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Bescheidbeschwerde – Einzel – Erkenntnis, BFG vom 03.09.2024, RV/3100500/2023

Erhöhte Familienbeihilfe: SMS-Gutachten nicht schlüssig

Entscheidungstext

IM NAMEN DER REPUBLIK

Das Bundesfinanzgericht hat durch die Richterin***Ri*** in der Beschwerdesache ***Bf1***, ***Bf1-Adr***, vertreten durch VertretungsNetz - Erwachsenenvertretung Mag. Nina Sens Segura, Adamgasse 2a/4. Stock, 6020 Innsbruck, über die Beschwerde vom gegen den Bescheid des Finanzamtes Österreich vom , Ordnungsbegriff Nr1, betreffend Abweisung des Antrages auf den Erhöhungsbetrag zur Familienbeihilfe ab April 2017
zu Recht erkannt:

Der Beschwerde wird gemäß § 279 BAO Folge gegeben.

Der angefochtene Bescheid wird aufgehoben.

Gegen dieses Erkenntnis ist eine ordentliche Revision an den Verwaltungsgerichtshof
nach Art. 133 Abs. 4 Bundes-Verfassungsgesetz (B-VG) nicht zulässig.

Entscheidungsgründe

I. Verfahrensablauf:

1. Mit Anträgen Beih100 und Beih3 im April 2022 hat Frau A (= Beschwerdeführerin, Bf), geb. 08/1970, vertreten durch die gerichtlich bestellte Erwachsenenvertreterin, die Zuerkennung von Familienbeihilfe (FB) sowie des FB-Erhöhungsbetrages, rückwirkend 5 Jahre ab Antragstellung, wegen erheblicher Behinderung - "Psychisch bedingte Krampfanfälle" - für sich beantragt. Im Begleitschreiben wurde noch angeführt, dass die Bf aufgrund ihrer psychischen Erkrankung nie selbsterhaltungsfähig bzw. nicht längerfristig erwerbsfähig gewesen sei.
Dazu wurde ein Auszug der Sozialversicherungsdaten vorgelegt, wonach die Bf von 11/1990 bis 01/1991 als Arbeiterin und ab 05/1991 bis 11/1998 teils für mehrere Monate, teils für nur wenige Tage mit einer Vielzahl von Krankenstands-Unterbrechungen in einer Geschützten Werkstätte beschäftigt war. Anschließend hat sie nach Bezug von Arbeitslosengeld ab 1990 zeitweise Pensionsvorschuss bezogen. Seit bezieht sie Invaliditätspension.

2. Auf Ersuchen des Finanzamtes wurde der Beschluss des Bezirksgerichtes vom über die einvernehmliche Scheidung der Bf samt Vergleich ua. betr. den beiderseitigen Unterhaltsverzicht vorgelegt.

3. Auf Anforderung durch das Finanzamt wurde vom Sozialministeriumservice (kurz: SMS) am ein Sachverständigengutachten (mit Untersuchung am ) von DrB, Facharzt für Psychiatrie, vidiert von DrC am , auszugsweise folgenden Inhaltes erstellt:

"Anamnese:
leide seit 1980 unter "Anfällen", diese würden mit Herzrasen und Zittern beginnen und in einem Krampfanfall enden, eine neurologische Abklärung sei erfolgt; lt. anwesendem PSP-Betreuer imponierten die Anfälle wie typische tonisch-klonische Grand-Mal-Anfälle mit anschließender Nachschlafphase; Auftreten der Anfälle etwa alle 2 Wochen, Zungenbiss und Sezessus fraglich; sei insgesamt 3 x in stationärer psychiatrischer Behandlung gewesen (zuletzt wegen suizidaler Krise), habe Sonderschule besucht und habe anschließend für 7 Jahre in geschützter Werkstätte gearbeitet, danach sei Arbeit wegen psychischer Überforderung unmöglich geworden; sie sei beim Arbeiten sehr langsam gewesen und es habe eine große Fehleranfälligkeit gegeben; derzeit in Pension; aktuell belastet durch familiäre Belastungsfaktoren und Beziehungsprobleme

Derzeitige Beschwerden:
Anfälle fraglicher Genese etwa alle 2 Wochen; Schmerzen beim Gehen aufgrund von Fersensporn

