Zeitpunkt des Eintrittes der voraussichtlich dauernden Unfähigkeit, sich selbst den Unterhalt zu verschaffen
Entscheidungstext
IM NAMEN DER REPUBLIK
Das Bundesfinanzgericht hat durch die Richterin Dr. Monika Kofler in der Beschwerdesache VN1 Mxxx, ***Bf1-Adr*** vertreten durch VertretungsNetz -Erwachsenenvertretung, Forsthausgasse 16-20, 1200 Wien, über die Beschwerde vom gegen den Bescheid des Finanzamtes Wien 9/18/19 Klosterneuburg vom betreffend Abweisung des Antrages vom auf Gewährung der erhöhten Familienbeihilfe, Sozialversicherungsnummer SVNR, für den Zeitraum ab Juni 2019, zu Recht erkannt:
I. Der Beschwerde wird gemäß § 279 BAO Folge gegeben.
Der angefochtene Bescheid wird aufgehoben.
II. Gegen dieses Erkenntnis ist eine ordentliche Revision an den Verwaltungsgerichtshof nach Art. 133 Abs. 4 Bundes-Verfassungsgesetz (B-VG) nicht zulässig.
Entscheidungsgründe
I. Verfahrensgang
Mit Eingabe vom , beim Finanzamt erfasst am , stellte der am GebDat geborene Mxxx VN1, in der Folge kurz Bf., vertreten durch VertretungsNetz - EV als Erwachsenenvertreter, einen Antrag auf Gewährung der erhöhten Familienbeihilfe für sich selbst ab dem Zeitpunkt des Eintrittes der erheblichen Behinderung, den die/der medizinische Sachverständige feststellt im Höchstausmaß von rückwirkend fünf Jahren ab Antragstellung. Als Diagnose wurde "F 20.0. Paranoide Schizophrenie" angeführt.
Beigelegt waren:
eine Krankengeschichte des SMZ ***Spital*** mit einer Einweisungsdiagnose "F 20.0 Paranoide Schizophrenie", aus der ersichtlich war, dass der Bf. vom bis stationär aufgenommen worden war,
ein Auszug der Sozialversicherungsdaten, weiters
ein Beschluss des Bezirksgerichtes Y vom , gemäß welchem das VertretungsNetz - Erwachsenenvertretung gemäß § 119 AußStrG zum Rechtsbeistand im Verfahren und gemäß § 120 AußStrG zum einstweiligen Erwachsenenvertreter bestellt wurde.
Die in der Folge angeführten Eingaben wurden zur Gänze vom Vertretungsnetz für den Bf. eingereicht.
Mit Bescheid des Finanzamtes vom wies das Finanzamt den Antrag ab Juni 2019 ab und führte u.a. aus, auf Grund des Nichterscheinens zur Untersuchung habe kein Grad der Behinderung festgestellt werden können.
Mit Eingabe vom erhob der Bf. Beschwerde gegen diesen Bescheid. Der Verein, welcher zum Erwachsenenvertreter für den Bf. bestellt wurde, führte aus, er sei zum einstweiligen Erwachsenenvertreter zur Besorgung folgender Angelegenheiten bestellt:
Vertretung des Betroffenen vor privaten Vertragspartnern, wenn die Geschäfte über alltägliches hinausgehen
Vertretung des Betroffenen in finanziellen Angelegenheiten, Einkommens- und Vermögensverwaltung
Vertretung des Betroffenen in Ämtern, Gerichten und Behörden.
Der Bf. sei aufgrund seiner psychischen Krankheit nicht imstande, Termine einzuhalten. Bei Terminvorgaben, die lediglich dem Bf. mitgeteilt würden und nicht zur Kenntnis des Erwachsenenvertreters gelangten, könne eine Wahrnehmung nicht gewährleistet werden. Der Erwachsenenvertreter sei von keinem Termin beim Bundesamt für Soziales und Behindertenwesen (Sozialministeriumsservice) verständigt worden. Obwohl die Kontaktdaten des Erwachsenenvertreters bekannt gegeben worden seien, sei weder von der belangten Behörde noch der Stelle, die den Grad der Behinderung feststellen sollte, mit diesem Kontakt aufgenommen worden.
Zum Krankheitsverlauf der psychischen Erkrankung des Bf. wurde ausgeführt, laut Versicherungsdatenauszug hätten seit September 2010, somit weit vor dem 21. Lebensjahr, immer wieder Arbeitslosen- und Krankengeldbezugszeiten abgewechselt, es würden nur kurzzeitige Beschäftigungsverhältnisse vorliegen. Diese prekären Arbeitsverhältnisse zeigten, dass der Bf. aufgrund seiner Erkrankung nicht in der Lage gewesen sei, dauerhaft einer Ausbildung oder einem Beruf nachzukommen, um sich so seinen Unterhalt zu verschaffen.
Der Bf. habe im Rahmen seiner stationären Aufnahme vom bis angegeben, dass es ihm seit 3 Jahren aufgrund eines Unfalles schlechter gegangen sei. Diese Angabe decke sich mit dem Umstand, dass nur geringe Zeiten einer Erwerbstätigkeit in diesem Zeitraum vorlägen.
Der Bf. beantragte u.a. die Einholung eines Sachverständigengutachtens.
Am fand eine Untersuchung des Bf. in der Landesstelle Wien des Bundesamtes für Soziales und Behindertenwesen statt, bei welcher ein Gutachten, datiert mit , mit folgendem Inhalt erstellt wurde:
Anamnese:
4/2014 Erstbehandlung im OWS wegen psychotischer Störung, dann keine stat. Behandlung, 1/ Monat Behandlung im PSD 16 bei paranoider Schizophrenie mit Residualsymptomen, Maurerlehre nicht abgeschlossen, seit Beginn der Erkrankung keine Anstellung.
Derzeitige Beschwerden:
hört zeitweise Stimmen
Behandlung(en) / Medikamente / Hilfsmittel:
Abilify Maitena 400mg
Sozialanamnese:
lebt alleine, Sozialhilfe, Erwachsenenvertretung, kein Pflegegeld
Zusammenfassung relevanter Befunde (inkl. Datumsangabe):
PSD 16: VN1 VN2 Mxxx, SVNr. SVNR, steht seit in regelmäßiger Betreuung und Behandlung unserer Einrichtung und war davor seit Mai 2014 in Behandlung im Sozialpsychiatrischen Ambulatorium XXXX. Er leidet unter einer schwerwiegenden chronischen psychischen Erkrankung. Diagnose: Schizophrenie.
