VwGH 05.03.2021, Ra 2019/22/0234
Entscheidungsart: Beschluss
Rechtssätze
Tabelle in neuem Fenster öffnen
Norm | AVG §69 Abs1 Z1 |
RS 1 | Das "Erschleichen" eines Bescheides liegt vor, wenn diese Entscheidung in der Art zustande gekommen ist, dass bei der Behörde von der Partei objektiv unrichtige Angaben von wesentlicher Bedeutung mit Irreführungsabsicht gemacht wurden und diese Angaben dann dem Bescheid zugrunde gelegt worden sind, wobei die Verschweigung wesentlicher Umstände dem Vorbringen unrichtiger Angaben gleichzusetzen ist. Dabei muss die Behörde auf die Angaben der Partei angewiesen sein und eine solche Lage bestehen, dass ihr nicht zugemutet werden kann, von Amts wegen noch weitere, der Feststellung der Richtigkeit der Angaben dienliche Erhebungen zu pflegen. Wenn es die Behörde (bzw. das Gericht) verabsäumt, von den ihr im Rahmen der Sachverhaltsermittlung ohne besondere Schwierigkeiten offen stehenden Möglichkeiten Gebrauch zu machen, schließt dieser Mangel es aus, auch objektiv unrichtige Parteiangaben als ein Erschleichen des Bescheides im Sinn des § 69 Abs. 1 Z 1 AVG zu werten (vgl. etwa , mwN). Diese Rechtsprechung ist auch zur Beurteilung des Wiederaufnahmegrundes nach § 32 Abs. 1 Z 1 VwGVG 2014 heranzuziehen (vgl. ). |
Hinweis auf Stammrechtssatz | GRS wie Ra 2020/18/0300 E RS 2 (hier ohne den letzten Satz) |
Normen | |
RS 2 | Die vorläufige Ergebnislosigkeit von Erhebungen betreffend den Nachweis einer Aufenthaltsehe aus Anlass einer Verständigung nach § 37 Abs. 4 NAG 200ß5 hindert die Behörde nicht daran, den Verdacht des Bestehens einer Aufenthaltsehe später erneut aufzugreifen (vgl. ). Der Umstand bereits zuvor existierender Verdachtsmomente steht einer Wiederaufnahme gestützt auf neu hervorgekommene Tatsachen nicht entgegen (vgl. ). |
Normen | |
RS 3 | Ein "Erschleichen" ausschließender - relevanter Verfahrensfehler kann nicht darin gesehen werden, dass die Behörde nicht bereits allein auf Grund der Scheidung des Fremden von seiner Ehegattin, sondern erst auf Grund eines durch die Antragstellung neu hervorgekommenen, vom Fremden in seinen Aufenthaltstitelverfahren nicht offengelegten Umstandes, Erhebungen nach § 37 Abs. 4 NAG 2005 veranlasst hat (vgl. ). |
Normen | AVG §69 Abs1 Z1 AVG §69 Abs3 B-VG Art133 Abs4 EURallg VwGG §34 Abs1 VwRallg 32003L0109 Drittstaatsangehörigen-RL Art4 Abs1 62017CJ0620 Hochtief Solutions Magyarorszagi Fioktelepe VORAB |
RS 4 | Aus der Rechtsprechung des EuGH ergibt sich, dass dann, wenn für das nationale Gericht nach den anwendbaren innerstaatlichen Verfahrensvorschriften unter bestimmten Voraussetzungen die Möglichkeit besteht, eine rechtskräftig gewordene Entscheidung rückgängig zu machen, um die durch sie entstandene Situation mit dem nationalen Recht in Einklang zu bringen, davon, sofern diese Voraussetzungen erfüllt sind, gemäß den Grundsätzen der Äquivalenz und der Effektivität Gebrauch gemacht werden muss, damit die Vereinbarkeit der betreffenden Situation mit dem Unionsrecht wiederhergestellt wird (vgl. , Hochtief Solutions AG Magyarországi Fióktelepe). |
Normen | AVG §69 Abs1 Z1 AVG §69 Abs3 B-VG Art133 Abs4 EURallg NAG 2005 §46 Abs2 Z1 VwGG §34 Abs1 32004L0038 Unionsbürger-RL Art35 |
