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Bescheidbeschwerde – Einzel – Erkenntnis, BFG vom 16.08.2024, RV/7104062/2016

Aus A1-Bescheinigung kann keine Arbeitskräfteüberlassung abgeleitet werden (§ 99 EStG 1988)

Entscheidungstext

IM NAMEN DER REPUBLIK

Das Bundesfinanzgericht hat durch die Richterin Silvia Gebhart in der Beschwerdesache des ***8*** als Masseverwalter im Insolvenzverfahren des ***4***, ***Bf1-Adr*** Rechtsanwalt, letzterer Inhaber der Firma ***1*** e.U. und Gesamtrechtsnachfolger der ***1*** OG, über die von der ***1*** OG eingebrachte Beschwerde vom gegen den Bescheid des Finanzamtes Wien 12/13/14 Purkersdorf vom , nunmehr Finanzamt Österreich, betreffend Haftung für Abzugssteuer nach § 99 Abs 1 Z 5 EStG 1988 iVm § 100 Abs 2 EStG 1988 für die Zeiträume 2011 und 2012, Steuernummer ***2***, zu Recht erkannt:

I. Der Beschwerde wird Folge gegeben. Der angefochtene Bescheid wird gemäß § 279 BAO aufgehoben.

II. Gegen dieses Erkenntnis ist eine ordentliche Revision an den Verwaltungsgerichtshof nach Art. 133 Abs. 4 Bundes-Verfassungsgesetz (B-VG) nicht zulässig.

Entscheidungsgründe

I. Verfahrensgang

Mit dem angefochtenen Bescheid wurde der ***1*** OG (im Folgenden kurz: Gesellschaft) im Haftungsweg Abzugssteuer gemäß § 100 Abs 2 iVm 99 Abs 1 Z 5 2. Fall EStG 1988 iHv EUR 20.804,80 für den Zeitraum 2011 und EUR 2.820,00 für den Zeitraum 2012 vorgeschrieben. Die Gesellschaft war im Baugewerbe tätig und wurde am TT.07.2021 im Firmenbuch neu eingetragen (FN ***3***). Neben anderen war deren gesetzlicher Vertreter ***7***. Ein weiterer von insgesamt fünf Gesellschaftern war ihr Ehemann ***4***.

Beschwerde und Vorlageantrag wurden form- und fristgerecht von der ***1*** OG durch die steuerliche Vertretung erhoben. Im Vorlageantrag wurde von "vorgelegten Werkverträgen" gesprochen, ohne den Nachweis der erfolgten Vorlage zu erbringen (zB Hinweis auf den Schriftsatz, mit dem die Vorlage erfolgt sein soll).

Mit Vorlagebericht vom wurde die Beschwerde mitsamt Bezug habenden Aktenteilen dem BFG elektronisch zur Entscheidung vorgelegt. Werkverträge wurden nicht vorgelegt. Im Vorlagebericht machte die belangte Behörde zu den Werkverträgen widersprüchliche Angaben, indem sie an einer Stelle behauptete, die Werkverträge seien nicht vorgelegt worden, an anderer Stelle würdigte sie wiederum Werkverträge.

Anlässlich einer Firmenbuchabfrage vom wurde durch das BFG festgestellt, dass seit TT.06.2020 auch für ***4***, der zuvor nicht vertretungsbefugt war, die Befugnis zur selbstständigen Vertretung eingetragen war. Mit Gesellschaftsvertrag vom TT.04.2010 war eine Vermögensübernahme gemäß § 142 UGB durch ***4*** erfolgt. Die Gesellschaft ist seit TT.05.2021 aufgelöst und gelöscht. Die Fortführung erfolgte als protokolliertes Einzelunternehmen ***1*** e.U. ***5***.

Im Zeitpunkt des Vertragsabschlusses waren nur noch die Gesellschafter ***7***. und ***4*** zur selbstständigen Vertretung befugt. Zur Abfindung der anderen Gesellschafter liegen beim Firmenbuchgericht keine Urkunden auf.

Die Firmenbuchabfrage vom zur ***1*** e.U. ergab, dass das Einzelunternehmen am TT.05.2021 neu eingetragen wurde und nur fünf Monate später mit Beschluss des Handelsgerichts vom TT.10.2021, GZ ***6***, der Konkurs eröffnet worden war. Als Masseverwalter war neben dessen Stellvertreter ***8*** eingetragen.

Festgestellt wurde schließlich, dass laut Abgabenkonto der Abgabenrückstand der Gesellschaft nicht auf das Abgabenkonto des Gesamtrechtsnachfolgers ***4*** übertragen worden war.