Untersuchungsbefund:
…
Psycho(patho)logischer Status:
Zeitlich, örtlich zur Person ausreichend orientiert, Auffassung regelrecht, Antrieb vermindert, subjektiv kognitive Einschränkungen, Stimmung depressiv, keine Ein- und Durchschlafstörung, zeitweise produktiv, nicht suizidal eingeengt
Begründung für den Gesamtgrad der Behinderung:
Folgende beantragten bzw. in den zugrunde gelegten Unterlagen diagnostizierten Gesundheitsschädigungen erreichen keinen Grad der Behinderung:
Stellungnahme zu Vorgutachten:
GdB liegt vor seit: 04/2014
Begründung - GdB liegt rückwirkend vor:
GdB ab 1. stat. Aufnahme anzunehmen
Herr VN1 Mxxx ist voraussichtlich dauernd außerstande, sich selbst den Unterhalt zu verschaffen: JA
Die Unfähigkeit, sich selbst den Unterhalt zu verschaffen ist nicht vor vollendetem 18. Lebensjahr eingetreten.
Die Unfähigkeit, sich selbst den Unterhalt zu verschaffen ist nicht vor vollendetem 21. Lebensjahr eingetreten.
Anmerkung bzw. Begründung betreffend die Fähigkeit bzw. voraussichtlich dauernde Unfähigkeit, sich selbst den Unterhalt zu verschaffen:
Erwerbsunfähigkeit ab Beginn der Behandlung (4/14 anzunehmen)
Das Finanzamt erließ eine abweisende Beschwerdevorentscheidung.
Der Bf. stellte einen Vorlageantrag.
Dem Bf. wurde die Rechtslage vorgehalten und Gelegenheit zur Vorlage ergänzender Unterlagen eingeräumt.
Der Bf. übermittelte u.a. ein Statusblatt der Stellungskommission Wien vom , gemäß welchem der Bf. vorübergehend bis 02/2013 ungeeignet sei. Es wurden folgende Diagnosen gestellt:
F81.3 05 Kombinierte Störungen schulischer Fertigkeiten
F91.2 01 Störung des Sozialverhaltens bei vorhandenen sozialen Bindungen
Q53.9 04 Nondescensus testis, nicht näher bezeichnet, Kryptorchismus o.n.A. - li.
Der psychologische Befund der Einzeluntersuchung am enthielt folgende nähere Angaben:
Beruf - erlernt: Maurer (1)
Befund:
Der Stellungspflichtige ist zum Zeitpunkt der Untersuchung knapp durchschnittlich begabt mit Schwächen im sprachlichen Bereich und in der Konzentration, weiters berichtet er eine Verurteilung 2009 wg. Raub und Verkauf von THC, dahingehend wenig reflektiert und einsichtig, bagatellisiert und spielt die Delikte herunter, zunächst auch gr. Schwierigkeiten darüber zu sprechen, die E wissen davon nichts, insgesamt sehr unreif, die weitere Entwicklung bleibt abzuwarten, da der Schulbesuch noch andauert empfehle ich Rückstellung auf 1 Jahr. F81.3-5, F91.2-1
Laut Statusblatt vom wurde der Bf. als geeignet beurteilt. Es wurden folgende Diagnosen gestellt:
Im Eignungsblatt vom wurde auf fehlende Profilwerte und eine unvollständige Eignungsberechnung hingewiesen.
Der psychologische Befund der Einzeluntersuchung vom empfahl eine dauernde Befreiung:
Befund:
Neue Stellung: der psych. Zustand hat sich etwas stabilisiert, zwischenzeitlich sei eine neue Anzeige aufgekommen, soll aber freigesprochen worden, den THC-Konsum habe er eingestellt, ein entsprechender Drogentest ist negativ in allen Testbereichen, im Gespräch aber weithin Zeichen der Unreife mit eher unrealistischen Vorstellungen, nur sehr red. einsetzbar bzw. bei wesentlicher med. Einschränkung empfehle ich eine dauernde Befreiung. F81.3-5, F91.2-2 st.p.
Schließlich wurde der Bf. mit Beschluss der Stellungskommission vom für untauglich erklärt.
Begründend führte der Stellungsbeschluss vom aus, dem Kurzbefund der Psychosozialen Dienste Wien … vom sei Folgendes zu entnehmen: Diagnose(n): paranoide Schizophrenie.
Inhaltlich erklärte die Stellungskommission nach Anführung der anzuwendenden gesetzlichen Bestimmungen begründend wie folgt:
Die Stellungskommission WIEN gelangte nach eingehender Prüfung und Beurteilung des für die Entscheidung maßgebenden Sachverhaltes zu folgender Ansicht:
Der laut amtsärztlichen Zeugnisses vorliegende medizinische bzw. psychologische Sachverhalt schließt Ihre Eignung für eine im Bundesheer in Betracht kommende Verwendung auf Dauer aus.
Es konnte daher von Ihrem persönlichen Erscheinen vor der Stellungskommission Abstand genommen und der Beschluss der Untauglichkeit allein auf Grund des amtsärztlichen Zeugnisses gefasst werden.
Die Österreichische Gesundheitskasse übermittelte eine Aufstellung der für den Bf. im Zeitraum von März 2009 bis gemeldeten Arbeitsunfähigkeiten und Diagnosen.
Ferner wurden Unterlagen betreffend die Prothese und die Daten aus dem Krankenakt einer Ärztin für Allgemeinmedizin für den Zeitraum vom bis übermittelt.
Nach Einsicht in die im Abgabeninformationssystem gespeicherten Daten betreffend die gemeldeten Einkünfte forderte das Bundesfinanzgericht durch das Finanzamt ein neues Sachverständigengutachten an.