RS 5 | Es sind aus unionsrechtlicher Sicht keine Bedenken dagegen ersichtlich, einen Rechtsmissbrauch durch das Eingehen einer Scheinehe hintanzuhalten (vgl. etwa die ausdrückliche Bezugnahme darauf in Art. 35 der Richtlinie 2004/38/EG). |
Entscheidungstext
Betreff
Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Köhler sowie die Hofräte Dr. Mayr und Mag. Berger als Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag.a Thaler, in der Revisionssache des M C, in W, vertreten durch Dr. Gregor Klammer, Rechtsanwalt in 1010 Wien, Jordangasse 7/4, gegen das Erkenntnis des Verwaltungsgerichtes Wien vom , Zl. VGW-151/088/4134/2019-36, betreffend Aufenthaltstitel (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Landeshauptmann von Wien), den Beschluss gefasst:
Spruch
Die Revision wird zurückgewiesen.
Begründung
1 Dem Revisionswerber, einem türkischen Staatsangehörigen, wurde - jeweils gestützt auf das Niederlassungs- und Aufenthaltsgesetz (NAG) - zunächst ein Aufenthaltstitel „Familienangehöriger“ (mit einer Gültigkeit bis zum ), sodann ein Aufenthaltstitel „Daueraufenthalt - Familienangehöriger“ (mit einer Gültigkeit bis zum ) und schließlich ein unbefristeter Aufenthaltstitel „Daueraufenthalt - EU“ (mit einer Kartengültigkeit bis zum ) erteilt.
2 Mit Bescheid vom nahm der Landeshauptmann von Wien (belangte Behörde) die diesen Aufenthaltstiteln zugrundeliegenden Verfahren gemäß § 69 Abs. 1 Z 1 in Verbindung mit Abs. 3 AVG auf Grund des Vorliegens einer Aufenthaltsehe von Amts wegen wieder auf und wies die jeweiligen Anträge ab.
3 Mit dem angefochtenen Erkenntnis vom wies das Verwaltungsgericht Wien die dagegen erhobene Beschwerde des Revisionswerbers (mit einigen für die vorliegende Revisionssache nicht entscheidungserheblichen Maßgaben) nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung als unbegründet ab und erklärte die ordentliche Revision an den Verwaltungsgerichtshof nach Art. 133 Abs. 4 B-VG als unzulässig.
Das Verwaltungsgericht stellte - auf das Wesentliche zusammengefasst - fest, dass der Revisionswerber seit Mai 2000 durchgehend nach religiösen bzw. traditionellen Gebräuchen mit der türkischen Staatsangehörigen MC verheiratet sei und mit ihr sechs Kinder habe. Diesen Umstand und insbesondere seine Kinder habe der Revisionswerber in keinem seiner aufenthaltsrechtlichen Verfahren angegeben. Von bis sei er mit der (am verstorbenen) österreichischen Staatsbürgerin HC verheiratet gewesen. Auf Grund seines - auf diese Ehe gestützten - Erstantrages im Dezember 2010 seien seitens der Bundespolizeidirektion Wien Erhebungen gemäß § 37 Abs. 4 NAG im Hinblick auf eine mögliche Aufenthaltsehe durchgeführt worden; da sich der Revisionswerber in seinem Herkunftsstaat befunden habe, habe sich eine Aufenthaltsehe nicht verifizieren lassen. Nach der Scheidung von HC sei am die standesamtliche Eheschließung zwischen dem Revisionswerber und MC in der Türkei erfolgt. Im Jänner 2018 hätten seine (nunmehrige) Ehefrau MC sowie die gemeinsamen Kinder die Erteilung von Aufenthaltstiteln gemäß § 46 Abs. 2 Z 1 NAG beantragt. Auf Grund der hervorgekommenen Vaterschaft des Revisionswerbers zu diesen Kindern seien Erhebungen gemäß § 37 Abs. 4 NAG geführt und anschließend der angefochtene Bescheid erlassen worden.
