Familienbeihilfe; voraussichtlich dauernde Erwerbsunfähigkeit vor Vollendung des 21. Lebensjahres bescheinigt
Entscheidungstext
IM NAMEN DER REPUBLIK
Das Bundesfinanzgericht hat durch den Richter ***Ri*** in der Beschwerdesache ***Bf.***, über die Beschwerde vom gegen die Bescheide des Finanzamtes Österreich vom , Ordnungsbegriff: ***OB***, betreffend Familienbeihilfe und Erhöhungsbetrag zur Familienbeihilfe wegen erheblicher Behinderung für die Zeiträume "ab Mai 2021" zu Recht erkannt:
I. Der Beschwerde wird Folge gegeben. Die angefochtenen Bescheide werden ersatzlos aufgehoben.
II. Gegen dieses Erkenntnis ist eine ordentliche Revision an den Verwaltungsgerichtshof nach Art. 133 Abs. 4 Bundes-Verfassungsgesetz (B-VG) nicht zulässig.
Entscheidungsgründe
I. Verfahrensgang
Mit den Formblättern Beih 100 und Beih 3 vom und beantragte der Beschwerdeführer (Bf.) die Gewährung der Familienbeihilfe und des Erhöhungsbetrages zur Familienbeihilfe wegen erheblicher Behinderung (Eigenantrag).
Als erhebliche Behinderung bzw. Erkrankung gab er "F 41.1, F 12.1, F 60.3" an.
Das Finanzamt wies die Anträge mit Bescheiden vom für die Zeiträume "ab Mai 2021" ab. Unter Hinweis auf § 2 Abs 1 lit. c FLAG 1967 wurde festgehalten, dass das Sozialministeriumservice in einem Gutachten vom beim Bf. eine voraussichtlich dauernde Erwerbsunfähigkeit erst ab Jänner 2023, sohin nach Vollendung des 21. Lebensjahres festgestellt habe. Da die allgemeine Familienbeihilfe nicht zustehe, könne auch der Erhöhungsbetrag nicht ausbezahlt werden.
Dagegen richtet sich die fristgerecht erhobene Beschwerde vom .
Die abweisende Beschwerdevorentscheidung vom begründete das Finanzamt wiederum damit, dass eine voraussichtlich dauernde Erwerbsunfähigkeit erst ab Jänner 2023 habe festgestellt werden können.
Daraufhin beantragte der Bf. am über FinanzOnline die Entscheidung über die Beschwerde durch das Bundesfinanzgericht (Vorlageantrag).
In einem weiteren Gutachten nach der Einschätzungsverordnung des Bundesamtes für Soziales und Behindertenwesen (Sozialministeriumservice) vom , VOB: ***000***, wurde beim Bf. nunmehr ein Gesamtgrad der Behinderung (GdB) von 50 v.H. sowie eine voraussichtlich dauernde Erwerbsunfähigkeit, vorliegend ab Oktober 2014 festgestellt.
Das Finanzamt legte mit Vorlagebericht vom die Beschwerde samt Verfahrensakten dem Bundesfinanzgericht vor und beantragte darin, der Beschwerde Folge zu geben.
II. Das Bundesfinanzgericht hat erwogen:
1. Sachverhalt
Der Beschwerdeführer vollendete das 21. Lebensjahr am ***TTMM2017***. Das Bundesfinanzgericht sieht es als erwiesen an, dass der Beschwerdeführer bei einem festgestellten Grad der Behinderung von 50 v.H., vorliegend ab Oktober 2014, wegen einer vor Vollendung des 21. Lebensjahres eingetretenen körperlichen oder geistigen Behinderung voraussichtlich dauernd außerstande ist, sich selbst den Unterhalt zu verschaffen.
Er lebt in einer eigenen Wohnung und die Unterhaltskosten werden nicht überwiegend durch die Eltern getragen.
Das Einkommen betrug im Jahr 2021 laut Einkommensteuerbescheid vom 14.642,56 Euro, im Jahr 2022 laut Einkommensteuerbescheid vom 6.587,37 Euro und im Jahr 2023 laut Einkommensteuerbescheid vom 13.608,43 Euro.