Das Bundesamt für Soziales und Behindertenwesen erstellte aufgrund einer Begutachtung am ein mit datiertes Sachverständigengutachten mit folgendem Inhalt:
Anamnese:
vorliegendes Vorgutachten:
nervenfachärztliches Sachverständigengutachten, BASB, FLAG :
Paranoide Schizophrenie GdB 50% ab 04/2014
Herr VN1 Mxxx ist voraussichtlich dauernd außerstande, sich selbst den Unterhalt zu verschaffen: JA
Die Unfähigkeit, sich selbst den Unterhalt zu verschaffen ist nicht vor vollendetem 18. Lebensjahr eingetreten.
Die Unfähigkeit, sich selbst den Unterhalt zu verschaffen ist nicht vor vollendetem 21. Lebensjahr eingetreten.
Anmerkung bzw. Begründung betreffend die Fähigkeit bzw. voraussichtlich dauernde Unfähigkeit, sich selbst den Unterhalt zu verschaffen: Erwerbsunfähigkeit ab Beginn der Behandlung (4/14 anzunehmen)
aktuell: Neuantrag ab Eintritt der Behinderung, Neuerliche Beantragung wegen Beschwerde: ja
Schreiben "Vertretungsnetz" an das
Beschluss des Bundesfinanzgerichtes Richterin Dr. Kofler
vorbekannt:
2009 xxxVerdrehung mit Operation
2015 xxxImplantat links
4/2014 erstmalige psychiatrischer Kontakt mit Erstbehandlung im OWS wegen psychotischer Störung, dann keine weitere stat. Behandlung mehr
seit 2014 1x/ Monat Behandlung im PSD 16 bei paranoider Schizophrenie mit Residualsymptomen
Nikotin: 5/die
Drogen: keine
Alkohol: keiner
Derzeitige Beschwerden: Es geht. Er höre keine Stimmen mehr. Damals wie er stat. war habe er auch keine Stimmen gehört, sei nur sehr blockiert gewesen.
Behandlung(en) / Medikamente / Hilfsmittel:
Abilify Maitena 400mg i. M. 1x/Monat
Sozialanamnese:
VS, HS, 3a Maurerlehre 3 Jahre ohne LAP.
arbeitete 3 Wochen bei der Post als Zusteller (2018) und auch 2018 6 Monate bei einer Tankstelle, beides sei ein Vollzeitjob gewesen.
bis vor 2 Jahren lebte er 5 Jahre lang in einer Wohnung alleine, habe die Wohnung auf Grund eines Rohbruches verloren.
Die letzten 2 Jahre habe er ein Zimmer bei "Österreich Heilsam" gehabt und seit 3 Wochen habe er ein Zimmer bei der Caritas.
Bundesheer: untauglich
Erwachsenenvertretung seit 2 Jahren (weil er die Wohnung verloren habe) Einkünfte: Er wisse nicht woher er Geld bekomme, er zahle sich alles selber Er habe kein Pflegegeld.
Führerschein: keiner
Tagesablauf: Er gehe viel raus
Zusammenfassung relevanter Befunde (inkl. Datumsangabe):
Urkunde Erwachsenenvertretung
Dateiauszug Dr. Ärztin1 (geschickt von ÄfA Dr. Ärztin2, die die Ordination am 0101 2016 übernommen hat):
dokumentiert ab - dermatologische Veränderungen, Luftwegsinfekte,
gastrointestinale Infekte ...
10/2010 xxxxTorsion
st. p. xxxxTorsion 2010 xxxxEntfernung
: 2/2014 polymorphe psych. Störung mit Symptomen der Schizophrenie …
: 4/14 KS Schizophrenie hat heute psychisch Absturz gehabt, wird durch Baumgartner Höhe betreut....
: ...gripp. Infekt....
Schreiben ÖGK über Leistungen :
dokumentierte Zeiten der Arbeitsunfähigkeit im Zeitraum von -
erstmals aufscheinend psychiatrische Diagnose: AU 27 08 - : "Cervikalsyndrom, lavierte Depression"
- : "akute polymorphe psych. Störung mit Sympt. Schizophrenie"
Rehageld Beginn - Ifd.
Beschluss BG Y bzgl. Erwachsenenvertretung
Versicherungsdatenauszug
Stellungsbeschluss : untauglich
Dg.: paranoide Schizophrenie
Beilage zum Statusblatt
Ergebnis der Untersuchung:
"geeignet"
F81.3 0 5 Kombinierte Störungen schulischer Fertigkeiten
F91.2 0 2 Störung des Sozialverhaltens bei vorhandenen sozialen Bindungen
Q53.9 0 4 Nondescensus testis, nicht näher bezeichnet, Kryptorchismus o.n.A. - u.
psychologischer Befund:
... der psych Zustand hat sich etwa stabilisiert … den THC Konsum habe er eingestellt Drogentest negativ … Zeichen der Unreife ... nur stark red. einsetzbar....empf. dauernde Befreiung ...
Datenblatt Mag. Wien OWS:
Dg. paranoide Schizophrenie
Entlassung
Krankengeschichte OWS - Aufnahme :
unmittelbare Vorgeschichte:
Erstaufnahme nach §8 gestern ... suizidale Äußerungen …
Dg.: akutes polymorphe psychotische Störung mit Symptomen einer Schizophrenie
Untersuchungsbefund:
Allgemeinzustand: 28 jähriger in gutem AZ
Ernährungszustand: gut
Größe: 164,00 cm Gewicht: 62,00 kg Blutdruck:
Status (Kopf / Fußschema) - Fachstatus: voll mobil
Gesamtmobilität - Gangbild: kommt frei gehend alleine zur Untersuchung, Begleitperson wartet draußen, kommt mit den ÖVM
Psycho(patho)logischer Status:
Kooperativ und freundlich, gibt bereitwillig Auskunft, bewußtseinsklar, zur Person und zeitlich gut orientiert, Auffassung leicht reduziert, Gedankenductus: geordnet, kohärent; Konzentration und Antrieb leicht vermindert, Stimmungslage ausgeglichen, stabil, affizierbar; Affekte: angepasst
Begründung für den Gesamtgrad der Behinderung: …
Folgende beantragten bzw. in den zugrunde gelegten Unterlagen diagnostizierten Gesundheitsschädigungen erreichen keinen Grad der Behinderung: …
Stellungnahme zu Vorgutachten:
Keine Änderung zum Vorgutachten 12/2019
Der festgestellte Grad der Behinderung wird voraussichtlich mehr als 3 Jahre andauern:
Begründung:
GdB liegt vor seit: 04/2014
Begründung - GdB liegt rückwirkend vor:
It. Vorgutachten und dokumentierter erster psychiatrischer Behandlung (stat. psychiatrische Aufnahme)
Herr VN1 Mxxx ist voraussichtlich dauernd außerstande, sich selbst den Unterhalt zu verschaffen: JA
Dies besteht seit: 04/2014
Anmerkung bzw. Begründung betreffend die Fähigkeit bzw. voraussichtlich dauernde Unfähigkeit, sich selbst den Unterhalt zu verschaffen:
Es liegen keine Befunde vor, die eine schwerwiegende krankheitsbedingte Funktionseinschränkung in einem solchen Ausmaß dokumentieren würden, dass eine daraus resultierende anhaltende Selbsterhaltungsunfähigkeit vor dem 18./21. LJ eingetreten ist. Diese ist ab dokumentiertem ersten psychiatrischem Befund und erster psychiatrischen Behandlung (stat. psychiatrische Aufnahme) ab 4/2014 zu bestätigen.