Die Feststellung, dass die Ehe zwischen dem Revisionswerber und HC allein zum Zweck geschlossen worden sei, ihm eine Aufenthaltsberechtigung in Österreich zu verschaffen, bzw. dass die (traditionelle) Ehe zwischen dem Revisionswerber und MC seit Mai 2000 durchgehend geführt worden sei, stützte das Verwaltungsgericht auf umfangreiche beweiswürdigende Überlegungen. Das Verwaltungsgericht verwies insbesondere auf die nicht nachvollziehbaren und unglaubwürdigen Angaben des Revisionswerbers zur behaupteten Trennung von MC, auf den Umstand, dass zwei der sechs Kinder des Revisionswerbers während der Ehe mit HC gezeugt worden seien, auf etliche - näher dargestellte - Unplausibilitäten und widersprüchliche Angaben des Revisionswerbers (etwa zur Hochzeit oder zum Eheleben mit HC) sowie auf die Aussagen der einvernommenen Zeugen. Anhaltspunkte, aus denen das Vorliegen eines tatsächlichen Ehe- und Familienlebens mit HC abzuleiten gewesen wäre, hätten sich für das Verwaltungsgericht nicht ergeben.
In seinen rechtlichen Erwägungen hielt das Verwaltungsgericht zunächst fest, dass der Tatbestand des Erschleichens nach § 69 Abs. 1 Z 1 AVG durch das Berufen auf die nur formal bestehende Ehe mit HC erfüllt sei. Dass die im Jahr 2011 durchgeführten Erhebungen eine Aufenthaltsehe nicht eindeutig verifiziert hätten, ändere daran nichts, weil die vorläufige Ergebnislosigkeit von Erhebungen dem nicht entgegenstehe, den Verdacht des Bestehens einer Aufenthaltsehe später erneut aufzugreifen. Im vorliegenden Fall seien die Ehe mit MC und die sechs gemeinsamen Kinder (erst) im Zuge der Antragstellung der MC sowie der Kinder im Jahr 2018 zutage getreten. Die Wiederaufnahme sei daher zulässig.
Zur Abweisung der Anträge verwies das Verwaltungsgericht zunächst darauf, dass durch das Eingehen einer Aufenthaltsehe der Tatbestand des § 11 Abs. 2 Z 1 NAG (Gefährdung öffentlicher Interessen) verwirklicht worden sei und die Interessenabwägung nach § 11 Abs. 3 NAG - zumal sich sämtliche Integrationsaspekte auf das Eingehen der Aufenthaltsehe mit HC gründeten - zu Ungunsten des Revisionswerbers ausfalle. Außerdem sei beim Erstantrag und beim Antrag auf Erteilung eines Aufenthaltstitels „Daueraufenthalt - Familienangehöriger“ die besondere Erteilungsvoraussetzung der Eigenschaft als Familienangehöriger nicht erfüllt. Hinsichtlich des Zweckänderungsantrags („Daueraufenthalt - EU“) verwies das Verwaltungsgericht darauf, dass zuvor ein Aufenthaltstitel vorhanden sein müsse, was beim Revisionswerber infolge der Wiederaufnahme nicht der Fall sei. Es fehle daher bei allen Anträgen an der Erfüllung der besonderen Erteilungsvoraussetzungen.
4 Gegen dieses Erkenntnis richtet sich die vorliegende außerordentliche Revision.
5 Nach Art. 133 Abs. 4 B-VG ist gegen ein Erkenntnis des Verwaltungsgerichtes die Revision zulässig, wenn sie von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt, insbesondere weil das Erkenntnis von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes abweicht, eine solche Rechtsprechung fehlt oder die zu lösende Rechtsfrage in der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes nicht einheitlich beantwortet wird.
