale Sicherheit Art1 litf 32004R0883 Koordinierung Soziale Sicherheit Art65 |
RS 1 | Eine Person, die in einem Mitgliedstaat eine Beschäftigung ausübt und in einem anderen Mitgliedstaat wohnt, in den sie nicht mindestens einmal wöchentlich zurückkehrt, wird in der Terminologie des Art. 65 der Verordnung 883/2004 als "kein Grenzgänger", "unechter Grenzgänger" oder "Nicht-Grenzgänger" bezeichnet (vgl. , mwN). |
Normen | EURallg 32004R0883 Koordinierung Soziale Sicherheit Art1 litf 32004R0883 Koordinierung Soziale Sicherheit Art65 |
RS 2 | Hinsichtlich der Frage, ob für Leistungen aus der Arbeitslosenversicherung der Wohnmitgliedstaat oder der Beschäftigungsmitgliedstaat zuständig ist, gelten nach der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 für Grenzgänger und Nicht-Grenzgänger (unechte Grenzgänger) unterschiedliche Regelungen (vgl. dazu im Einzelnen ). |
Normen | EURallg 32004R0883 Koordinierung Soziale Sicherheit Art61 32004R0883 Koordinierung Soziale Sicherheit Art62 32004R0883 Koordinierung Soziale Sicherheit Art65 Abs2 32004R0883 Koordinierung Soziale Sicherheit Art65 Abs5 |
RS 3 | Kehrt ein vollarbeitsloser Nicht-Grenzgänger in seinen Wohnmitgliedstaat zurück (siehe zum Begriff der "Rückkehr" im Sinn des Art. 65 Abs. 2 und 5 der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 Rn. 22 des Erkenntnisses Ra 2016/08/0047), muss er sich - wie ein Grenzgänger - gemäß Art. 65 Abs. 2 erster Satz der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 der Arbeitsverwaltung seines Wohnmitgliedstaats zur Verfügung stellen und erhält Leistungen (Arbeitslosenunterstützung) nach den Rechtsvorschriften des Wohnmitgliedstaats, als ob diese Rechtsvorschriften für ihn während seiner letzten Beschäftigung oder selbständigen Erwerbstätigkeit gegolten hätten. Kehrt ein vollarbeitsloser Nicht-Grenzgänger jedoch (vorerst) nicht in den Wohnmitgliedstaat zurück, kann er sich gemäß Art. 65 Abs. 2 dritter Satz der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 (zunächst) der Arbeitsverwaltung des Beschäftigungsmitgliedstaates zur Verfügung stellen und (zunächst) von diesem Leistungen nach den weiteren Regelungen des Art. 61 und 62 der Verordnung (EG) 883/2004 beziehen. |
Hinweis auf Stammrechtssatz | GRS wie Ra 2017/08/0027 E RS 4 |
Entscheidungstext
Betreff
Der Verwaltungsgerichtshof hat durch die Vorsitzende Senatspräsidentin Dr. Büsser und die Hofrätin Dr. Julcher als Richterinnen sowie den Hofrat Mag. Stickler als Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Klima, LL.M., über die Revision des D K in W, vertreten durch Dr. Ingo Riß, Rechtsanwalt in 1040 Wien, Gußhausstraße 14 Top 7, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom , W162 2201463-1/17E, betreffend Zurückweisung eines Antrages auf Zuerkennung von Arbeitslosengeld (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Arbeitsmarktservice Wien, Schönbrunner Straße), zu Recht erkannt:
Spruch
Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.
Der Bund hat dem Revisionswerber Aufwendungen in der Höhe von € 1.346,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.
Begründung
1 Mit Bescheid vom sprach die regionale Geschäftsstelle des Arbeitsmarktservice Wien Schönbrunner Straße (AMS) aus, dass der Antrag des Revisionswerbers auf Zuerkennung von Arbeitslosengeld vom zurückgewiesen werde. Eine gegen diesen Bescheid erhobene Beschwerde des Revisionswerbers wies das AMS mit Beschwerdevorentscheidung vom als unbegründet ab. Der Revisionswerber - ein Staatsangehöriger der Slowakei - sei während seiner letzten Beschäftigung in Österreich ein (echter) „Grenzgänger“ im Sinn der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 gewesen. Für die Erbringung von Leistungen aus der Arbeitslosenversicherung sei die Slowakei und nicht Österreich zuständig.
2 Der Revisionswerber stellte einen Vorlageantrag. Er brachte vor, er sei ein „unechter Grenzgänger“ im Sinn der Verordnung (EG) Nr. 883/2004. Entgegen den Annahmen des AMS sei er nicht mindestens einmal wöchentlich in seinen Wohnsitzstaat Slowakei zurückgekehrt. Die Wochenenden habe er regelmäßig in Österreich mit seinen Freunden und Kollegen - insbesondere seinem Freund JH - verbracht. Zum Beweis dieses Vorbringens beantragte der Revisionswerber die Einvernahme des JH als Zeugen.