Mit hg Anschreiben vom wurden obige Feststellungen der belangten Behörde zur Kenntnis gebracht und sowie diese um Auskunft zur Besicherung des Abgabenrückstandes und zur hg Rechtsansicht, dass aufgrund der mit § 142 UGB angeordneten Gesamtrechtsnachfolge der beschwerdeverfangene Abgabenanspruch auf ***4*** und infolge Konkurseröffnung auf dessen Masseverwalter übergegangen ist, ersucht. Weiters wurde um Aufklärung der widersprüchlichen Angaben in den behördlichen Erledigungen zu den Werkverträgen, Bautagebüchern ersucht.

Mit Schriftsatz vom gab die belangte Behörde durch ihren Amtsvertreter eine Stellungnahme ab und legte den letzten Zwischenbericht des Insolvenzverwalters vom vor.

Die belangte Behörde äußerste darin keine Bedenken gegen die vom BFG zum § 142 UGB dargelegte Rechtsansicht.

Auf dem Abgabenkonto der ***1*** OG seien eine Aussetzung der Einbringung in Höhe von EUR 41.804,76 (= restlicher Haftungsbetrag) sowie eine Aussetzung der Einhebung in Höhe von EUR 24.292,87 angemerkt. Der Abgabenrückstand sei Corona bedingt erst am in Vollstreckung gekommen. Die OG sei zu diesem Zeitpunkt bereits im Firmenbuch gelöscht gewesen. Sicherungs- bzw. Einbringungsmaßnahme bei der OG selbst seien daher nicht mehr möglich gewesen.

Gegen ***7*** sei der Haftungsbescheid vom über EUR 42.442,76 erlassen und in deren Schuldenregulierungsverfahren beim Bezirksgericht Meidling zur Zahl AZ 19 S 3/23f geführten Abschöpfungsverfahren angemeldet worden. Durch Abgabengutschriften wegen der Veranlagungen-ANV 2022 und 2023 habe sich der Rückstand auf aktuell EUR 41.804,76 verringert. Das Abschöpfungsverfahren sei am TT.09.2023 eingeleitet worden, es könne daher nicht gesagt werden, in welchem Ausmaß der Rückstand einbringlich sein werde (abhängig vom Einkommen von ***7*** in den nächsten Jahren).

Zu ***4*** bestünden offene Forderungen von EUR 10.179,69. Bislang seien nur die Schulden des Einkommensteuerkontos angemeldet worden. Einbringungs-oder Sicherstellungsmaßnahmen seien nicht durchgeführt worden, da zum Zeitpunkt der Insolvenzeröffnung kein vollstreckbarer Rückstand auf dem Einkommensteuerkonto bestanden habe. Das Einkommen des ***4*** habe laut der zu diesem Zeitpunkt veranlagten Jahre bis 2019 unter EUR 10.000,00 pro Jahr betragen. Das Konkursverfahren sei am TT.10.2021 eröffnet und die Schließung des Unternehmens am TT.10.2021 angeordnet worden. Am TT.11.2021 sei Masseunzulänglichkeit angezeigt worden. Das Insolvenzverfahren sei noch aufrecht. Laut Zwischenbericht des Masseverwalters vom habe es bis auf ein Telefonat keinen Kontakt zum Schuldner gegeben. Die Masseunzulänglichkeit sei nach wie vor aufrecht. Der nächste Bericht des Masseverwalters werde bis erfolgen. Nach derzeitigem Stand sei der Rückstand nicht einbringlich.

Mit der Stellungnahme wurde eingeräumt, dass im Vorlagebericht und in der BVE zwar Andeutungen über nicht aussagekräftige Werkverträge getroffen worden seien, allerdings fänden sich weder im elektronischen Akt noch im Archiv im BP 2000 und auch nicht in den Unterlagen zur Bearbeitung des Vorlageberichtes Werkverträge. Daher könnten Werkverträge weder vorgelegt worden sein noch jetzt nachträglich vorgelegt werden.

Es gebe in den Unterlagen für die Bearbeitung der BVE ein Verf29, darin würden diverse Rechnungen; Zahlungsbestätigungen, Bautagebücher und Transaktionsnummern abverlangt. Da sich weder im Archiv des BP 2000 noch im elektronischen Akt eine Beantwortung des Verf29 finde, könnten auch dazu keine Unterlagen geschickt werden.

Fakt sei, dass sowohl bei der Prüfung als auch in den nachfolgenden Verfahrensschritten mangelhafte bis gar keine Angaben gemacht worden seien, die eine Beurteilung des FA (Arbeitskräfteüberlassung) in Frage stellen würde.

Anlässlich eines Telefonats am teilt der Masseverwalter mit, dass er von dem hg anhängigen Beschwerdeverfahren keine Kenntnis besitze. Er teilte die Rechtsansicht des BFG, dass nunmehr er als Masseverwalter im Insolvenzverfahren des ***4*** Beschwerdepartei ist.