Nach § 34 Abs. 1 VwGG sind Revisionen, die sich wegen Nichtvorliegen der Voraussetzungen des Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zur Behandlung eignen, ohne weiteres Verfahren in nichtöffentlicher Sitzung mit Beschluss zurückzuweisen.
Nach § 34 Abs. 1a VwGG hat der Verwaltungsgerichtshof die Zulässigkeit einer außerordentlichen Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG im Rahmen der dafür in der Revision vorgebrachten Gründe (§ 28 Abs. 3 VwGG) zu überprüfen.
6 Zur Zulässigkeit bringt der Revisionswerber zunächst vor, die Behörde habe im Rahmen der Verfahren zur Erteilung der Aufenthaltstitel „Daueraufenthalt - Familienangehöriger“ bzw. „Daueraufenthalt - EU“ keine Untersuchung seiner Ehe mit HC durchgeführt - insbesondere auch nicht nach der Scheidung. Dies stelle „ein Verabsäumen“ der Behörde dar, weil die Behörde nicht gehindert gewesen sei, im Rahmen dieser Verfahren etwa die Landespolizeidirektion Wien mit Ermittlungen zu beauftragen. Damit sei das Verwaltungsgericht von der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes (Verweis auf ; , 84/09/0216) sowie der Verwaltungsgerichte abgewichen.
7 Nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes liegt ein „Erschleichen“ eines Bescheides im Sinn des § 69 Abs. 1 Z 1 AVG dann vor, wenn dieser in der Art zustande gekommen ist, dass bei der Behörde von der Partei objektiv unrichtige Angaben von wesentlicher Bedeutung mit Irreführungsabsicht gemacht und diese Angaben dann dem Bescheid zu Grunde gelegt worden sind, wobei die Verschweigung wesentlicher Umstände dem Vorbringen unrichtiger Angaben gleichzusetzen ist (vgl. , Rn. 7, mwN).
8 Zudem erfordert ein „Erschleichen“ nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes, dass die Behörde auf die Angaben der Partei angewiesen ist und ihr nicht zugemutet werden kann, von Amts wegen noch weitere Ermittlungen durchzuführen (vgl. , Rn. 12, mwN). Wenn es die Behörde (bzw. das Gericht) verabsäumt, von den ihr im Rahmen der Sachverhaltsermittlung ohne besondere Schwierigkeiten offenstehenden Möglichkeiten Gebrauch zu machen, schließt dieser Mangel es aus, auch objektiv unrichtige Parteiangaben als ein Erschleichen des Bescheides im Sinn des § 69 Abs. 1 Z 1 AVG zu werten (vgl. , Rn. 15, mwN).
9 Das Verwaltungsgericht ist zutreffend davon ausgegangen, dass die vorläufige Ergebnislosigkeit von Erhebungen betreffend den Nachweis einer Aufenthaltsehe aus Anlass einer Verständigung nach § 37 Abs. 4 NAG (wie vorliegend im Zuge des Erstantrags) die Behörde nicht daran hindert, den Verdacht des Bestehens einer Aufenthaltsehe später (vorliegend als Folge der Antragstellung der MC sowie der gemeinsamen Kinder im Jahr 2018) erneut aufzugreifen (vgl. - dort zum Aufgreifen im Rahmen eines Verlängerungsverfahrens - erneut VwGH Ra 2019/22/0031, Rn. 13, mwN). Nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes steht der Umstand bereits zuvor existierender Verdachtsmomente einer Wiederaufnahme gestützt auf neu hervorgekommene Tatsachen nicht entgegen (vgl. , Rn. 10).