2. Beweiswürdigung
Der festgestellte Sachverhalt ergibt sich aus den vom Finanzamt vorgelegten Verwaltungsakten, aus den rechtskräftigen Einkommensteuerbescheiden für die Jahre 2021 bis 2023, aus dem Gutachten nach der Einschätzungsverordnung des Bundesamtes für Soziales und Behindertenwesen (Sozialministeriumservice) vom , VOB: ***000***, sowie aus den Angaben und Vorbringen der beschwerdeführenden Partei.
Im vorliegenden Fall war ausschließlich strittig, ob der Eintritt der voraussichtlich dauernden Unfähigkeit, sich selbst den Unterhalt zu verschaffen, bereits vor Vollendung des 21. Lebensjahres und somit innerhalb der zeitlichen Schranken des § 6 Abs. 2 lit. d FLAG 1967 eingetreten ist. Diese Frage wurde mit dem erwähnten neuen Gutachten vom geklärt.
Dass dieses Gutachten unschlüssig oder unvollständig wäre, wird auch von der belangten Behörde nicht behauptet, sodass das Bundesfinanzgericht die Bescheinigung des Sozialministeriumservice dem gegenständlichen Erkenntnis zu Grunde zu legen hat.
3. Rechtslage und rechtliche Beurteilung
Nach § 6 Abs. 1 Familienlastenausgleichsgesetz 1967 (FLAG 1967) haben auch minderjährige Vollwaisen Anspruch auf Familienbeihilfe, wenn
a) sie im Inland einen Wohnsitz oder ihren gewöhnlichen Aufenthalt haben,
b) ihnen nicht Unterhalt von ihrem Ehegatten oder ihrem früheren Ehegatten zu leisten ist und
c) für sie keiner anderen Person Familienbeihilfe zu gewähren ist.
Gemäß § 6 Abs. 2 lit. d FLAG 1967 haben volljährige Vollwaisen Anspruch auf Familienbeihilfe, wenn auf sie die Voraussetzungen des Abs. 1 lit. a bis c zutreffen und wenn sie wegen einer vor Vollendung des 21. Lebensjahres oder während einer späteren Berufsausbildung, jedoch spätestens vor Vollendung des 25. Lebensjahres, eingetretenen körperlichen oder geistigen Behinderung voraussichtlich dauernd außerstande sind, sich selbst den Unterhalt zu verschaffen, und deren Unterhalt nicht zur Gänze aus Mitteln der Kinder- und Jugendhilfe oder nicht zur Gänze aus öffentlichen Mitteln zur Sicherung des Lebensunterhaltes und des Wohnbedarfes getragen wird, sofern die Vollwaise nicht einen eigenständigen Haushalt führt; dies gilt nicht für Vollwaisen, die Personen im Sinne des § 1 Z 3 und Z 4 des Strafvollzugsgesetzes, BGBl. Nr. 144/1969, sind, sofern die Bestimmungen des Strafvollzugsgesetzes, BGBl. Nr. 144/1969, auf sie Anwendung finden.
§ 6 Abs. 3 FLAG 1967 regelt die Berechnung der relevanten Einkommensgrenze für den (teilweisen) Wegfall des Anspruches auf Familienbeihilfe.
§ 6 Abs. 5 und 6 FLAG 1967 lauten:
"(5) Kinder, deren Eltern ihnen nicht überwiegend Unterhalt leisten und deren Unterhalt nicht zur Gänze aus Mitteln der Kinder- und Jugendhilfe oder nicht zur Gänze aus öffentlichen Mitteln zur Sicherung des Lebensunterhaltes und des Wohnbedarfes getragen wird, haben unter denselben Voraussetzungen Anspruch auf Familienbeihilfe, unter denen eine Vollwaise Anspruch auf Familienbeihilfe hat (Abs. 1 bis 3). Erheblich behinderte Kinder im Sinne des § 2 Abs. 1 lit. c, deren Eltern ihnen nicht überwiegend den Unterhalt leisten und die einen eigenständigen Haushalt führen, haben unter denselben Voraussetzungen Anspruch auf Familienbeihilfe, unter denen eine Vollwaise Anspruch auf Familienbeihilfe hat (Abs. 1 und 3).