II. Das Bundesfinanzgericht hat erwogen:

1. Rechtsgrundlagen

Unionsrecht

Art 12 Abs 1 VO 883/2004 lautet

Eine Person, die in einem Mitgliedstaat für Rechnung eines Arbeitgebers, der gewöhnlich dort tätig ist, eine Beschäftigung ausübt und die von diesem Arbeitgeber in einen anderen Mitgliedstaat entsandt wird, um dort eine Arbeit für dessen Rechnung auszuführen, unterliegt weiterhin den Rechtsvorschriften des ersten Mitgliedstaats, sofern die voraussichtliche Dauer dieser Arbeit 24 Monate nicht überschreitet und diese Person nicht eine andere entsandte Person ablöst.

inländisches Recht

§ 142 UGB regelt den Übergang des Gesellschaftsvermögens und lautet:

(1) Verbleibt nur noch ein Gesellschafter, so erlischt die Gesellschaft ohne Liquidation. Das Gesellschaftsvermögen geht im Weg der Gesamtrechtsnachfolge auf diesen über.

(2) Der ausscheidende Gesellschafter ist in sinngemäßer Anwendung der §§ 137 und 138 abzufinden.

Gemäß § 19 Abs 1 BAO gehen bei Gesamtrechtsnachfolge die sich aus Abgabenvorschriften ergebenden Rechte und Pflichten des Rechtsvorgängers auf den Rechtsnachfolger über. Für den Umfang der Inanspruchnahme des Rechtsnachfolgers gelten die Bestimmungen des bürgerlichen Rechtes.

§ 99 EStG 1988 regelt den Steuerabzug in besonderen Fällen und lautete in der für den Streitzeitraum geltenden Fassung auszugsweise:

Die Einkommensteuer beschränkt Steuerpflichtiger wird durch Steuerabzug erhoben (Abzugsteuer):

Z 5: Bei Einkünften aus im Inland ausgeübter kaufmännischer oder technischer Beratung und bei Einkünften aus der Gestellung von Arbeitskräften zur inländischen Arbeitsausübung.

§ 201 BAO lautet auszugsweise:

(1) Ordnen die Abgabenvorschriften die Selbstberechnung einer Abgabe durch den Abgabepflichtigen an oder gestatten sie dies, so kann nach Maßgabe des Abs. 2 und muss nach Maßgabe des Abs. 3 auf Antrag des Abgabepflichtigen oder von Amts wegen eine erstmalige Festsetzung der Abgabe mit Abgabenbescheid erfolgen, wenn der Abgabepflichtige, obwohl er dazu verpflichtet ist, keinen selbst berechneten Betrag der Abgabenbehörde bekannt gibt oder wenn sich die bekanntgegebene Selbstberechnung als nicht richtig erweist.

(2) Die Festsetzung kann erfolgen,

3. wenn kein selbstberechneter Betrag bekannt gegeben wird oder wenn bei sinngemäßer Anwendung des § 303 die Voraussetzungen für eine Wiederaufnahme des Verfahrens vorliegen würden,

§ 100 EStG 1988 lautete in der für den Streitzeitraum geltenden Fassung auszugsweise:

(1) Die Abzugsteuer gemäß § 99 beträgt 20%, …

(2) Schuldner der Abzugsteuer ist der Empfänger der Einkünfte gemäß § 99 Abs. 1. Der Schuldner dieser Einkünfte (…) haftet für die Einbehaltung und Abfuhr der Steuerabzugsbeträge im Sinne des § 99.

(3) Dem Empfänger der Einkünfte ist die Abzugsteuer ausnahmsweise vorzuschreiben, wenn

1. der Schuldner die geschuldeten Beträge nicht vorschriftsmäßig gekürzt hat oder

2. der Empfänger weiß, daß der Schuldner (in den Fällen des § 99 Abs. 3 die zum Steuerabzug zugelassene Person) die einbehaltene Abzugsteuer nicht vorschriftsmäßig abgeführt hat, und dies dem Finanzamt nicht unverzüglich mitteilt.

(4) Der Steuerabzug ist vom Schuldner vorzunehmen,

1. bei Einkünften im Sinne des § 99 Abs. 1 Z 1, 3, 4, 5 und 7 in jenem Zeitpunkt, in dem sie dem Empfänger zufließen, …

§ 7 BAO lautet:

(1) Personen, die nach Abgabenvorschriften für eine Abgabe haften, werden durch Geltendmachung dieser Haftung (§ 224 Abs. 1) zu Gesamtschuldnern.

(2)Persönliche Haftungen (Abs. 1) erstrecken sich auch auf Nebenansprüche (§ 3 Abs. 1 und 2).