10 Mit dem bloßen Vorbringen, die Behörde habe im Zuge der Verfahren zur Erteilung der Aufenthaltstitel „Daueraufenthalt - Familienangehöriger“ bzw. „Daueraufenthalt - EU“ in den Jahren 2012 bzw. 2016 keine Erhebungen betreffend die Ehe des Revisionswerbers mit HC durchgeführt, wird nicht aufgezeigt, inwiefern diesen Verfahren ein - ein „Erschleichen“ ausschließender - relevanter Verfahrensmangel anhafte. Ein derartiger Verfahrensfehler kann auch nicht darin gesehen werden, dass die belangte Behörde nicht bereits allein auf Grund der Scheidung des Revisionswerbers von HC im Jahr 2016, sondern erst auf Grund des durch die Antragstellung im Jänner 2018 neu hervorgekommenen, vom Revisionswerber in seinen Aufenthaltstitelverfahren nicht offengelegten Umstandes, dass er mit (seiner nunmehrigen Ehefrau) MC sechs gemeinsame Kinder habe, Erhebungen nach § 37 Abs. 4 NAG veranlasst hat (vgl. , wo ebenfalls - in vom Verwaltungsgerichtshof nicht beanstandeter Weise - eine Überprüfung der vormaligen Ehe erst nach der Eheschließung mit dem nunmehrigen Ehegatten erfolgt war).
11 Aus den seitens des Revisionswerbers ins Treffen geführten hg. Entscheidungen lässt sich mangels dargelegter Vergleichbarkeit der jeweils zugrunde gelegenen Konstellationen für den vorliegenden Fall nichts Gegenteiliges ableiten. Soweit der Revisionswerber in diesem Zusammenhang auf eine divergierende Rechtsprechung der Verwaltungsgerichte verweist, ist ihm entgegenzuhalten, dass eine uneinheitliche Rechtsprechung eines oder mehrerer Verwaltungsgerichte für sich genommen nicht den Tatbestand des Art. 133 Abs. 4 B-VG erfüllt (vgl. , Rn. 10, mwN).
12 Des Weiteren hält der Revisionswerber dem Verwaltungsgericht vor, den Anwendungsvorrang des Unionsrechts missachtet zu haben. Der Aufenthaltstitel „Daueraufenthalt - EU“ könne nur im Rahmen des Art. 9 der Richtlinie 2003/109/EG entzogen werden und der diese Norm umsetzende § 28 NAG sehe keine Entziehungsmöglichkeit für den Aufenthaltstitel „Daueraufenthalt - EU“ vor. Zudem wäre eine ex tunc-Aufhebung mit Art. 9 der Richtlinie 2003/109/EG unvereinbar. In diesem Zusammenhang wird auch ein Vorabentscheidungsverfahren beim Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH) angeregt. Schließlich habe das Verwaltungsgericht übersehen, dass bei einem Eingriff in eine gesicherte unionsrechtliche Position eine umfassende Verhältnismäßigkeitsprüfung zu erfolgen habe (Verweis auf ).
13 Dem Vorbringen betreffend § 28 NAG ist zunächst entgegenzuhalten, dass sich die angefochtene Entscheidung nicht auf diese Bestimmung stützt. Soweit der Revisionswerber ins Treffen führt, ein Aufenthaltstitel „Daueraufenthalt - EU“ könne nur im Rahmen des Art. 9 der Richtlinie 2003/109/EG entzogen werden, ist darauf hinzuweisen, dass das Verwaltungsgericht im vorliegenden Fall nach erfolgter Wiederaufnahme des Verfahrens über den dadurch wieder offenen Antrag entschieden hat.
14 Aus der Rechtsprechung des EuGH ergibt sich, dass dann, wenn für das nationale Gericht nach den anwendbaren innerstaatlichen Verfahrensvorschriften unter bestimmten Voraussetzungen die Möglichkeit besteht, eine rechtskräftig gewordene Entscheidung rückgängig zu machen, um die durch sie entstandene Situation mit dem nationalen Recht in Einklang zu bringen, davon, sofern diese Voraussetzungen erfüllt sind, gemäß den Grundsätzen der Äquivalenz und der Effektivität Gebrauch gemacht werden muss, damit die Vereinbarkeit der betreffenden Situation mit dem Unionsrecht wiederhergestellt wird (vgl. , Hochtief Solutions AG Magyarországi Fióktelepe, Rn. 60, mwN).