(6) § 6 Abs. 5 gilt nicht für Personen im Sinne des § 1 Z 3 und Z 4 des Strafvollzugsgesetzes, BGBl. Nr. 144/1969, sofern die Bestimmungen des Strafvollzugsgesetzes, BGBl. Nr. 144/1969, auf sie Anwendung finden."
§ 2 Abs. 1 lit. c FLAG 1967 bestimmt, dass Personen Anspruch auf Familienbeihilfe haben, die im Bundesgebiet einen Wohnsitz oder ihren gewöhnlichen Aufenthalt haben, für volljährige Kinder, die wegen einer vor Vollendung des 21. Lebensjahres oder während einer späteren Berufsausbildung, jedoch spätestens vor Vollendung des 25. Lebensjahres, eingetretenen körperlichen oder geistigen Behinderung voraussichtlich dauernd außerstande sind, sich selbst den Unterhalt zu verschaffen.
Gemäß § 8 Abs. 4 FLAG 1967 erhöht sich die Familienbeihilfe für jedes Kind, das erheblich behindert ist.
Als erheblich behindert gilt ein Kind, bei dem eine nicht nur vorübergehende Funktionsbeeinträchtigung im körperlichen, geistigen oder psychischen Bereich oder in der Sinneswahrnehmung besteht. Als nicht nur vorübergehend gilt ein Zeitraum von voraussichtlich mehr als drei Jahren. Der Grad der Behinderung muss mindestens 50 vH betragen, soweit es sich nicht um ein Kind handelt, das voraussichtlich dauernd außerstande ist, sich selbst den Unterhalt zu verschaffen. Für die Einschätzung des Grades der Behinderung sind § 14 Abs. 3 des Behinderteneinstellungsgesetzes, BGBl. Nr. 22/1970, in der jeweils geltenden Fassung, und die Verordnung des Bundesministers für Arbeit, Soziales und Konsumentenschutz betreffend nähere Bestimmungen über die Feststellung des Grades der Behinderung (Einschätzungsverordnung) vom , BGBl. II Nr. 261/2010, in der jeweils geltenden Fassung anzuwenden. Die erhebliche Behinderung ist spätestens nach fünf Jahren neu festzustellen, soweit nicht Art und Umfang eine Änderung ausschließen (§ 8 Abs. 5 FLAG 1967).
Gemäß § 8 Abs. 6 FLAG 1967 ist der Grad der Behinderung oder die voraussichtlich dauernde Unfähigkeit, sich selbst den Unterhalt zu verschaffen, durch eine Bescheinigung des Bundesamtes für Soziales und Behindertenwesen auf Grund eines ärztlichen Sachverständigengutachtens nachzuweisen.
Nach der Bestimmung des § 8 Abs. 7 FLAG 1967 gelten die Abs. 4 bis 6 sinngemäß für Vollwaisen, die gemäß § 6 Anspruch auf Familienbeihilfe haben.
Die Familienbeihilfe wird gemäß § 10 Abs. 2 FLAG 1967 vom Beginn des Monats gewährt, in dem die Voraussetzungen für den Anspruch erfüllt werden. Der Anspruch auf Familienbeihilfe erlischt mit Ablauf des Monats, in dem eine Anspruchsvoraussetzung wegfällt oder ein Ausschließungsgrund hinzukommt.
Die Familienbeihilfe und die erhöhte Familienbeihilfe kann nur für höchstens fünf Jahre rückwirkend vom Beginn des Monats der Antragstellung gewährt werden (§ 10 Abs. 3 FLAG 1967).
Ein Eigenanspruch auf Familienbeihilfe besteht für minderjährige (§ 6 Abs. 1) und volljährige (§ 6 Abs. 2) Vollwaisen sowie für (ebenfalls minderjährige oder volljährige) Kinder, deren Eltern ihnen nicht überwiegend Unterhalt leisten und die aus diesem Grund den Vollwaisen gleichgestellt sind (§ 6 Abs. 5; sog "Sozialwaisen"; vgl. Lenneis in Lenneis/Wanke (Hrsg), FLAG2, § 6 Rz 2).
§ 6 Abs. 2 lit. d FLAG 1967 regelt (bezüglich des Eigenanspruches), unter welchen Voraussetzungen bei Behinderungen der Grundbetrag an Familienbeihilfe gewährt werden kann.