§ 224 BAO lautet auszugsweise:

(1) Die in Abgabenvorschriften geregelten persönlichen Haftungen werden durch Erlassung von Haftungsbescheiden geltend gemacht. In diesen ist der Haftungspflichtige unter Hinweis auf die gesetzliche Vorschrift, die seine Haftungspflicht begründet, aufzufordern, die Abgabenschuld, für die er haftet, binnen einer Frist von einem Monat zu entrichten.

(2) Die Bestimmungen des Einkommensteuerrechtes über die Geltendmachung der Haftung für Steuerabzugsbeträge bleiben unberührt.

§ 20 BAO - Ermessen - ordnet an.

Entscheidungen, die die Abgabenbehörden nach ihrem Ermessen zu treffen haben (Ermessensentscheidungen), müssen sich in den Grenzen halten, die das Gesetz dem Ermessen zieht. Innerhalb dieser Grenzen sind Ermessensentscheidungen nach Billigkeit und Zweckmäßigkeit unter Berücksichtigung aller in Betracht kommenden Umstände zu treffen.

§ 206 Bundesabgabenordnung (BAO) lautet auszugsweise:

(1) Die Abgabenbehörde kann von der Festsetzung von Abgaben ganz oder teilweise Abstand nehmen,

b) soweit im Einzelfall auf Grund der der Abgabenbehörde zur Verfügung stehenden Unterlagen und der durchgeführten Erhebungen mit Bestimmtheit anzunehmen ist, dass der Abgabenanspruch gegenüber dem Abgabenschuldner nicht durchsetzbar sein wird;

c) wenn in einer Mehrheit von gleichgelagerten Fällen der behördliche Verwaltungsaufwand außer Verhältnis zur Höhe der festzusetzenden Abgabe steht.

2. Rechtliche Beurteilung

2.1. Zu Spruchpunkt I.

Bescheidbeschwerde und Vorlageantrag wurden form- und fristgerecht erhoben. Die Beschwerde ist überdies berechtigt (geworden).

Der Streit besteht darüber, ob zwischen der vormaligen Beschwerdeführerin der OG und zwei näher bezeichneten polnischen Unternehmen Werkleistungsverträge vorlagen oder eine ausländische Arbeitskräfteüberlassung erfolgte. An Beweismitteln wurde die von der Prüferin erstellte und als ON7 von der belangten Behörde vorgelegte "Aufstellung Arbeitskräftegestellung" über insgesamt elf polnische Arbeitnehmer, für die eine sog A1-Bescheinidugng ausgestellt worden war sowie exemplarisch zwei Eingangsrechnungen vorgelegt. In der Beschwerde wurde ausgeführt, dass aufgrund sprachlicher Barrieren der wahre wirtschaftliche Gehalt des Sachverhalts nicht zweifelsfrei aus den Rechnungstexten abgeleitet werden könnte.

Gesamtrechtsnachfolge, Partei

Das Firmenvermögen der ***1*** OG ist im Wege der Gesamtrechtsnachfolge gemäß § 142 UGB auf deren letzten Gesellschafter ***4*** übergegangen. Aufgrund der in leg.cit. angeordneten Rechtsfolge "erlischt die Gesellschaft ohne Liquidation" ist die ***1*** OG seit TT.05.2021 rechtlich nicht mehr existent und an ihre Stelle als Gesamtrechtsnachfolger gleichzeitig ***4*** getreten.

Gemäß § 19 BAO wäre im gegenständlichen Beschwerdeverfahren grundsätzlich ***4*** als Gesamtrechtsnachfolger Partei (§ 78 BAO). Da über das Vermögen des ***4*** das Konkursverfahren eröffnet wurde, kommt die Parteistellung dem Masseverwalter ***8*** zu, der als Masseverwalter im Insolvenzverfahren des Gemeinschuldners ***4*** Parteistellung besitzt, Bescheidadressat iSd BAO und Empfänger iSd Zustellgesetzes ist.

Bei Gesamtrechtsnachfolge gehen die sich aus Abgabenvorschriften ergebenden Rechte und Pflichten des Rechtsvorgängers auf den Rechtsnachfolger über. Für den Umfang der Inanspruchnahme des Rechtsnachfolgers gelten die Bestimmungen des bürgerlichen Rechtes. Gemäß § 142 UGB sind sämtliche betrieblichen Verbindlichkeiten der OG auf das Einzelunternehmen des ***4*** übergegangen und damit auch die mit gegenständlich angefochtenem Haftungsbescheid geltend gemachte abgabenrechtliche Haftungsschuld. Die Gesamtrechtsnachfolge umfasst Abgabenschulden und Haftungsschulden gleichermaßen.

Die belangte Behörde hat in ihrer Stellungnahme vom keine Bedenken gegen die vom BFG zum § 142 UGB dargelegte Rechtsansicht eingewandt.