3 Mit dem in Revision gezogenen Erkenntnis wies das Bundesverwaltungsgericht die Beschwerde des Revisionswerbers nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung als unbegründet ab.
4 Das Bundesverwaltungsgericht stellte fest, der Revisionswerber sei von bis in Österreich beschäftigt gewesen. Von seinem Dienstgeber seien ihm eine kleine Dienstwohnung in Wien sowie im Zuge von Montagetätigkeiten auch Unterkünfte an anderen Orten zur Verfügung gestellt worden. „Private bzw. familiäre Interessen“ habe der Revisionswerber in Österreich jedoch nicht gehabt. Der Mittelpunkt der Lebensinteressen des Revisionswerbers sei in der Slowakei gewesen, wo er mit seiner Lebensgefährtin und einem gemeinsamen Kind eine Wohnung gehabt habe. Der Revisionswerber sei während seiner Erwerbstätigkeit in Österreich wöchentlich in die Slowakei zurückgekehrt.
5 Seine Beweiswürdigung gründete das Bundesverwaltungsgericht auf den Akteninhalt sowie die Einvernahme des Revisionswerbers in der mündlichen Verhandlung. Die Angaben des Revisionswerbers zu seinen persönlichen Lebensverhältnissen seien grundsätzlich glaubwürdig gewesen. Nicht glaubhaft sei jedoch - vor dem Hintergrund seiner Lebens- und Wohnverhältnisse - seine Aussage, er wäre seltener als einmal in der Woche in die Slowakei gefahren. Der Zeuge JH sei trotz Ladung unentschuldigt nicht zur Verhandlung erschienen. Von einer neuerlichen Ladung des Zeugen habe Abstand genommen werden können, weil sich aufgrund der Aktenlage und der Ergebnisse der mündlichen Verhandlung bereits ein „ausreichendes Bild von der Lebenssituation des Revisionswerbers in Österreich“ ergebe und eine Einvernahme des Zeugen „diese Einschätzung nicht mehr zu ändern“ vermöge.
6 In rechtlicher Hinsicht sei zu folgern, dass der Revisionswerber als Grenzgänger im Sinn von Art. 1 lit. f der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 anzusehen sei, weil er zumindest wöchentlich aus Österreich in seinen Wohnmitgliedstaat Slowakei zurückgekehrt sei. Das AMS sei daher zu Recht davon ausgegangen, dass für den Revisionswerber die Slowakei als Wohnmitgliedstaat für die Erbringung von Leistungen bei Arbeitslosigkeit zuständig sei.
7 Gegen dieses Erkenntnis richtet sich die vorliegende außerordentliche Revision. Der Verwaltungsgerichtshof hat nach Durchführung des Vorverfahrens, in dem keine Revisionsbeantwortung erstattet wurde, in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat erwogen:
8 Zur Zulässigkeit der Revision wird zusammengefasst geltend gemacht, das Bundesverwaltungsgericht habe zu Unrecht von der Einvernahme des Zeugen JH abgesehen. Durch dessen Aussage hätte bewiesen werden können, dass der Revisionswerber während seiner Beschäftigung in Österreich nicht wöchentlich in die Slowakei gefahren sei. Der Revisionswerber sei somit als „unechter Grenzgänger“ anzusehen. Mit seiner insoweit vorgenommenen antizipierenden Beweiswürdigung weiche das Bundesverwaltungsgericht von (näher dargestellter) Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ab.
9 Die Revision ist aus dem in der Zulassungsbegründung genannten Grund zulässig und berechtigt.
10 Gemäß Art. 1 lit. f der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 ist ein „Grenzgänger“ („echter Grenzgänger“) eine Person, die in einem Mitgliedstaat eine Beschäftigung oder eine selbstständige Erwerbstätigkeit ausübt und in einem anderen Mitgliedstaat wohnt, in den sie in der Regel täglich, mindestens jedoch einmal wöchentlich zurückkehrt. Eine Person, die in einem Mitgliedstaat eine Beschäftigung ausübt und in einem anderen Mitgliedstaat wohnt, in den sie nicht mindestens einmal wöchentlich zurückkehrt, wird in der Terminologie des Art. 65 der Verordnung 883/2004 dagegen als „kein Grenzgänger“, „unechter Grenzgänger“ oder „Nicht-Grenzgänger“ bezeichnet (vgl. , mwN).