Behandlung …:
derzeit keine laufende fachärztliche Behandlung, Terminvereinbarung sei jedoch erfolgt; Medikation: Sertralin … Trittico …
…..
Zusammenfassung relevanter Befunde …:
- Ärztliches Attest
DrD … ():
von frühester Kindheit an bestehende geistige Retardierung
- Nervenärztliches Gutachten
DrE … ():
Hämatorrhoe ungeklärter Genese; am ehesten Spannungskopfschmerz; höhergradige Oligophrenie; GdB = 70 v.H.
- Stellungnahme der leitenden Ärztin, Landesinvalidenamt für
LandX ():
Oligophrenie RSP 579, GdB 50 %; Spannungskopfschmerz RSP 561, GdB 30 %; die im Zusammenwirken der oben angeführten Leiden verursachte Funktionsbeeinträchtigung beträgt 70 % GdB
- Bescheid Landesinvalidenamt
LandX ():
Feststellung der Zugehörigkeit zum Kreis der begünstigten Behinderten: Richtsatzposition 579, GdB 50 %; Richtsatzposition 561, GdB 50 %; die im Zusammenwirken der oben angeführten Gesundheitsschädigungen verursachte Funktionsbeeinträchtigung beträgt 70 v.H.
- Schulbesuchsbestätigung Schulzentrum
XY … ():
Bestätigung über Besuch der allgemeinen Sonderschule in
Ort1
…….
Ergebnis der durchgeführten Begutachtung:
1 Kognitive Leistungseinschränkung, Intelligenzminderung mit
maßgeblichen sozialen Anpassungsstörungen
manifeste Probleme bei der Alltagsbewältigung und bei ungelernten
Arbeiten, keine vollständige Unabhängigkeit, psychosozialer
Betreuungsbedarf Pos. Nr. GdB 50 %
Gesamtgrad der Behinderung 50 v. H.
Begründung für den Gesamtgrad der Behinderung:
------
GdB liegt vor seit: 04/1987
….
Frau
A ist voraussichtlich dauernd außerstande, sich selbst den Unterhalt zu verschaffen: JA
Dies besteht seit: 09/1993
Anmerkung bzw Begründung betreffend die Fähigkeit bzw voraussichtlich dauernde Unfähigkeit, sich selbst den Unterhalt zu verschaffen:
Lt. Antragstellerin bestand ein Arbeitsverhältnis über sieben Jahre. Aus den vorliegenden Befunden geht ein GdB von 70 v.H. ab 09/1993 hervor. Deshalb ist spätestens ab 09/1993 von einer Erwerbsunfähigkeit auszugehen.

X Dauerzustand …..".

4. Das Finanzamt hat daraufhin mit Bescheid vom , Ordnungsbegriff Nr1, den Antrag der Bf auf den FB-Erhöhungsbetrag für den Zeitraum "ab April 2017" abgewiesen. Nach Darstellung ua. des § 6 Abs. 2 lit d Familienlastenausgleichsgesetz (FLAG) 1967, wonach wegen einer vor dem 21. bzw spätestens vor dem 25. Lebensjahr eingetretenen Behinderung eine voraussichtlich dauernde Erwerbsunfähigkeit vorliegen müsse, wird begründend ausgeführt, dass lt. SMS-Bescheinigung die Erwerbsunfähigkeit mit und damit nach Vollendung des 21. Lj. der Bf eingetreten sei.

5. In der dagegen rechtzeitig erhobenen Beschwerde wird im Wesentlichen eingewendet:

Die Bf habe nach dem Kindergarten - nach wohl entsprechend relevanter Diagnose - für 9 Jahre die Sonderschule (1976-1985) besucht, woraus die bestehende Leistungsminderung, die erfahrungsgemäß auch die Erwerbsfähigkeit einschränke, erkenntlich sei. Verbunden mit der Tätigkeit in der Geschützten Werkstätte sei davon auszugehen, dass die Erwerbsunfähigkeit bereits vor dem 21. Lj. eingetreten sei.
Lt. Attest DrD und Stellungnahme des Invalidenamtes aus 1987 habe seit frühester Kindheit eine geistige Retardierung sowie eine MdE (Minderung der Erwerbsfähigkeit) von 50 % vorgelegen; lt. Bescheid Invalidenamt aus 1993 sei der GdB mit 70 % festgestellt worden. Auf das "Vorgutachten" des Landesinvalidenamtes (MdE 50 % 1987) sei der SMS-Gutachter nicht eingegangen.
Im SMS-Gutachten v. werde ausgeführt, dass der GdB seit 04/1987 vorliege. Davon abweichend und insofern widersprüchlich werde der Eintritt der Erwerbsunfähigkeit erst mit "spätestens" 09/1993 festgestellt. Begründend werde auf die von der Bf angegebene 7-jährige Arbeitstätigkeit verwiesen, die jedoch - nach einem 2monatigen Arbeitsversuch bei einer Reinigungsfirma - zu einer Geschützten Werkstätte bestand und überdies von mehreren, auch länger dauernden Krankenständen unterbrochen worden sei. Im Hinblick auf die früheren Atteste und die Stellungnahme des Landesinvalidenamtes sei die Formulierung im Gutachten ("Erwerbsunfähigkeit spätestens ab 09/1993") auch nicht schlüssig.