Wiederaufnahmesituation

Ob eine selbstberechnete Abzugssteuer von der Gesellschaft zuvor bekanntgegeben worden war, wurde mit dem angefochtenen Bescheid nicht festgestellt. Nach den Ausführungen in der Niederschrift zur Prüfung vom 15.09.20215 lag eine Wiederaufnahmesituation vor, weshalb die Haftungsinanspruchnahme mit einer Ermessenübung zu Gunsten der Zweckmäßigkeit begründet wurde. Die Niederschrift über die Prüfung (BFG RemA ON5) führt keine Beweismittel ins Treffen, aufgrund derer eine abweichende Festsetzung nach § 201 Abs 2 Z 3 BAO zulässig ist. Verwiesen wird auf die nachfolgenden Berichtsausführungen, denen ebenfalls keine konkreten Sachverhaltsfeststellungen aufgrund konkreter Beweise entnommen werden können.

Der angefochtene Haftungsbescheid enthält keine Feststellung zu einer Wiederaufnahmesituation und verweist in Bezug auf Wiederaufnahmsgründe nicht auf die Niederschrift über die Prüfung mitsamt zugehörigem Anhang, sodass diese nicht Teil der Bescheidbegründung geworden ist.

Werkverträge oder Bautagebücher wurden weder im Haftungsbescheid selbst noch in der Niederschrift über die Prüfung noch im Prüfbericht, der Anhang der Niederschrift über die Prüfung ist, angeführt.

Der angefochtene Haftungsbescheid bezeichnet das neu hervorgekommene Beweismittel bzw die neuen Tatsachen nicht.

Weder die Bescheidbeschwerde noch der Vorlageantrag sind auf diese widersprüchliche Aktenlage eingegangen.

Anders als in Abgabenverfahren, die nach § 303 BAO wiederaufgenommen werden, ergeht iZm Selbstbemessungsabgaben kein gesonderter die Wiederaufnahme verfügender Bescheid (Wiederaufnahmebescheid), mit dem die Erlassung des neuen Sachbescheides zu verbinden ist, sondern die Wiederaufnahmesituation ergibt sich bei Festsetzungen von Selbstbemessungsabgaben gemäß § 202 iVm § 201 Abs 2 Z 3 BAO aus den Feststellungen, die im Haftungsbescheid zu treffen sind.

§ 201 Abs 2 Z 3 BAO regelt zwei Fallvarianten. Der erste Fall gilt für die unterbliebene Bekanntgabe der Selbstbemessungsabgabe, sodass für die erstmalige Festsetzung durch die Abgabenbehörde keine vergleichbare Wiederaufnahmesituation vorliegen kann. Eine die Wiederaufnahme begründende Ermessensentscheidung ist demnach nicht erforderlich. Der zweite Fall gilt für eine unvollständige und unrichtige Bekanntgabe der Selbstbemessungsabgabe, sodass eine vergleichbare Wiederaufnahmesituation vorliegt und die Erlassung des Haftungsbescheides eine entsprechende Ermessensentscheidung erfordert. Nur für den zweiten Fall bedarf es der Anführung des neuen Beweismittels oder Beschreibung der festgestellten neuen Tatsachen.

Laut Bundesfinanzgerichts ist die Unterlassung der Darlegung der maßgeblichen Tatsachen oder Beweismittel in einem nach § 202 Abs 1 BAO iVm § 201 Abs 2 Z 3 BAO ergangenen Bescheid im Rechtsmittelverfahren nicht sanierbar (zB , ; zu § 303 BAO zB , , 93/14/0187 , 0188). Das Bundesfinanzgericht hält die vom Verwaltungsgerichtshof in ständiger Rechtsprechung entwickelten Grundsätze für auf §§ 201 Abs 2 Z 3, 202 BAO übertragbar. Eine diesbezügliche Rechtsprechung des VwGH fehlt nach wie vor.

Nach der Stellungnahme der belangten Behörde wurde erst iZm Beschwerdeerledigung zur Vorlage der Werkverträge aufgefordert.

Sollte im Beschwerdefall eine Wiederaufnahmesituation vorliegen, so wäre bereits aus diesem Grund die Aufhebung des angefochtenen Bescheides zu verfügen, weil das Nachholen oder Austauchen eines Wiederaufnahmegrundes, konkret die Werkverträge und Bautagebücher, im Rechtsmittelverfahren unzulässig ist.