Anmerkung hins. Nachuntersuchung:
Reevaluierung, da Besserung möglich
Der Bf. erklärte, dass bei der Zusammenfassung relevanter Befunde nicht berücksichtigt worden sei, dass der Bf. im Rahmen der Stellungsuntersuchung bereits am zunächst für ein Jahr zurückgestuft worden sei, u.a. wegen Schwächen im Bereich der Konzentration. Es sei eine kombinierte Störung schulischer Fähigkeiten, eine Störung des Sozialverhaltens bei vorhandener sozialer Bindung sowie Kryptorchismus ohne nähere Angaben diagnostiziert worden. Im Rahmen der psychologischen Untersuchung am sei bereits eine dauernde Befreiung empfohlen worden. Die Beurteilung im "Statusblatt" als geeignet sei nicht nachvollziehbar, zumal die Eignungsberechnung aufgrund fehlender Profilwerte als unvollständig bezeichnet werde. Letztlich sei 2014 eine Einstufung als "untauglich" aufgrund der Diagnose paranoide Schizophrenie erfolgt.
Es ergebe sich das Bild einer kontinuierlichen Erkrankung, die bereits 2013 und davor zu schweren Beeinträchtigungen geführt habe. Der nicht erfolgte Lehrabschluss, häufige Krankenstände und die mangelnde Tauglichkeit stellten Auswirkungen der Erkrankung dar. Es widerspreche der allgemeinen Lebenserfahrung, die Erwerbsunfähigkeit erst mit der ersten Behandlung anzusetzen. Der Eintritt der Erkrankung und damit verbunden einer Behinderung sei bereits vor dem 21. Lebensjahr eingetreten.
Nach Durchführung ergänzender Ermittlungen und Vorlage eines am von Univ. Doz. Dr. VN-Arzt Gutachter, Facharzt für Psychiatrie und Neurologie, Psychotherapeut, Allgemein beeideter und gerichtlich zertifizierter Sachverständiger, für den Bf. erstellten Gutachtens forderte das Bundesfinanzgericht im Wege des Finanzamtes neuerlich ein Sachverständigengutachten des Bundesamtes für Soziales und Behindertenwesen an.
Dieses erstellte am , vidiert am , aufgrund einer am durchgeführten Begutachtung ein Sachverständigengutachten mit folgendem Inhalt:
Anamnese:
Vorgutachten FLAG
paranoide Schizophrenie, 50%, unterer Rahmensatz, da Dauertherapie notwendig, im Alltag teilweise selbständig
Keine Änderung zum Vorgutachten 12/2019
GdB liegt vor seit 04/2014
Erwerbsunfähigkeit besteht seit 4/2014
Es liegen keine Befunde vor, die eine schwerwiegende krankheitsbedingte Funktionseinschränkung in einem solchen Ausmaß dokumentieren würden, dass eine daraus resultierende anhaltende Selbsterhaltungsunfähigkeit vor dem 18./21. Lebensjahr eingetreten ist. Diese ist ab dokumentiertem ersten psychiatrischem Befund und erster psychiatrischen Behandlung (stationär psychiatrische Aufnahme) ab 4/2014 zu bestätigen.
Gegen das Ergebnis wird Einspruch erhoben, ein Privatgutachten Dr. Gutachter wird nachgereicht.
Der AW kommt frei gehend in Begleitung seines Erwachsenenvertreters zur Untersuchung.
Derzeitige Beschwerden:
es ginge ihm gut, er würde um 7.15h aufstehen, dann frühstücken, dann Radio hören. Er wohnt in einer vollbetreuten WG, hat dort ein eigenes Zimmer, insgesamt sind dort 12 Menschen wohnhaft. Er berichtet über Stimmen hören und teilweise wahnhafte Verarbeitung
Behandlung(en) / Medikamente / Hilfsmittel:
Medikation: keine Liste vorliegend
Sozialanamnese:
wohnt in einer WG, vollbetreut, hat einen Erwachsenenvertreter, im Alltag teilselbständig
Zusammenfassung relevanter Befunde (inkl. Datumsangabe):
Privatgutachten Doz. Dr. Gutachter,
Auf Ersuchen des Erwachsenenvertreters wird über obgenannten Befund und Gutachten erstattet ... ob aus der psychischen Erkrankung resultierende voraussichtlich dauernde Selbsterhaltungsunfähigkeit bereits vor Vollendung des 21. Lebensjahrs, also vor dem eingetreten ist ... 2010 - 2013 gab es 2 Lehrverhältnisse, Tiefbau/Maurer, welche Herr M abbrach bzw. wegen wiederholt negativer Beurteilung nicht fortführen konnte. Es kann nur von einem Arbeitsversuch, nicht von einer tatsächlichen Anstellung ausgegangen werden .... Rückstellung bei der Musterung durch die Stellungskommission im Jahr 2012 sowie die Ausmusterung als "Untauglich" im Jahre 2013. ... Bereits bei der Stellungskommission wurden eine kombinierte Störung schulischer Fertigkeiten sowie eine Störung des Sozialverhaltens bei vorhanden sozialen Bindungen festgestellt, möglicherweise lag eine posttraumatische Belastungsstörung vor ... Der Leistungsabfall ist erst aus den Berufsschulzeugnissen deutlich erkennbar … Auflösung des Lehrverhältnisses war am ... Grund war, dass er sich entmannt gefühlt hat, .... nachdem ihm ein xxxxxx abgenommen wurde und er Stimmen gehört hat. Von diesem Zeitpunkt an wurde offensichtlich, dass etwas nicht mit ihm stimmte, ... Außerdem hat er den Schulbesuch abgebrochen, da er begonnen hat Stimmen zu hören und nicht in der Lage war, die Berufsschule fortzusetzen .... wurde immer wieder in Schlägereien verwickelt, lehnt sich gegen Lehrkräfte auf, fehlte oft in der Schule....Meine Mutter litt laut meinem Onkel und Tanten seit ihrer Jugend an Schizophrenie und führte solange ich mich erinnern kann Selbstgespräche. Meine Mutter hat oft versucht in unserer Gegenwart sich das Leben zu nehmen. Da es laufend zu Hause zu Gewaltausschreitungen kam, wurde er wiederholt im Krisenzentrum Wien und danach im Heim untergebracht ... verwahrloste über Monate hinweg immer mehr in seiner Wohnung, verrichtete seine Notdurft in einen Kübel, der um Balkon stand. Am gab VN1 M bei der Anamnese auf der Baumgartner Höhe an, dass es ihm seit drei Jahren sehr schlecht gehe, seit dem Verlust seines xxxxxxx. Die Hoffnung ist auch dass durch das Implantat, Selbstgespräche aufhören würden. Es hatte sich jedoch verschlechtert, weil die paranoide Schizophrenie zu der Zeit schon über Jahre untherapiert war.