6. Mit der Beschwerde wurden - neben dem SMS-Gutachten v. - folgende Unterlagen beigebracht:

a) Ärztl. Attest DrD, praktische Ärztin, v. , demnach bei der Bf (Geburtsname F) eine "seit frühester Kindheit an bestehende geistige Retardierung" vorliegt;

b) Stellungnahme des leitenden Arztes des Landesinvalidenamtes für LandX v. :
vorliegende Gesundheitsschädigung: geistige Retardierung, MdE 50 %, Dauerzustand;

c) Nervenärztl. Gutachten DrE, Facharzt für Neurologie und Psychiatrie,
v. , woraus ua. hervorgeht:
- Anamnese: sei ein Kind geblieben am mentalen Stand einer 12-jährigen; arbeite seit 2,5
Jahren in der Geschützten Werkstätte, bekomme Taschengeld, wovon sie "Schleckzeug"
kaufe.
- Diagnose: Hämatorrhie ungeklärter Genese; am ehesten Spannungskopfschmerz;
höhergradige Oligophrenie.
- Beurteilung: insgesamt MdE 70 %;

d) Stellungnahme der leitenden Ärztin des Landesinvalidenamtes v. :
Gesundheitsschädigungen: Oligophrenie + Spannungskopfschmerz, GdB insgesamt 70 %;

e) Bescheid des Landesinvalidenamtes v. :
Gestützt auf das ärztl Gutachten des DrE v. , das als schlüssig anerkannt wurde, wurde der Bf ab die Zugehörigkeit zum Kreis der Behinderten nach dem BEinstG zuerkannt; festgestellter GdB 70 v.H.;

f) Bestätigung Schulzentrum XY v. über den Besuch der allgemeinen Sonderschule durch die Bf von 09/1976 bis 07/1985.

7. Von Seiten des Sozialministeriumservice wurde am zur Beschwerde (samt Beilagen) folgende Stellungnahme abgegeben:
"Die vorgelegten Befunde/Gutachten aus 1987 und 1993 lassen es leider nicht zu, eine gesicherte Feststellung über die Frage der Erwerbsfähigkeit vor 09/1993 zu treffen."

8. Mit Beschwerdevorentscheidung (BVE) vom wurde die Beschwerde als unbegründet abgewiesen. Zur Begründung wurde vorgenannte SMS-Stellungnahme zitiert.

9. Im dagegen erhobenen Vorlageantrag wird ausdrücklich auf das Beschwerdevorbringen verwiesen und ergänzend vorgebracht:
Das Finanzamt sei in keiner Weise auf die Beschwerdeargumentation eingegangen und habe es unterlassen, eine Gutachtens-Ergänzung zur Abklärung der Widersprüche einzuholen. Es sei nicht nachvollziehbar, weshalb die vorgelegten Unterlagen ua. aus 1987 nicht nachweisen sollten, dass bei der Bf bereits vor dem 21. Lj. Erwerbsunfähigkeit vorgelegen wäre. Die 7jährige Arbeitstätigkeit, noch dazu in einer Geschützten Werkstätte mit einer Vielzahl von Krankenständen, sei unmaßgeblich, da nach der ständigen VwGH-Rechtsprechung daraus nicht auf eine Erwerbsfähigkeit geschlossen werden könne.

10. Zum Vorlageantrag hat das Sozialministeriumservice am wie folgt Stellung genommen:
"Das Gutachten von DrB vom ist schlüssig. Die vorgelegten Befunde/Gutachten aus 1987 und 1993 lassen es leider nicht zu, eine gesicherte Feststellung über die Frage der Erwerbsfähigkeit vor 09/1993 zu treffen."

II. Sachverhalt:

Die Bf, geb. 08/1970, hat im August 1991 das 21. Lebensjahr vollendet. Sie hat im Alter von 51 Jahren den Eigenantrag auf Zuerkennung der erhöhten Familienbeihilfe wg. erheblicher Behinderung gestellt.
Sie hat neun Jahre die Sonderschule bis 07/1985 besucht. Nach zweimonatiger Tätigkeit in einer Reinigung war sie im Zeitraum Mai 1991 bis November 1998 teils mehrere Monate, teils nur wenige Tage, unterbrochen von einer Vielzahl an Krankenständen, in einer Geschützten Werkstätte tätig, wofür sie mit einem Taschengeld abgegolten wurde. Seit 1999 befindet sie sich in Invaliditätspension (siehe Schulbesuchsbestätigung; Auszug der Sozialversicherungs-daten; eigene Angaben).
Im Februar 2022 wurde für die Bf ein gerichtlicher Erwachsenenvertreter bestellt (BG-Beschluss v. ).