Art 12 VO 883/2004, Formular A1 (E1)

Zu der mit der Beschwerdevorentscheidung getroffenen Feststellung, dass die A1-Bescheinigung lückenlos vorgelegt worden seien, wozu mit der Rechtsmittelvorlage als ON7 eine Aufstellung Arbeitskräftegestellung vorgelegt wurde, ist zu sagen, dass die A1-Bescheinigung kein geeignetes Beweismittel ist, um die Dienstleistungen Werkleistungsvertrag und Arbeitsüberlassungsvertrag voneinander abzugrenzen. Für beide Fälle bestand die unionsrechtliche Verpflichtung, für die entsendeten Arbeitnehmer A1-Bescheinigungen auszustellen, wenn gewollt war, dass der Herkunftsstaat der polnischen Arbeitnehmer für die gesetzliche Sozialversicherung weiterhin zuständig bleiben soll.

Die A1-Bescheinigung garantiert bei Vorliegen der übrigen Voraussetzungen, dass Arbeitnehmer oder selbstständig Erwerbstätige, die eine Tätigkeit in einem anderen Mitgliedsstaat verrichten, weiterhin dem Sozialversicherungssystem des Entsendestaates (Herkunftsstaates) unterliegen. Alle Dienstnehmer, die ihrer Tätigkeit im Ausland nachgehen, müssen aufgrund der EU-Verordnungen VO 883/2004 sowie VO 987/2009 eine A1-Bescheinigung mit sich führen. Diese Verordnungen sind auch für kurze Dienstreisen ins EU/EWE/CH-Ausland anzuwenden sind, also auch dann, wenn noch keine Entsendung im arbeitsrechtlichen Sinn vorliegt. Im Sozialversicherungsrecht wird zwischen Entsendung und Dienstreise nicht differenziert.

Sowohl die grenzüberschreitende vorübergehende Erbringung einer Werkleistung als auch die grenzüberschreitende vorübergehende Arbeitskräfteüberlassung ist aus der Sicht des Arbeitgebers mit Sitz in einem anderen Mitgliedstaat die Ausübung der Dienstleistungsfreiheit. Aus der Sicht des aus dem anderen Mitgliedstaat stammenden Arbeitnehmer macht es für das Erfordernis der Ausstellung einer A1-Bescheinigung keinen Unterschied, ob der die Arbeitnehmerfreizügigkeit ausübende Arbeitnehmer für Zwecke der SV-Koordinierung als entsendeter Arbeitnehmer iRe Werkvertrages seines Arbeitgebers oder iRe einer Arbeitskräfteüberlassung im anderen Mitgliedstaat tätig wird.

A1-Bescheinigung sind keine tauglichen Beweismittel, dass von einer grenzüberschreitenden Arbeitskräftegestellung auszugehen ist.

Uneinbringlichkeit des Abgabenrückstandes

Maßnahmen nach § 206 liegen im Ermessen der für die Abgabenfestsetzung zuständigen Abgabenbehörde bzw der Verwaltungsgerichte (Ritz/Koran, BAO, 7. Aufl. (2021), § 206 Tz 1 nwN, Fettschreibung durch BFG). § 206 Abs 1 betrifft nur die Festsetzung von Abgaben und gilt daher nicht zB für die Erlassung von Haftungsbescheiden (Tanzer in Althuber/Tanzer/Unger, BAO-HB, § 206, 566; Ellinger/Sutter/Urtz, BAO3, § 206 Anm 3). Da die Erlassung von Haftungsbescheiden im Ermessen liegt, können allerdings die Gründe des § 206 bei der Ermessensübung berücksichtigt werden. Daher wird zB die Erlassung eines Haftungsbescheides dann nicht zweckmäßig (iSd § 20) sein, wenn die Abgabe beim Haftungspflichtigen mit Bestimmtheit uneinbringlich wäre (Ritz, ÖStZ 1991, 98) (Ritz/Koran, aaO, § 206 Tz 7 nwN).

§ 206 Abs 1 (vor allem dessen lit c) dient dem Grundsatz der Sparsamkeit der Verwaltung (somit der Verwirklichung des zB im Art 126b Abs 5 B-VG geforderten Grundsatzes der Sparsamkeit, Wirtschaftlichkeit und Zweckmäßigkeit der Vollziehung), somit der Verwaltungsökonomie (Ritz, ÖStZ 1996, 227; Ritz, AFS 2017, 43; RV/7104233/2019) (Ritz/Koran, aaO, § 206 Tz 8 nwN).

Die Haftung nach §§ 99, 100 EStG 1988 ist eine persönliche Haftung. Persönliche Haftungen werden durch Haftungsbescheid geltend gemacht. Der Haftungsbescheid wirkt insoweit konstitutiv, als erst durch seine Erlassung der Haftende zum Gesamtschuldner wird. Werden Haftungsbescheide erst nach Inanspruchnahme des Erstschuldners erlassen, was der Regelfall sein sollte, so setzt die Inanspruchnahme nicht die Rechtskraft (im formellen Sinn) des an den Erstschuldner gerichteten Abgaben- bzw Haftungsbescheides voraus ( 86/14/0095). Die Erlassung von Haftungsbescheiden liegt im Ermessen (Ritz/Koran, aaO, § 224 Tz 3,4,5,7 nwN).