Sozialpsychiatrisches Ambulatorium ZZZ, Fachärztlicher Befundbericht vom :
Ist seit Mai 2014 in Betreuung wurde am aufgrund einer schizophrenieformen Psychose erstmals stationär im damaligen ***Spital*** aufgenommen. Dem Aufnahmedekurs des OWS ist zu entnehmen, dass der Patient zum Aufnahmezeitpunkt bereits über eine seit drei Jahren bestehende depressive Symptomatik berichtet. Der Erkrankungsbeginn ist nach fachärztlich psychiatrischer Sicht eindeutig vor dem 21. Lebensjahr einzuordnen.
***Spital***, Erstaufnahme nach § 8 UbG. Akute polymorph psychotische Störung mit Symptomen einer Schizophrenie.
Psychologischer Befund der Einzeluntersuchung im Rahmen Stellungskommission,
: der psychische Zustand hat sich etwas stabilisiert, zwischenzeitlich sei eine neue Anzeige aufgekommen, soll aber freigesprochen worden sein. THC Konsum habe er eingestellt. Im Gespräch aber weiterhin Zeichen der Unreife mit eher unrealistischen Vorstellungen. Nur sehr reduziert einsetzbar bzw. bei wesentlicher medizinischer Einschränkung empfehle ich dauerhafte Befreiung
Diagnose: kombinierte Störung schulischer Fertigkeit und Zustand nach Störung des Sozialverhaltens bei sozialen Bindungen.
Zusammenfassung:
wurde im Rahmen einer akuten Krankheitsepisode erstmals im April 2014 psychiatrisch im ***Spital*** begutachtet und in der Folge psychopharmakologisch behandelt … Diagnose einer akuten polymorph psychotischen Störung mit Symptomen einer Schizophrenie diagnostiziert, beschrieb zum damaligen Zeitpunkt neben der psychotischen Symptomatik eine seit drei Jahren bestehende Verschlechterung in seiner Befindlichkeit. ... Erst durch den Aufenthalt im ***Spital*** wurde die Diagnose einer Erkrankung aus dem schizophrenen Formenkreis gestellt. Fachbezogen ist darauf hinzuweisen, dass die Diagnose einer Schizophrenie keinesfalls erst beim Auftreten von Wahn-Symptomen oder Halluzinationen zu stellen ist. Von zentraler Bedeutung für die Diagnoseerstellung sind spezielle Störungen des Denkens, der Affekte und des Ich-Bewusstseins; fachbezogen lagen diese Symptome bereits lange Zeit vor der ersten Aufnahme von Herrn Mxxx vor. Bei Kenntnis des vollen Krankheitsbildes werden Symptome ... retrospektiv als sogenannte Prodromalsymptome schizophrener Erkrankungen gewertet.
Folgt man den vorliegenden Unterlagen so bestand bei Herrn M bereits vor Vollendung des 21. Lebensjahres, also vor dem , psychopathologische Veränderungen von Krankheitswert. Die Diagnose konnte erst im Rahmen eines fachbezogenen Aufenthaltes einer akuten Krankheitsepisode gestellt werden.
Mitgebrachte Befunde
Stellungnahme XYZ,
hat zum 3. mal die 2. Klasse Berufsschule negativ abgeschlossen
Stellungskommission Wien,
untauglich
Statusblatt Stellungskommission
geeignet
Diagnosen: kombinierte Störungen schulischer Fertigkeiten, Störung des Sozialverhaltens bei vorhandenen sozialen Bindungen, Nondescensus testis, Kryptorchismus
Psychologische Untersuchung Mag. VORNAMEN NNxxxx
(siehe auch Gutachten Dr. Gutachter)
... weiterhin Zeichen der Unreife mit eher unrealistischen Vorstellungen, nur sehr reduziert einsetzbar bzw. bei wesentlicher medikamentöser Einschränkung empfehle ich eine dauernde Befreiung, F81.3-5, F91.2-2 St. p.