Im Jahr 1987 war bei der Bf eine geistige Retardierung seit frühester Kindheit mit einem MdE bzw. GdB von 50 % festgestellt worden (siehe Attest DrD ; Stellungnahme des leitenden Arztes beim Landesinvalidenamt LandX v. ).
Im Jahr 1993 wurden die Leiden höhergradige Oligophrenie (= lt. Abfrage im Internet/ Wikipedia: "angeborene oder erworbene Minderintelligenz") und Spannungskopfschmerz ärztlich diagnostiziert und wurde die damit verbundene Funktionsbeeinträchtigung mit dem GdB von gesamt 70 % als Dauerzustand bescheinigt; darauf gestützt wurde der Bf bescheidmäßig der Status als begünstigte Behinderte iSd BEinstG zuerkannt (siehe nervenärztl. Gutachten DrE v. ; Stellungnahme der leitenden Ärztin beim Landesinvalidenamt v. ; Bescheid des Landesinvalidenamtes v. ).

In dem von einem Facharzt für Psychiatrie nach Untersuchung erstellten SMS-Gutachten vom 3./ wird - basierend auf vorgenannten Unterlagen aus 1987 und 1993 - im Ergebnis bei der Bf eine "Kognitive Leistungseinschränkung, Intelligenzminderung mit maßgeblichen sozialen Anpassungsstörungen" samt einem Grad der Behinderung/GdB im Ausmaß von 50 % ab 04/1987 bescheinigt. Es wird die dauernde Erwerbsunfähigkeit mit Eintritt "spätestens" ab 09/1993 festgestellt, da lt. Gutachter ein Arbeitsverhältnis über einen Zeitraum von 7 Jahren bestand und aus den Befunden ein GdB von 70 % ab 09/1993 hervorgeht.
Laut nachfolgenden SMS-Stellungnahmen (siehe v. und v. ) kann zur Frage der Erwerbsfähigkeit der Bf keine "gesicherte" Feststellung zum Zeitraum vor 09/1993 getroffen werden.

III. Beweiswürdigung:

Obiger Sachverhalt ergibt sich aus dem Akteninhalt, insbesondere aus den oben im Einzelnen angeführten Unterlagen und teils den eigenen Angaben seitens der Bf, und ist insoweit unbestritten.

IV. Rechtslage:

A) Gesetzliche Bestimmungen:

a) Eigenanspruch:

Betreffend den "Eigenanspruch auf Familienbeihilfe" wird in § 6 Familienlastenausgleichsgesetz (FLAG), BGBl 1967/376 idgF., bestimmt:

(1) Anspruch auf Familienbeihilfe haben auch minderjährige Vollwaisen, wenn
a) sie im Inland einen Wohnsitz oder ihren gewöhnlichen Aufenthalt haben,
b) ihnen nicht Unterhalt von ihrem Ehegatten oder ihrem früheren Ehegatten zu leisten
ist und
c) für sie keiner anderen Person Familienbeihilfe zu gewähren ist.

(2) Volljährige Vollwaisen haben Anspruch auf Familienbeihilfe, wenn auf sie die Voraus-
setzungen des Abs. 1 lit a bis c zutreffen und wenn sie ...
d) wegen einer vor Vollendung des 21. Lebensjahres oder während einer späteren
Berufsausbildung, jedoch spätestens vor Vollendung des 25. Lebensjahres,
eingetretenen körperlichen oder geistigen Behinderung voraussichtlich dauernd
außerstande sind, sich selbst den Unterhalt zu verschaffen, und deren Unterhalt nicht
zur Gänze aus Mitteln der Kinder - und Jugendhilfe oder nicht zur Gänze aus
öffentlichen Mitteln zur Sicherung des Lebensunterhaltes und des Wohnbedarfes
getragen wird, sofern die Vollwaise nicht einen eigenständigen Haushalt führt ....
….
(5) Kinder, deren Eltern ihnen nicht überwiegend Unterhalt leisten und deren Unterhalt nicht zur Gänze aus Mitteln der Kinder - und Jugendhilfe oder nicht zur Gänze aus öffentlichen Mitteln zur Sicherung des Lebensunterhaltes und des Wohnbedarfes getragen wird, haben unter denselben Voraussetzungen Anspruch auf Familienbeihilfe, unter denen eine Vollwaise Anspruch auf Familienbeihilfe hat (Abs. 1 bis 3). Erheblich behinderte Kinder im Sinne des § 2 Abs. 1 lit c, deren Eltern ihnen nicht überwiegend den Unterhalt leisten und die einen eigenständigen Haushalt führen, haben unter denselben Voraussetzungen Anspruch auf Familienbeihilfe, unter denen eine Vollwaise Anspruch auf Familienbeihilfe hat (Abs. 1 und 3).