Ermessensbestimmungen räumen - im Unterschied zu gebundenen Entscheidungen - der Behörde bei Verwirklichung gesetzlich vorgesehener Rechtsfolgen innerhalb der gesetzlichen Grenzen einen Entscheidungsspielraum ein. Die maßgebenden Kriterien für die Übung des Ermessens ergeben sich primär aus der Ermessen einräumenden Bestimmung. Ausdrücklich sind sie in der betreffenden Bestimmung nur ausnahmsweise genannt .... IdR sind sie lediglich erschließbar aus dem Zweck der Norm. Die im § 20 erwähnten Ermessenskriterien der Billigkeit und Zweckmäßigkeit sind grundsätzlich und subsidiär zu beachten (vgl zB Stoll, BAO, 207). Zu berücksichtigen ist auch der Grundsatz der gleichmäßigen Behandlung (vgl Werndl in Hofer-Zeni-FS, 275); siehe auch § 114 Rz 1 ff.Unter Billigkeit versteht die ständige Rechtsprechung die "Angemessenheit in bezug auf berechtigte Interessen der Partei", unter Zweckmäßigkeit das öffentliche Interesse, insbesondere an der Einbringung der Abgaben" (Ritz/Koran, aaO § 20, III. Kriterien Rz 1, 6, 7).

Die ***1*** OG, die Adressat des gegenständlich angefochtenen Haftungsbescheides ist, ist aufgrund der in § 142 UGB angeordneten Rechtsfolge rechtlich nicht mehr existent und ist nicht weiter Rechtssubjekt. An ihre Stelle ist die natürliche Person ***4*** getreten. Die Frage der Einbringlichkeit der gegenständlich Haftungsschuld ist daher nicht aufgrund der Verhältnisse bei der ***1*** OG zu beantworten.

***7*** wurde nicht als persönlich haftende Gesellschafterin herangezogen und ist folglich nicht Partei dieses Beschwerdeverfahrens. Die Frage der Einbringlichkeit der gegenständlich Haftungsschuld ist daher auch nicht aufgrund der Verhältnisse bei ***7*** zu beantworten.

Die Frage der (Un)Einbringlichkeit der gegenständlichen Haftungsschuld ist somit ausschließlich unter Berücksichtigung der wirtschaftlichen und finanziellen Verhältnisse des ***4*** zu beantworten.

Sinn und Zweck jeder abgabenrechtlichen persönlichen Haftung ist die Besicherung eines Abgabenanspruches.

Haftung für Abzugssteuern ist eine persönliche Haftung, die mit Haftungsbescheid gegenüber der rechtlich untergegangenen ***1*** OG geltend gemacht wurde. Dass im Beschwerdefall die Erstschuldner (die polnischen Empfänger der Einkünfte aus ausländischer Arbeitskräfteüberlassung) nicht in Anspruch genommen wurden, steht der Haftungsinanspruchnahme der OG nicht entgegen. Die §§ 99, 100 EStG 1988 schränken die persönliche Haftung nach §§ 7, 224 BAO nicht ein, sondern ergänzen diese. Auch für die im Haftungsweg vorgeschriebene Abzugssteuer nach § 99 Abs 1 Z 5 EStG 1988 sind die Grundsätze der Verwaltungsökonomie und des Ermessens zu beachten.

Ein langer Zeitabstand zwischen dem Entstehen der Abgabenschuld oder dem Hervorkommen der Uneinbringlichkeit der Abgaben bei der Primärschuldnerin einerseits und der bescheidmäßigen Inanspruchnahme zur Haftung anderseits ist ein Umstand, den die Abgabenbehörde bei der Inanspruchnahme zur Haftung im Sinne des Ermessens nicht außer Betracht lassen darf. Ein solcher Umstand kann jedoch auch lediglich einer von mehreren Gesichtspunkten sein, die im Rahmen des Ermessens zu berücksichtigen sind. Inwieweit dieser Gesichtspunkt beim Ermessen Berücksichtigung findet, hängt vom Einzelfall ab. Eine Ermessensüberschreitung oder ein Ermessensmissbrauch läge dann vor, wenn ein solcher Umstand bei der Ermessensentscheidung überhaupt nicht berücksichtigt würde (vgl , mwN).