Dieser steht für volljährige Kinder bzw. volljährigen Kindern zu, die wegen einer vor Vollendung des 21. Lebensjahres oder während einer späteren Berufsausbildung, jedoch spätestens vor Vollendung des 25. Lebensjahres, eingetretenen körperlichen oder geistigen Behinderung voraussichtlich dauernd außerstande sind, sich selbst den Unterhalt zu verschaffen. Hierbei ist auch eine Behinderung im psychischen Bereich als geistige Behinderung iSd obigen Bestimmungen anzusehen (; Lenneis in Lenneis/Wanke (Hrsg), FLAG2, § 8 Rz 17).
Voraussetzung für den Erhöhungsbetrag ist, dass der Grundbetrag an Familienbeihilfe zusteht. Das bedeutet, dass bei volljährigen Kindern, denen nicht schon aus anderen Gründen als aus dem Titel der Behinderung der Grundbetrag an Familienbeihilfe zusteht, der Grad der Behinderung ohne jede Bedeutung ist, und würde er auch 100 % betragen. Besteht also keine vor Vollendung des 21. Lebensjahres (oder - im Beschwerdefall nicht relevant - während einer Berufsausbildung vor Vollendung des 25. Lebensjahres) eingetretene voraussichtlich dauernde Unfähigkeit, sich selbst den Unterhalt zu verschaffen, steht weder Grund- noch Erhöhungsbetrag zu. Besteht eine derartige Unterhaltsunfähigkeit, stehen sowohl Grund- als auch Erhöhungsbetrag zu (Lenneis in Lenneis/Wanke (Hrsg), FLAG2, § 8 Rz 18 u. 19).
Dem Bf. wurde im medizinischen Gutachten des Sozialministeriumservice vom eine voraussichtlich dauernde Erwerbsunfähigkeit vor Vollendung des 21. Lebensjahres bescheinigt.
Im Beschwerdefall liegen die Voraussetzungen des § 6 Abs. 2 lit. d FLAG 1967 für den Bezug des Grundbetrages an Familienbeihilfe vor und somit kann auch der Erhöhungsbetrag nach § 8 Abs. 4 FLAG 1967 gewährt werden.
Die Abweisungen der Anträge auf Gewährung der Familienbeihilfe und des Erhöhungsbetrages zur Familienbeihilfe wegen erheblicher Behinderung erweisen sich daher als zu Unrecht erfolgt.
Die angefochtenen Bescheide waren daher ersatzlos aufzuheben.
4. Zulässigkeit einer Revision
Gegen ein Erkenntnis des Bundesfinanzgerichtes ist die Revision zulässig, wenn sie von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt, insbesondere weil das Erkenntnis von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes abweicht, eine solche Rechtsprechung fehlt oder die zu lösende Rechtsfrage in der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes nicht einheitlich beantwortet wird.
Das vorliegende Erkenntnis beruht im Wesentlichen auf der Beweiswürdigung, ob beim Beschwerdeführer eine voraussichtlich dauernde Unfähigkeit, sich selbst den Unterhalt zu verschaffen, vor Vollendung des 21. Lebensjahres vorlag. Weder die im Rahmen der Beweiswürdigung getroffenen Feststellungen noch die einzelfallbezogene rechtliche Beurteilung weisen eine Bedeutung auf, die über den Beschwerdefall hinausgeht. Da sohin keine Rechtsfragen von grundsätzlicher Bedeutung zu beurteilen waren, ist eine Revision nicht zulässig.
Linz, am
Zusatzinformationen
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Materie | Steuer |
betroffene Normen | § 6 Abs. 1 FLAG 1967, Familienlastenausgleichsgesetz 1967, BGBl. Nr. 376/1967 § 6 Abs. 2 lit. d FLAG 1967, Familienlastenausgleichsgesetz 1967, BGBl. Nr. 376/1967 § 8 Abs. 5 FLAG 1967, Familienlastenausgleichsgesetz 1967, BGBl. Nr. 376/1967 § 8 Abs. 6 FLAG 1967, Familienlastenausgleichsgesetz 1967, BGBl. Nr. 376/1967 |
ECLI | ECLI:AT:BFG:2024:RV.5100794.2024 |
Datenquelle: Findok — https://findok.bmf.gv.at