Nach § 2 Abs. 1 lit c FLAG 1967 besteht Anspruch auf Familienbeihilfe für volljährige Kinder, die wegen einer vor Vollendung des 21. Lebensjahres oder während einer späteren Berufsausbildung, jedoch spätestens vor Vollendung des 25. Lebensjahres, eingetretenen körperlichen oder geistigen Behinderung voraussichtlich dauernd außerstande sind, sich selbst den Unterhalt zu verschaffen.

b) Erhöhungsbetrag:

Gemäß § 8 Abs. 4 FLAG erhöht sich die Familienbeihilfe für jedes Kind, das erheblich behindert ist.
Gemäß § 8 Abs. 5 FLAG 1967 idgF gilt als erheblich behindert ein Kind, bei dem eine nicht nur vorübergehende Funktionsbeeinträchtigung im körperlichen, geistigen oder psychischen Bereich oder in der Sinneswahrnehmung besteht. Als nicht nur vorübergehend gilt ein Zeitraum von voraussichtlich mehr als drei Jahren (ab : mehr als 6 Monaten). Der Grad der Behinderung muss mindestens 50 v.H. betragen, soweit es sich nicht um ein Kind handelt, das voraussichtlich dauernd außerstande ist, sich selbst den Unterhalt zu verschaffen. Für die Einschätzung des Grades der Behinderung sind § 14 Abs. 3 des Behinderteneinstellungsge-setzes, BGBl. Nr. 22/1970, in der jeweils geltenden Fassung, und die Verordnung des Bundesministers für Arbeit, Soziales und Konsumentenschutz betreffend nähere Bestimmungen über die Feststellung des Grades der Behinderung (Einschätzungsverordnung) vom , BGBl. II Nr. 261/2010, in der jeweils geltenden Fassung, anzuwenden. Die erhebliche Behinderung ist spätestens nach fünf Jahren (ab : alle fünf Jahre) neu festzustellen, soweit nicht Art und Umfang eine Änderung ausschließen (ab : wenn nach Art und Umfang eine mögliche Änderung zu erwarten ist).

Nach § 8 Abs. 6 FLAG 1967 idgF ist der Grad der Behinderung oder die voraussichtlich dauernde Unfähigkeit, sich selbst den Unterhalt zu verschaffen, vom Bundesamt für Soziales und Behindertenwesen (Sozialministeriumservice) dem Finanzamt Österreich durch eine Bescheinigung auf Grund eines ärztlichen Sachverständigengutachtens nachzuweisen.

Gemäß § 8 Abs. 7 FLAG gelten die Abs. 4 bis 6 sinngemäß für Ansprüche nach § 6 FLAG.

Ein "Eigenanspruch" der Bf kommt daher nach Obigem dann in Betracht, wenn nach § 6 Abs. 2 lit d FLAG bei ihr vor Vollendung des 21. Lebensjahres aufgrund einer Behinderung eine voraussichtlich dauernde Erwerbsunfähigkeit eingetreten ist.
Besteht keine vor dem 21. Lebensjahr eingetretene dauernde Unfähigkeit, sich selbst den Unterhalt zu verschaffen, steht weder der Grund- noch der Erhöhungsbetrag an Familienbeihilfe zu.

B) Judikatur:

Zum Nachweis der Voraussetzung der dauernden Erwerbsunfähigkeit (sowie auch des Grades der Behinderung) ist eine Bescheinigung des Sozialministeriumservice iSd § 8 Abs. 6 FLAG zwingend erforderlich. Die Abgabenbehörden sowie der UFS, nunmehr das Bundesfinanzgericht/BFG, sind an die Feststellungen der im Wege des Bundessozialamtes (nunmehr Sozialministeriumservice/SMS) erstellten Gutachten - grundsätzlich - gebunden (vgl. ua.).

Gleichzeitig hat das BFG die Beweiskraft - insbesondere Nachvollziehbarkeit bzw. Schlüssigkeit - der Gutachten zu prüfen und erforderlichenfalls für deren Ergänzung zu sorgen (vgl. ).
(vgl. zu vor auch: Lenneis/Wanke, FLAG-Kommentar, 2. Aufl., Rz. 29 f. zu § 8 FLAG).