Die für die Abgabenfestsetzung der Gesellschaft zuständige Stelle der belangten Behörde hat die Gesamtrechtsnachfolge des ***4*** bis zum Zeitpunkt des Anschreibens durch das BFG nicht beachtet. Der entsprechende Gesellschaftsvertrag wurde am TT. Mai 2021 schriftlich vor einem Notar geschlossen und beide Gesellschafter handelten im eigenen Namen. Der Konkurs über das Vermögen des ***4*** wurde erst anschließend eröffnet; das Schuldenregulierungsverfahren über die ***7*** wurde erst am TT.02.2023 eröffnet. Der Gesellschaftsvertrag ist zivilrechtlich nicht zu beanstanden. Die Vollstreckung gegen die Gesellschaft wurde nach der Stellungnahme der belangten Behörde COVID-bedingt verschleppt.

Da bei beiden Eheleuten Uneinbringlichkeit vorliegt, stößt der Gesellschaftsvertrag auch aus der Sicht eines Fremdvergleichs beim BFG auf keine Bedenken.

Im Insolvenzverfahren des ***4*** wurde seitens der belangten Behörde bislang nur dessen Einkommensteuerrückstand iHv EUR 10.179,69 angemeldet und bereits diesen hat die belangte Behörde in ihrer Stellungnahme nach derzeitigem Stand als uneinbringlich bezeichnet. Ebenso äußerste sich der Masseverwalter anlässlich eines Anrufes des BFG am (Beweis: Aktenvermerk), der bereits anlässlich der Konkurseröffnung Masseunzulänglichkeit angezeigt hat, woran bis dato keine Änderung eingetreten ist.

Darüber hinaus ist die ungesicherte Beweislage zu berücksichtigen. Da sich die belangte Behörde bisher mit den Werkverträgen nicht auseinandergesetzt hat und die A1-Bescheinigungen in Verkennung der Rechtslage als Beweismittel für die Annahme von Arbeitskräfteüberlassungsverträgen herangezogen hat, müsste im Beschwerdeverfahren das gesamte Beweisverfahren nachgeholt werden. Dies in Verbindung mit einer derzeit vorliegenden Uneinbringlichkeit der Abzugssteuern 2011 und 2012 beim nachgefolgten Gemeinschuldner stünde nicht in Einklang mit dem Grundsatz der Verwaltungsökonomie. Sowohl die belangte Behörde als auch der Masseverwalter haben die Uneinbringlichkeit bestätigt.

Das Ermessen des § 20 BAO ist nach dem zuvor Gesagten dahin zu üben, dass die Voraussetzungen für die Haftungsinanspruchnahme des ***8*** als Masseverwalter im Insolvenzverfahren des Gemeinschuldners ***4*** nicht vorliegen, weil bei diesem die Haftungsbeträge nicht einbringlich sind.

Bemerkt wird, dass Begünstigungsentscheidungen bei Vorliegen der gesetzlichen Voraussetzungen widerrufbar sind (§ 294 BAO).

2.2. Zu Spruchpunkt II. (Revision)

Gegen ein Erkenntnis des Bundesfinanzgerichtes ist die Revision zulässig, wenn sie von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt, insbesondere weil das Erkenntnis von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes abweicht, eine solche Rechtsprechung fehlt oder die zu lösende Rechtsfrage in der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes nicht einheitlich beantwortet wird.

Die ordentliche Revision ist im vorliegenden Fall nicht zulässig, da keine Rechtsfrage in obigem Rechtssinn aufgeworfen wurde.

Wien, am

Zusatzinformationen


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Materie
Steuer
betroffene Normen
§ 100 Abs. 2 EStG 1988, Einkommensteuergesetz 1988, BGBl. Nr. 400/1988
§ 142 UGB, Unternehmensgesetzbuch, dRGBl. S 219/1897
Art. 12 Abs. 1 VO 883/2004, ABl. Nr. L 166 vom S. 1
§ 206 BAO, Bundesabgabenordnung, BGBl. Nr. 194/1961
§ 20 BAO, Bundesabgabenordnung, BGBl. Nr. 194/1961
§ 99 Abs. 1 Z 5 EStG 1988, Einkommensteuergesetz 1988, BGBl. Nr. 400/1988
§ 100 EStG 1988, Einkommensteuergesetz 1988, BGBl. Nr. 400/1988
§ 224 BAO, Bundesabgabenordnung, BGBl. Nr. 194/1961
§ 19 Abs. 1 BAO, Bundesabgabenordnung, BGBl. Nr. 194/1961
§ 99 EStG 1988, Einkommensteuergesetz 1988, BGBl. Nr. 400/1988
§ 201 BAO, Bundesabgabenordnung, BGBl. Nr. 194/1961
§ 7 BAO, Bundesabgabenordnung, BGBl. Nr. 194/1961
Verweise






-G/08
ECLI
ECLI:AT:BFG:2024:RV.7104062.2016

Datenquelle: Findok — https://findok.bmf.gv.at