11 Hinsichtlich der Frage, ob für Leistungen aus der Arbeitslosenversicherung der Wohnmitgliedstaat oder der Beschäftigungsmitgliedstaat zuständig ist, gelten nach der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 für Grenzgänger und Nicht-Grenzgänger (unechte Grenzgänger) unterschiedliche Regelungen (vgl. dazu im Einzelnen ). Daraus ist hervorzuheben, dass ein vollarbeitsloser unechter Grenzgänger, der in seinen Wohnmitgliedstaat zurückkehrt, sich - wie ein „echter“ Grenzgänger - gemäß Art. 65 Abs. 2 erster Satz der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 der Arbeitsverwaltung seines Wohnmitgliedstaats zur Verfügung stellen muss und Leistungen (Arbeitslosenunterstützung) nach den Rechtsvorschriften des Wohnmitgliedstaats, als ob diese Rechtsvorschriften für ihn während seiner letzten Beschäftigung oder selbständigen Erwerbstätigkeit gegolten hätten, erhält. Kehrt ein vollarbeitsloser Nicht-Grenzgänger (unechter Grenzgänger) jedoch (vorerst) nicht in den Wohnmitgliedstaat zurück, kann er sich gemäß Art. 65 Abs. 2 dritter Satz der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 (zunächst) der Arbeitsverwaltung des Beschäftigungsmitgliedstaates zur Verfügung stellen und (zunächst) von diesem Leistungen nach den weiteren Regelungen des Art. 61 und 62 der Verordnung (EG) 883/2004 beziehen (vgl. , mwN).
12 Das Bundesverwaltungsgericht ist davon ausgegangen, dass der Revisionswerber ein (echter) Grenzgänger gewesen sei, woraus sich eine Zuständigkeit der Slowakei als Wohnmitgliedstaat für Leistungen aus der Arbeitslosenversicherung ergebe. Der Revisionswerber hat sich dagegen im Verfahren darauf gestützt, ein Nicht-Grenzgänger zu sein und nicht in den Wohnmitgliedstaat zurückgekehrt zu sein, sodass Österreich für die Erbringung der Leistungen aus der Arbeitslosenversicherung zuständig sei. Er sei nämlich aus seinem Beschäftigungsmitgliedstaat Österreich nicht wöchentlich in seinen Wohnmitgliedstaat Slowakei zurückgekehrt. Zum Beweis dieses verfahrensrelevanten Vorbringens hat der Revisionswerber die Einvernahme des JH als Zeugen beantragt.
13 Es entspricht der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes, dass ein Verwaltungsgericht sich über erhebliche Behauptungen und Beweisanträge nicht ohne Ermittlungen und ohne Begründung hinwegsetzen darf. Beweisanträge dürfen prinzipiell nur dann abgelehnt werden, wenn die Beweistatsachen als wahr unterstellt werden, es auf sie nicht ankommt oder das Beweismittel - ohne unzulässige Vorwegnahme der Beweiswürdigung - untauglich bzw. an sich nicht geeignet ist, über den beweiserheblichen Gegenstand einen Beweis zu liefern (vgl. etwa ; , Ra 2021/03/0027; jeweils mwN).
14 Gründe, die in diesem Sinn die Abstandnahme von der Einvernahme des JH als Zeugen gerechtfertigt hätten, hat das Bundesverwaltungsgericht nicht genannt. Seine Ausführungen, die Einvernahme des Zeugen vermöge die Beweiswürdigung nicht mehr zu ändern, weil sich bereits ein „ausreichendes Bild von der Lebenssituation des Revisionswerbers in Österreich“ ergebe, stellen eine vorgreifende Beweiswürdigung dar. Die freie Beweiswürdigung gemäß § 45 Abs. 2 AVG (hier iVm. § 17 VwGVG) darf aber erst nach einer vollständigen Beweiserhebung einsetzen; eine vorgreifende (antizipierende) Beweiswürdigung, die darin besteht, dass der Wert eines Beweises abstrakt (im Vorhinein) beurteilt wird, ist unzulässig (vgl. etwa , mwN).
15 Das Bundesverwaltungsgericht hat im Übrigen die Notwendigkeit der Einvernahme des JH offenbar auch selbst erkannt und JH daher zur mündlichen Verhandlung als Zeugen geladen. Dem Umstand, dass JH unentschuldigt nicht erschienen ist, wäre allenfalls durch Zwangsmittel im Sinn des § 19 Abs. 3 AVG zu begegnen gewesen (vgl. ).
16 Das angefochtene Erkenntnis war daher gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 lit. c VwGG wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufzuheben.
17 Von der Durchführung der beantragten Verhandlung vor dem Verwaltungsgerichtshof konnte gemäß § 39 Abs. 2 Z 3, 5 und 6 VwGG abgesehen werden.
18 Die Zuerkennung von Aufwandersatz beruht auf den §§ 47 ff VwGG iVm der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2014, BGBl. II Nr. 518/2013.
Wien, am
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Normen | EURallg 32004R0883 Koordinierung Soziale Sicherheit Art1 litf 32004R0883 Koordinierung Soziale Sicherheit Art61 32004R0883 Koordinierung Soziale Sicherheit Art62 32004R0883 Koordinierung Soziale Sicherheit Art65 32004R0883 Koordinierung Soziale Sicherheit Art65 Abs2 32004R0883 Koordinierung Soziale Sicherheit Art65 Abs5 |
Schlagworte | Gemeinschaftsrecht Verordnung EURallg5 |
ECLI | ECLI:AT:VWGH:2021:RA2020080131.L00 |
Datenquelle |
Fundstelle(n):
BAAAF-45214