Die Ermittlungsmöglichkeiten der Behörde sind eingeschränkt, wenn Sachverhalte zu beurteilen sind, die teilweise Jahrzehnte zurückliegen. Auch der Sachverständige kann aufgrund seines medizinischen Fachwissens ohne Probleme nur den aktuellen Gesund-heitszustand des Erkrankten beurteilen. Hierauf kommt es aber nur dann an, wenn der derzeitige Behinderungsgrad zu beurteilen ist oder die Feststellung, ob eine dauernde Erwerbsunfähigkeit vorliegt, zeitnah zum relevanten Zeitpunkt erfolgen kann. Der Sachverständige kann in den übrigen Fällen nur aufgrund von Indizien, insbesondere anhand von vorliegenden Befunden, Rückschlüsse darauf ziehen, zu welchem Zeitpunkt eine erhebliche Behinderung eingetreten ist. Dies ist insbesondere bei psychischen Krankheiten problematisch, die häufig einen schleichenden Verlauf nehmen, sodass es primär am Bf oder dessen Vertreter (zB Sachwalter) gelegen wäre, die vor dem 21. Lebensjahr eingetretene Erwerbsunfähigkeit nachzuweisen (vgl. u.a.; siehe in Lenneis/Wanke, aaO, Rz 32 zu § 8 FLAG).

§ 6 Abs. 2 lit d FLAG 1967 stellt darauf ab, dass der Vollwaise auf Grund einer zu einem bestimmten Zeitpunkt eingetretenen Behinderung außerstande ist, sich selbst den Unterhalt zu verschaffen. Eine derartige geistige oder körperliche Behinderung kann durchaus die Folge einer Krankheit sein, die schon seit längerem vorliegt (bei angeborenen Krankheiten oder genetischen Anomalien etwa seit Geburt), sich jedoch erst zu einem späteren Zeitpunkt manifestiert. Erst wenn diese Krankheit zu einer derart erheblichen Behinderung führt, welche die Erwerbsunfähigkeit bewirkt, ist der Tatbestand des § 6 Abs. 2 lit d erfüllt. Maßgeblich ist somit der Zeitpunkt, zu dem diejenige Behinderung (als Folge der allenfalls schon länger bestehenden Krankheit) eintritt, welche die Erwerbsunfähigkeit bewirkt; die vom Gesetzgeber geforderte Feststellung des tatsächlichen Eintritts der Erwerbsunfähigkeit eines Antragstellers kann immer nur mit hoher Wahrscheinlichkeit den Tatsachen entsprechen (; ).

Liegen keine Befunde vor einem bestimmten Zeitraum vor, so ist es einem Gutachter nicht möglich, bereits davor eine voraussichtlich dauernde Unfähigkeit, sich selbst den Unterhalt zu verschaffen, festzustellen, sofern kein Leidenszustand vorliegt, der eindeutig eine Erwerbsfähigkeit bereits von vorneherein ausschließt (; siehe zu vor Lenneis/Wanke, aaO, Rz 20 zu § 8 FLAG).

Zur Berufstätigkeit:

Der VwGH hat früher in ständiger RSpr erkannt, dass eine mehrjährige berufliche Tätigkeit der Annahme entgegen steht, das Kind sei infolge seiner Behinderung voraussichtlich dauernd außerstande, sich selbst den Unterhalt zu verschaffen (zB ).
Von einer beruflichen Tätigkeit könne allerdings dann nicht gesprochen werden, wenn der "beruflich Tätige" keine (Arbeits)Leistungen erbringt, sondern eine Einrichtung vielmehr aus karitativen Überlegungen oder zu therapeutischen Zwecken bereit ist, eine Person ohne Erwartung einer Gegenleistung wie einen Dienstnehmer zu behandeln.

Nach Änderung des § 8 Abs. 6 FLAG durch BGBl I 2002/105 ab sowie nach dem VfGH-Erkenntnis vom , B 700/07, hat der VwGH ausgesprochen (siehe ), dass diese bisherige Judikatur ("mehrjährige Berufstätigkeit spreche gegen dauernde Erwerbsunfähigkeit") nicht mehr aufrecht zu erhalten sei und daher keinen Anwendungsbereich mehr habe (vgl. auch ; ; siehe zu vor: Lenneis/Wanke, aaO, Rz 23-25 zu § 8 FLAG).

V. Erwägungen:

In Streit gezogen ist gegenständlich der Zeitpunkt des Eintritts der Erwerbsunfähigkeit bei der Bf. Nach oben dargelegter Rechtsprechnung kann die Feststellung des tatsächlichen Eintritts der Erwerbsunfähigkeit immer nur mit hoher Wahrscheinlichkeit den Tatsachen entsprechen; mangels Befunden vor einem bestimmten Zeitraum ist es dem Gutachter an sich nicht möglich, davor die Erwerbsunfähigkeit festzustellen.