... insgesamt sehr unreif, weitere Entwicklung bleibt abzuwarten, da der Schulbesuch noch andauert empfehle ich Rückstellung auf 1 Jahr Diagnose: kombinierte Störung schulischer Fertigkeiten, Störung des Sozialverhaltens bei vorhandenen sozialen Bindungen
Untersuchungsbefund:
…
Status (Kopf / Fußschema) - Fachstatus:
HN: stgl. unauffällig
OE: Rechtshändigkeit, Tonus, Trophik o.B., grobe Kraft 5/5, MER stgl. mittellebhaft, VdA o.B., FNV zielsicher, Feinmotorik erhalten, Frontal- und Py-Zeichen negativ
UE: Tonus, Trophik o.B., grobe Kraft 5/5, Babinski bds. negativ, MER stgl. mittellebhaft, VdB o.B., KHV zielsicher
Sensibilität: stgl. unauffällig
Gesamtmobilität - Gangbild:
Stand und Gang: unauffällig
Psycho(patho)logischer Status:
AW klar, wach, ausreichend orientiert, Duktus sehr inhaltsarm, wirkt freundlich, jedoch deutlich zurückgezogen, eine wahnhafte Symptomatik ist nachvollziehbar, Stimmung gedrückt, ängstlich unterlegt, psychomotorisch ruhig
Ergebnis der durchgeführten Begutachtung:
Begründung für den Gesamtgrad der Behinderung: …
Folgende beantragten bzw. in den zugrunde gelegten Unterlagen diagnostizierten Gesundheitsschädigungen erreichen keinen Grad der Behinderung:
keine
Stellungnahme zu Vorgutachten:
keine Änderung
GdB liegt vor seit: 04/2013
Begründung - GdB liegt rückwirkend vor:
GdB von 50 % vorliegend seit 04/2013 - siehe Befund Mag. NNxxxx, Stellungskommission mit der Empfehlung einer dauernden Befreiung aufgrund psychischer Symptomatik, diesbezüglich Abänderung im Vergleich zum Vorgutachten
Herr VN1 Mxxx ist voraussichtlich dauernd außerstande, sich selbst den Unterhalt zu verschaffen: JA
Dies besteht seit: 04/2013
Anmerkung bzw. Begründung betreffend die Fähigkeit bzw. voraussichtlich dauernde Unfähigkeit, sich selbst den Unterhalt zu verschaffen:
der AW ist aufgrund seiner Einschränkung im Rahmen der festgestellten Grunderkrankung voraussichtlich dauerhaft unfähig, sich selbst den Unterhalt zu verschaffen, diese Erwerbsunfähigkeit kann aufgrund der vorliegenden Unterlagen Stellungskommission sowie auch aufgrund des neu vorliegenden Gutachtens Dr.Gutachter ab 4/2013 ausreichend begründet werden
Diesbezüglich Abänderung im Vergleich zum Vorgutachten
Das Finanzamt gab zum Gutachten folgende Stellungnahme ab:
"Da das aktuelle Gutachten des SMS nunmehr ein Grad der Behinderung mit daraus resultierender voraussichtlich dauernder Erwerbsunfähigkeit ab 4/2013, also vor Vollendung des 21. Lebensjahres, bescheinigt, steht für das Finanzamt fest, dass erhöhte Familienbeihilfe zusteht."
II. Das Bundesfinanzgericht hat erwogen:
1. Sachverhalt und Beweiswürdigung:
Aufgrund des durchgeführten Ermittlungsverfahrens in Verbindung mit den nunmehr vorliegenden Gutachten Dris Gutachter (vom Erwachsenenvertreter angefordertes psychiatrisches Gutachten vom ) und dem zuletzt angeforderten Gutachten des Bundesamtes für Soziales und Behindertenwesen (Sozialministeriumsservice) vom steht fest, dass der Bf. aufgrund einer paranoiden Schizophrenie einen Grad der Behinderung von 50 % aufweist und dass er bereits vor Vollendung des 21. Lebensjahres voraussichtlich dauernd unfähig war, sich selbst den Unterhalt zu verschaffen.
Die Einschätzung laut Sachverständigengutachten des Sozialministeriumsservice steht im Einklang mit
den nachgewiesenen Versicherungszeiten des Bf.,
dem Abbruch der Lehre mit Oktober 2013, weil er in der Berufsschule zum 3. Mal eine Klasse nicht positiv abschließen konnte, und
den erzielten geringen Erwerbseinkünften, welche in keinem Jahr zur Deckung des Lebensunterhaltes ausreichten.
Der Bf. bezog nach dem Abbruch der Ausbildung 2013 und nahezu während des gesamten Jahres 2014 abwechselnd Arbeitslosengeld und Krankengeld. Ein Beschäftigungsverhältnis lag nur vom 16.8. bis 20.8. vor, woraus ein steuerpflichtiges Entgelt von 198,62 Euro resultierte. Anschließend bezog er wieder Krankengeld und Arbeitslosengeld. Auch die Bezüge des AMS und das Krankengeld hätten es dem Bf. nicht ermöglicht, seinen Unterhalt selbst zu bestreiten.
Das Gutachten ist daher als schlüssig anzusehen. Der Sachverhalt steht aufgrund der vorliegenden Unterlagen und Gutachten unstrittig fest. Beweismittel und Umstände, die eine andere Sichtweise nahelegen würden, sind nicht hervorgekommen.
Der Bf. war laut Zentralem Melderegister nach Abmeldung vom Wohnsitz seines Vaters vom bis , also auch im Zeitpunkt der Antragstellung und Bescheiderlassung in der ADRESSE, mit Hauptwohnsitz gemeldet. Als Unterkunftgeber scheint Wiener Wohnen auf. Der Bf. hat 2019 ab 2. Jänner laut Abgabeninformationssystem durchgehend Leistungen der Österreichischen Gesundheitskasse bezogen.
2. Rechtliche Beurteilung
2.1. Zu Spruchpunkt I. (Stattgabe)
§ 6 Familienlastenausgleichsgesetz 1967 in der geltenden Fassung lautet:
"(1) Anspruch auf Familienbeihilfe haben auch minderjährige Vollwaisen, wenn
a)sie im Inland einen Wohnsitz oder ihren gewöhnlichen Aufenthalt haben,
b)ihnen nicht Unterhalt von ihrem Ehegatten oder ihrem früheren Ehegatten zu leisten ist und
c)für sie keiner anderen Person Familienbeihilfe zu gewähren ist.