15 Dass eine Wiederaufnahme durch die Richtlinie 2003/109/EG ausgeschlossen wäre oder dadurch vorliegend die Grundsätze der Äquivalenz und Effektivität verletzt worden wären, vermag die Revision nicht aufzuzeigen und ist auch nicht ersichtlich. Der Verwaltungsgerichtshof hat in der Vergangenheit auch in anderen unionsrechtlich determinierten Konstellationen eine Wiederaufnahme des dort jeweils zugrundeliegenden Verfahrens als dem Grunde nach nicht zu beanstanden erachtet (vgl. , betreffend eine Aufenthaltskarte gemäß § 54 NAG; , Ra 2018/22/0250, betreffend eine Familienzusammenführung mit einem in Österreich über einen Aufenthaltstitel „Daueraufenthalt - EU“ verfügenden Drittstaatsangehörigen).
16 Zu beachten ist im vorliegenden Fall zudem, dass der Revisionswerber angesichts der Wiederaufnahme des Verfahrens betreffend den zuvor erteilten Aufenthaltstitel „Daueraufenthalt - Familienangehöriger“ und der Abweisung des darauf gerichteten Antrags über keinen fünfjährigen rechtmäßigen Aufenthalt in Österreich im Sinn des Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie 2003/109/EG verfügt hatte. Ausgehend davon wurde mit der Abweisung seines Antrags auf Erteilung eines Aufenthaltstitels „Daueraufenthalt - EU“ nach erfolgter Wiederaufnahme somit die Vereinbarkeit der betreffenden Situation mit den diesbezüglichen unionsrechtlichen Vorgaben wiederhergestellt. Es sind aus unionsrechtlicher Sicht auch keine Bedenken dagegen ersichtlich, einen Rechtsmissbrauch durch das Eingehen einer Scheinehe hintanzuhalten (vgl. etwa die ausdrückliche Bezugnahme darauf in Art. 35 der Richtlinie 2004/38/EG).
17 Auch aus dem vom Revisionswerber ins Treffen geführten, zu Art. 17 AEUV ergangenen , Janko Rottmann, lässt sich im Hinblick auf die darin betonte Bedeutung des Unionsbürgerstatus im Primärrecht für den vorliegenden Fall nichts ableiten. Ergänzend sei zudem darauf hingewiesen, dass das Verwaltungsgericht ungeachtet des Fehlens der besonderen Erteilungsvoraussetzung ohnehin eine Interessenabwägung nach § 11 Abs. 3 NAG durchgeführt hat.
18 Ausgehend davon sieht sich der Verwaltungsgerichtshof auch nicht veranlasst, ein Vorabentscheidungsersuchen an den EuGH zu richten.
19 In der Revision werden somit keine Rechtsfragen aufgeworfen, denen im Sinn des Art. 133 Abs. 4 B-VG grundsätzliche Bedeutung zukäme.
20 Die Revision war daher gemäß § 34 Abs. 1 VwGG zurückzuweisen.
21 Von der Durchführung einer mündlichen Verhandlung konnte gemäß § 39 Abs. 2 Z 1 VwGG abgesehen werden.
Wien, am
Zusatzinformationen
Tabelle in neuem Fenster öffnen
Normen | |
Schlagworte | Gemeinschaftsrecht Auslegung des Mitgliedstaatenrechtes EURallg2 Gemeinschaftsrecht Richtlinie richtlinienkonforme Auslegung des innerstaatlichen Rechts EURallg4/3 Individuelle Normen und Parteienrechte Rechtswirkungen von Bescheiden Rechtskraft VwRallg9/3 |
ECLI | ECLI:AT:VWGH:2021:RA2019220234.L00 |
Datenquelle |
Fundstelle(n):
HAAAF-45157