Im Gegenstandsfall liegen aus der Zeit vor Vollendung des 21. Lebensjahres der Bf, konkret im Alter von 16 Jahren, durchaus ärztliche "Befunde" vor, nämlich das Attest von DrD v. , wonach die Bf seit frühester Kindheit eine geistige Retardierung aufweist, sowie die Stellungnahme des leitenden Arztes des Landesinvalidenamtes v. , wonach eine geistige Retardierung mit einem GdB von 50 % als Dauerzustand vorliegt.

Vom SMS-Gutachter wurde, offenkundig abgestellt auf das Attest DrD, der Eintritt des GdB von 50 % mit "04/1987" festgestellt und demgegenüber der Eintritt der Erwerbsun-fähigkeit erst "seit 09/1993" bescheinigt.
Begründend führt der Gutachter zunächst aus, bei der Bf habe ein Arbeitsverhältnis über 7 Jahre bestanden. Dem ist Folgendes zu entgegnen:
Der VwGH ist von seiner früheren Rechtsprechung, dass eine mehrjährige Berufstätigkeit auf eine Erwerbsfähigkeit schließen lasse, mit Erkenntnis vom , 2007/15/0019, abgegangen und hat ausgesprochen, dass diese keine Anwendung mehr findet. Abgesehen davon hat diese, vom Gutachter so bezeichnete "Arbeitstätigkeit" der Bf in den Jahren 1991 bis 1998 stattgefunden, sodass es vorderhand für das BFG nicht nachvollziehbar erscheint, warum der Gutachter - wenn er schon seine Begründung auf dieses Argument stützt - den Eintritt der Erwerbsunfähigkeit nicht mit Ende dieser Tätigkeit ca. im Jahr 1998 festgestellt hatte.
Hinzu kommt, dass von einer beruflichen Tätigkeit dann überhaupt nicht gesprochen werden kann, wenn die betr. Leistungen nicht am ordentlichen Arbeitsmarkt, sondern vielmehr im Rahmen einer Einrichtung wie hier einer "Geschützten Werkstätte" erbracht werden, die aus karitativen Überlegungen oder zu therapeutischen Zwecken eine Beschäftigung für - größtenteils - intellektuell beeinträchtigte Personen bietet und wofür auch kein ordnungsgemäßes Gehalt, sondern bekanntlich nur ein Taschengeld bezogen wird (siehe auch lt. Anamnese im Gutachten des DrE v. ).
Die als Begründung herangezogene "Arbeitstätigkeit" der Bf ist daher für das BFG nicht nachvollziehbar und auch in sich widersprüchlich.

Als weiteres Argument stellt der Gutachter auf den aus den Befunden aus 1993 hervorgehenden GdB von 70 % ab 09/1993 ab, weshalb "spätestens" ab 09/1993 von einer Erwerbsunfähigkeit auszugehen wäre. Dem liegt offensichtlich das nervenärztliche Gutachten des Psychiaters DrE v. zugrunde, woraus jedoch auch hervorkommt, dass die Bf (lt. Anamnese) im Alter von 23 Jahren am mentalen Stand einer 12-Jährigen war.
Wenn insofern der Gutachter den Beginn der Erwerbsunfähigkeit an dem höheren GdB von 70 % festmacht, so ist dem entgegen zu halten, dass dem GdB an sich keine Aussagekraft hinsichtlich einer möglichen Erwerbsunfähigkeit zukommt bzw. keinen Rückschluss darauf zulässt. Ebenso wie nach geltender Rechtsprechung selbst bei einem GdB von 100 % dennoch Erwerbsfähigkeit gegeben sein kann, so ist im Umkehrschluss nicht auszuschließen, dass bei einem geringeren GdB - zB wie hier von 50 % im Jahr 1987 - dennoch bereits eine Erwerbsunfähigkeit vorliegt.
Das bedeutet, auch das zweite Begründungselement im SMS-Gutachten erscheint dem BFG wenig stichhältig und nicht nachvollziehbar.

Der Vollständigkeit halber gilt festzuhalten, dass es im Hinblick auf die aus den Jahren 1987 und 1993 mehrfach vorliegenden Befunde/Atteste etc. als nicht zutreffend erscheint, wenn vom Gutachter zum GdB lediglich festgestellt wurde: 50 %, vorliegend "ab 04/1987". Obwohl sämtlich als "relevante Befunde" aufgeführt, wurde nämlich hiebei außer Acht gelassen, dass sowohl im Gutachten des DrE v. wie auch in der Stellungnahme der leitenden Ärztin des Landesinvalidenamtes v. und im Bescheid des Landesinvalidenamtes v. aufgrund eines neben der Oligophrenie bestehenden Leidens der GdB insgesamt, sohin mehrfach, mit 70 % attestiert worden war. Nach Ansicht des BFG hätte daher diesbezüglich festgestellt werden müssen:
GdB 50 %: ab 04/1987
GdB 70 %: ab 09/1993
GdB 50 % (lt. aktueller Untersuchung): ab 08/2022.
Das Gutachten wäre daher in diesem Zusammenhalt als unvollständig zu erachten.