(2) Volljährige Vollwaisen haben Anspruch auf Familienbeihilfe, wenn auf sie die Voraussetzungen des Abs. 1 lit. a bis c zutreffen und wenn sie …
d)wegen einer vor Vollendung des 21. Lebensjahres oder während einer späteren Berufsausbildung, jedoch spätestens vor Vollendung des 25. Lebensjahres, eingetretenen körperlichen oder geistigen Behinderung voraussichtlich dauernd außerstande sind, sich selbst den Unterhalt zu verschaffen, und deren Unterhalt nicht zur Gänze aus Mitteln der Kinder- und Jugendhilfe oder nicht zur Gänze aus öffentlichen Mitteln zur Sicherung des Lebensunterhaltes und des Wohnbedarfes getragen wird, sofern die Vollwaise nicht einen eigenständigen Haushalt führt; dies gilt nicht für Vollwaisen, die Personen im Sinne des § 1 Z 3 und Z 4 des Strafvollzugsgesetzes, BGBl. Nr. 144/1969, sind, sofern die Bestimmungen des Strafvollzugsgesetzes, BGBl. Nr. 144/1969, auf sie Anwendung finden, …
(3) Ein zu versteuerndes Einkommen (§ 33 Abs. 1 EStG 1988) einer Vollwaise führt bis zu einem Betrag von 10.000 € in einem Kalenderjahr nicht zum Wegfall der Familienbeihilfe. Übersteigt das zu versteuernde Einkommen (§ 33 Abs. 1 EStG 1988) der Vollwaise in einem Kalenderjahr, das nach dem Kalenderjahr liegt, in dem die Vollwaise das 19. Lebensjahr vollendet hat, den Betrag von 10.000 €, so verringert sich die Familienbeihilfe, die der Vollwaise nach § 8 Abs. 2 einschließlich § 8 Abs. 4 gewährt wird, für dieses Kalenderjahr um den 10.000 € übersteigenden Betrag. § 10 Abs. 2 ist nicht anzuwenden. ...
(5) Kinder, deren Eltern ihnen nicht überwiegend Unterhalt leisten und deren Unterhalt nicht zur Gänze aus Mitteln der Kinder- und Jugendhilfe oder nicht zur Gänze aus öffentlichen Mitteln zur Sicherung des Lebensunterhaltes und des Wohnbedarfes getragen wird, haben unter denselben Voraussetzungen Anspruch auf Familienbeihilfe, unter denen eine Vollwaise Anspruch auf Familienbeihilfe hat (Abs. 1 bis 3). Erheblich behinderte Kinder im Sinne des § 2 Abs. 1 lit. c, deren Eltern ihnen nicht überwiegend den Unterhalt leisten und die einen eigenständigen Haushalt führen, haben unter denselben Voraussetzungen Anspruch auf Familienbeihilfe, unter denen eine Vollwaise Anspruch auf Familienbeihilfe hat (Abs. 1 und 3). ..."
Zur Interpretation dieser Regelungen hat der Verwaltungsgerichtshof in einem Rechtssatz zu seinem Erkenntnis Zahl Ra 2021/16/0012, vom wie folgt ausgeführt:
"Nach der ständigen Rechtsprechung des VwGH sollte nach der Absicht des Gesetzgebers in Fällen, in denen der Unterhalt einer Person durch die Unterbringung in Anstaltspflege oder einem Heim durch die öffentliche Hand sichergestellt war, kein Anspruch auf Familienbeihilfe bestehen, wobei es nicht auf die Art der Unterbringung ankam (Bezeichnung als Anstalt oder Heim), sondern ausschließlich auf die gänzliche Kostentragung durch die öffentliche Hand (vgl. 2006/13/0092; , 2002/15/0181; , 2003/13/0162; , 2001/15/0075). Diese Sichtweise wurde vom VwGH - im Hinblick auf den mit dem Familienbeihilfenrecht verfolgten Zweck (Entlastung des Unterhaltsbelasteten) und den typisierenden Charakter der Regelungen des FamLAG 1967 (vgl. 2011/16/0173, mwN) - für sämtliche Fallkonstellationen, in denen der typische Lebensunterhalt (ua Unterkunft, Bekleidung, Verpflegung) durch die öffentliche Hand gedeckt wird, vertreten (vgl. Ra 2017/16/0124; , Ra 2017/16/0053; sowie , Ra 2014/16/0014, zum Ausschluss der Familienbeihilfe subsidiär Schutzberechtigter, die Leistungen aus der Grundversorgung erhalten; , 2011/16/0173, bei Strafgefangenen; , 2007/13/0120, bei Ableistung des Zivildienstes; , 2004/15/0103, bei Ableistung des Präsenzdienstes). Zur Frage, inwieweit ein Beitrag zu den Unterhaltskosten Auswirkungen auf den Eigenanspruch der Kinder haben kann, hat der VwGH in ständiger Rechtsprechung ausgesprochen, dass eine gänzliche Unterhaltstragung durch die öffentliche Hand nicht mehr gegeben ist, wenn das Kind selbst zum eigenen Unterhalt beiträgt (vgl. etwa 2001/15/0075, mwN, zu einem Kind, das Pflegegeld und eine Waisenpension bezogen hatte). Es ist in keiner Weise ersichtlich, dass mit der Änderung des § 6 Abs. 5 FamLAG 1967 (mit BGBl. I Nr. 77/2018) eine Abkehr von der bisherigen Rechtsprechung des VwGH beabsichtigt worden wäre. Nicht nur, dass nach den Gesetzesmaterialien (386/A 26. GP 2) lediglich eine "gesetzliche Präzisierung" - und nicht etwa eine Neuregelung - vorgenommen werden sollte, bewegen sich die darin getätigten weiteren Ausführungen auf dem Boden der dargelegten bisherigen Rechtsprechung (vgl. zur Voraussetzung der gänzlichen Kostentragung durch die öffentliche Hand 2002/15/0181)."
Da der Bf. diese Voraussetzungen erfüllte, weil er seinen Unterhalt im Beschwerdezeitraum aus Bezügen der Österreichischen Gesundheitskasse bestritt und in einer eigenen Wohnung wohnte, kommt es darauf an, ob er wegen einer vor Vollendung des 21. Lebensjahres oder während einer späteren Berufsausbildung, jedoch spätestens vor Vollendung des 25. Lebensjahres, eingetretenen körperlichen oder geistigen Behinderung voraussichtlich dauernd außerstande war, sich selbst den Unterhalt zu verschaffen. Dies war zunächst strittig.