Das Bundesfinanzgericht ist zwar grundsätzich an die Feststellungen der im Wege des Sozialministeriumservice erstellten Gutachten gebunden, hat aber zugleich die Gutachten auf ihre Beweiskraft hin - insbesondere deren Nachvollziehbarkeit bzw. Schlüssigkeit - zu überprüfen. Laut oben dargelegter Überprüfung, insbesondere der Begründung des Zeitpunktes des Eintritts der Erwerbsunfähigkeit der Bf, ist das SMS-Gutachten v. 3./ als nicht schlüssig bzw. nicht nachvollziehbar zu beurteilen und daher für das BFG nicht bindend.

Davon abgesehen hat der Gutachter selbst den Eintritt der Erwerbsunfähigkeit mit "spätestens" ab 09/1993 bescheinigt. Dabei gilt - neben der bereits seit Kindheit mehrfach attestierten und wohl angeborenen Minderintelligenz - auch zu beachten, dass das Alter der Bf im September 1993 von 23 Jahren zeitlich relativ nahe zur gesetzlich maßgeblichen Vollendung des 21. Lebensjahres gelegen war.

Im Rahmen einer Gesamtbetrachtung aller vorliegenden Umstände, dass nämlich die Bf 9 Jahre lang die Sonderschule besucht hat, anschließend - wie aus den Sozialversicherungsdaten hervorgeht - nie am allgemeinen Arbeitsmarkt Fuss fasste, sondern vielmehr nur in einer "Geschützten Werkstätte" beschäftigt war und sich seither in Pension befindet, muss wohl mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit davon ausgegangen werden, dass die Bf von vorneherein nie die Fähigkeit erlangt hatte, sich selbst den Unterhalt zu verschaffen.
Selbst dann, wenn man auf die SMS-Stellungnahmen v. und v. dahin, dass eine "gesicherte" Feststellung der Erwerbsfähigkeit vor 09/1993 nicht getroffen werden könne, Bedacht nehmen wollte, steht für das BFG nach den Gesamtumständen fest, dass bei der Bf ein Leidenszustand vorliegt, der eindeutig eine Erwerbsfähigkeit bereits von vorneherein ausschließt (vgl. ).

VI. Ergebnis:

Bei eingetretener Erwerbsunfähigkeit noch vor Vollendung des 21. Lebensjahres der Bf sind iSd § 6 Abs. 2 lit d iVm Abs. 5 FLAG 1967 bei ihr sämtliche Voraussetzungen für die Zuerkennung des Grundbetrages an Familienbeihilfe und des FB-Erhöhungsbetrages als Eigenanspruch erfüllt.

Es war daher der Beschwerde Folge zu geben und der angefochtene Abweisungsbescheid (zum FB-Erhöhungsbetrag) aufzuheben.

Abschließend gilt darauf hinzuweisen, dass Gegenstand dieses Beschwerdeverfahrens lediglich der bekämpfte Abweisungsbescheid hinsichtlich des Antrages auf den FB-Erhöhungsbetrag (Beih3) war. Grundlage für den Erhöhungsbetrag wäre die Zuerkennung des FB-Grundbetrages, dh. das Finanzamt wird in der Folge auch über den Antrag Beih100 aus April 2022 antragsgemäß abzusprechen haben.

Unzulässigkeit einer Revision:

Gegen ein Erkenntnis des Bundesfinanzgerichtes ist die Revision zulässig, wenn sie von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt, insbesondere weil das Erkenntnis von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes abweicht, eine solche Rechtsprechung fehlt oder die zu lösende Rechtsfrage in der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes nicht einheitlich beantwortet wird.

Die Lösung der Rechtsfrage, unter welchen Voraussetzungen die erhöhte Familienbeihilfe (Grundbetrag und Erhöhung) als Eigenanspruch zusteht, ergibt sich bereits aus den bezughabenden Gesetzesbestimmungen. Bei der Frage, ob gegenständlich noch vor dem 21. Lj. eine "dauernde Erwerbsunfähigkeit" eingetreten war, handelt es sich um eine sachverhalts-bezogen zu lösende Tatfrage, insofern keine Rechtsfrage von "grundsätzlicher Bedeutung" vorliegt. Eine Revision ist damit nicht zulässig.

Innsbruck, am

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