§ 8 Familienlastenausgleichsgesetz 1967 Abs. 5 bis 7 in der geltenden Fassung lauten wie folgt:
"(5) Als erheblich behindert gilt ein Kind, bei dem eine nicht nur vorübergehende Funktionsbeeinträchtigung im körperlichen, geistigen oder psychischen Bereich oder in der Sinneswahrnehmung besteht. Als nicht nur vorübergehend gilt ein Zeitraum von voraussichtlich mehr als drei Jahren. Der Grad der Behinderung muss mindestens 50 vH betragen, soweit es sich nicht um ein Kind handelt, das voraussichtlich dauernd außerstande ist, sich selbst den Unterhalt zu verschaffen. Für die Einschätzung des Grades der Behinderung sind § 14 Abs. 3 des Behinderteneinstellungsgesetzes, BGBl. Nr. 22/1970, in der jeweils geltenden Fassung, und die Verordnung des Bundesministers für Arbeit, Soziales und Konsumentenschutz betreffend nähere Bestimmungen über die Feststellung des Grades der Behinderung (Einschätzungsverordnung) vom , BGBl. II Nr. 261/2010, in der jeweils geltenden Fassung anzuwenden. Die erhebliche Behinderung ist spätestens nach fünf Jahren neu festzustellen, soweit nicht Art und Umfang eine Änderung ausschließen.
(6) Der Grad der Behinderung oder die voraussichtlich dauernde Unfähigkeit, sich selbst den Unterhalt zu verschaffen, ist durch eine Bescheinigung des Bundesamtes für Soziales und Behindertenwesen auf Grund eines ärztlichen Sachverständigengutachtens nachzuweisen. Die diesbezüglichen Kosten sind aus Mitteln des Ausgleichsfonds für Familienbeihilfen zu ersetzen.
(6a) Für eine Person, bei der eine dauernde Erwerbsunfähigkeit nach § 2 Abs. 1 lit. c festgestellt wurde, besteht kein Anspruch auf die erhöhte Familienbeihilfe, wenn sie in einem Kalenderjahr ein Einkommen bezieht, das die in § 5 Abs. 1 festgelegte Grenze übersteigt. Wenn das Einkommen in einem nachfolgenden Kalenderjahr unter der in § 5 Abs. 1 festgelegten Grenze liegt, lebt der Anspruch auf die erhöhte Familienbeihilfe wieder auf. Wenn die Erwerbsunfähigkeit nach § 2 Abs. 1 lit. c als Dauerzustand festgestellt wurde, ist kein weiteres Sachverständigengutachten erforderlich.
(7) Die Abs. 4 bis 6 gelten sinngemäß für Vollwaisen, die gemäß § 6 Anspruch auf Familienbeihilfe haben."
Der Verwaltungsgerichtshof hat zu seinem Erkenntnis vom , Zahl Ra 2023/16/0086, folgenden Rechtssatz veröffentlicht:
"Der Verwaltungsgerichtshof hat im Erkenntnis vom , Ra 2014/16/0010, ausgesprochen, dass es im Fall des § 6 Abs. 2 lit. d FLAG weder auf den Zeitpunkt ankommt, zu dem sich eine Krankheit als solche äußert, noch auf den Zeitpunkt, zu welchem diese Krankheit zu irgendeiner Behinderung führt, sondern dass der Zeitpunkt maßgeblich ist, zu dem diejenige Behinderung (als Folge einer allenfalls schon länger bestehenden Krankheit) eintritt, welche die Erwerbsunfähigkeit bewirkt.
Bei der Antwort auf die Frage, ob eine solche körperliche oder geistige Behinderung, die zur Unfähigkeit, sich selbst den Unterhalt zu verschaffen, führt, vor Vollendung des 21. Lebensjahres (oder allenfalls während einer Berufsausbildung vor Vollendung des 27. oder 25. Lebensjahres) eingetreten ist, sind die Abgabenbehörde und das Bundesfinanzgericht an die der Bescheinigung des Bundesamtes für Soziales und Behindertenwesen zugrunde liegenden Gutachten gebunden und dürfen diese nur insoweit prüfen, ob sie schlüssig und vollständig sind und im Falle mehrerer Gutachten nicht einander widersprechen (vgl. etwa den hg. Beschluss vom , Ro 2014/16/0053, und die hg. Erkenntnisse jeweils vom , 2009/16/0307 und 2009/16/0310, mwN)."
Das zuletzt erstellte Gutachten des Bundesamtes für Soziales und Behindertenwesen setzt abweichend von den Vorgutachten den Zeitpunkt des Eintrittes der voraussichtlich dauernden Erwerbsunfähigkeit mit einem früheren Zeitpunkt an, nämlich mit 4/2013. Der aus Anlass der Stellung erhobene psychologische Befund der Einzeluntersuchung vom empfahl eine dauernde Befreiung vom Wehrdienst. Diese Einschätzung ging dem Abbruch der Lehre, welche der Bf. wegen mangelnder schulischer Leistungen nicht abschließen konnte, zeitlich voraus. Das Gutachten berücksichtigt schlüssig die tatsächlich nie eingetretene Fähigkeit des Bf., sich selbst den Unterhalt zu verschaffen.
Das Finanzamt vertrat ebenfalls die Auffassung, dass dem Bf. die erhöhte Familienbeihilfe zusteht.
Der Beschwerde war daher stattzugeben.
2.2. Zu Spruchpunkt II. (Revision)
Gegen ein Erkenntnis des Bundesfinanzgerichtes ist die Revision zulässig, wenn sie von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt, insbesondere weil das Erkenntnis von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes abweicht, eine solche Rechtsprechung fehlt oder die zu lösende Rechtsfrage in der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes nicht einheitlich beantwortet wird.
Rechtsfragen, denen grundsätzliche Bedeutung zukommt, waren in diesem Erkenntnis nicht zu lösen. Soweit Rechtsfragen zu lösen waren, stützen sich diese auf die angeführte Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes.
Wien, am
Zusatzinformationen
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Materie | Steuer |
betroffene Normen | § 6 FLAG 1967, Familienlastenausgleichsgesetz 1967, BGBl. Nr. 376/1967 § 8 FLAG 1967, Familienlastenausgleichsgesetz 1967, BGBl. Nr. 376/1967 |
Verweise | |
ECLI | ECLI:AT:BFG:2024:RV.7102939.2020 |
Datenquelle: Findok — https://findok.bmf.gv.at