"Neue Selbständige" - fehlende Mitwirkungspflicht
Entscheidungstext
IM NAMEN DER REPUBLIK
Das Bundesfinanzgericht hat durch die Richterin Mag. Cornelia Pretis-Pösinger in der Beschwerdesache ***Bf1***, ***Bf1-Adr***, über die Beschwerde vom gegen den Bescheid des Finanzamtes Österreich vom betreffend Familienbeihilfe (Differenzzahlung) für das Kind ***1***, geb. ***2***, für den Zeitraum 05/2018 - 08/2020, Steuernummer ***BF1StNr1*** zu Recht erkannt:
I. Die Beschwerde wird gemäß § 279 BAO als unbegründet abgewiesen.
II. Gegen dieses Erkenntnis ist eine ordentliche Revision an den Verwaltungsgerichtshof nach Art. 133 Abs. 4 Bundes-Verfassungsgesetz (B-VG) nicht zulässig.
Entscheidungsgründe
I. Verfahrensgang
Die Beschwerdeführerin (Bf.), rumänische Staatsbürgerin, beantragte am die Familienbeihilfe ab 05/2018 für ihr minderjähriges Kind ***1***, geb. ***2***, rumänische Staatsbürgerin. Sie sei aus Rumänien zugezogen. Die Bf. legte dem Antrag nachfolgende Kopien bei:
Anmeldebescheinigung (Selbständige) gemäß dem Niederlassungs- und Aufenthaltsgesetz (NAG), datiert mit
Rumänische Heiratsurkunde, datiert mit
Rumänischen Pass ihres Kindes ***1***
Schulbesuchsbestätigung für ***1*** vom der Volksschule 8 (1. Klasse C vom - )
(undatiertes) Übergabeblatt Sprachentwicklung Pfarrkindergarten ***3***
Daten des vorschulischen Bildungsverlaufs für ***1*** vom Amt der Ktn. Landesregierung (Besuch des Pfarrkindergartens ***3*** 2020/21 - 10,5 Monate, 2021/22 - 10,5 Monate)
Rumänische Geburtsurkunde von ***1***
Personalausweis der Bf. (rumänisch - gültig von - )
Personalausweis des Gatten der Bf., ***4*** (rumänisch - gültig von - )
Dt. Übersetzung des Beschlusses der Agentur für Zahlungen und soziale Kontrolle ***5*** betreffend Einstellung der Zahlung des staatlichen Kindergeldes vom
("Art. 1: Die Einstellung der Zahlung des Rechtes staatliches Kindergeld in Höhe von 2243 Lei an Frau ***Bf1***…
Art. 2: Die Zahlungsaussetzung …..erfolgt ab dem .,
Art. 3: Die Zahlungsaussetzung ist durch Einstellung auf Antrag - die Familie hat ihren Wohnsitz in Österreich - begründet")
Das Finanzamt (FA) forderte die Bf. mit Vorhalt vom auf, den Beschäftigungsnachweis des Kindesvaters (KV) ab Mai 2018, ihren Einkommensnachweis und jenen des KV ab 2018, Bestätigungen über geleistete Sozialversicherungsbeiträge ab Mai 2018, ärztliche Bestätigungen über regelmäßige Untersuchungen des Kindes ab Mai 2018, den Impfpass des Kindes, einen Mietvertrag, die EU-Anmeldebescheinigung für das Kind vorzulegen.
Im Antwortschreiben vom gab die Bf. bekannt, dass der KV seit Mai 2018 nicht gearbeitet habe und beim Kind zuhause gewesen sei. Weiters teilte sie mit, dass das Kind keine EU-Anmeldebescheinigung "habe".
Die Bf. legte den mit datierten Mietvertrag für eine Wohnung in ***6*** bei. Als Mieter scheinen die Bf. und ihr Gatte auf, wobei eine bislang (österreichische) Adresse der Bf. und des Gatten dem Mietvertrag nicht zu entnehmen ist. Neben der Telefonnummer und der E-Mail-Adresse des Gatten ist als Beruf selbständiger Personentransportunternehmer angegeben.
Die Bf. legte weiters vor:
Nachweise von in Österreich erfolgten Impfungen des Kindes, datiert mit , , 15.12.(vermutlich: 20), , , , ,
Nachweise von in Rumänien durchgeführten Impfungen vom , , ,Patientenblätter für ***1*** mit Untersuchungen und Verordnungen in Österreich für den Zeitraum von bis
Kontenübersichten der Sozialversicherungsanstalt der Selbständigen ***25*** (SVS) aus 2018, 2019, 2020, 2021, 2022 und 2023. Die Bf. hat Unfall- und Krankenversicherungsbeiträge entrichtet.
Einkommensteuerbescheide 2017, 2018 (antragslose Arbeitnehmerveranlagung) samt Buchungsmitteilung
Meldebestätigung der Erwerbstätigkeit von Selbständig Erwerbstätigen des Amtes für Wirtschaft und Arbeit Zürich. Die Bf. war von - in der ***7*** Kontaktbar in ***8*** als Selbständige Masseuse tätig.
Bestätigungen der ***9*** KG, ***6*** vom und ***10*** GmbH vom das "Frau ***Bf1*** …..im Nachtclub ***11*** als selbständige Erwerbstätige bzw. selbständige Prostituierte tätig ist und lt. eigenen Angaben monatlich € 1.200,00 verdient".
Der Mitteilung über den Bezug der Familienbeihilfe vom ist zu entnehmen, dass die Bf. Anspruch auf Familienbeihilfe für den Zeitraum 09/2020 - 09/2025 für das Kind ***1*** hat.
Mit Bescheid vom wies das FA den Antrag auf Familienbeihilfe vom für den Zeitraum 05/2018 - 08/2020 ab. Begründend wurde darauf verwiesen, dass nicht nachgewiesen wurde, dass sich Tochter ***1*** nach § 5 Abs. 3 FLAG 1967 ständig in Österreich aufgehalten habe.
Dagegen erhob die Bf. mit Beschwerde; begründend wurde ausgeführt, dass ihre Tochter seit bei ihr und ihrem Gatten in ***6*** lebe. Bewiesen sei dies mit einer Kopie des Meldezettels. Da ***1*** 2019/2020 noch Windeln getragen habe, sei sie deshalb nicht in den Kindergarten aufgenommen worden.
Der Beschwerde beigelegt wurde ein Auszug aus dem Zentralen Melderegister. Daraus ist ersichtlich, dass ***1*** seit mit ihrem Hauptwohnsitz in ***6*** gemeldet war. Weiters ein Schreiben der Abteilung Bildung Kindergärten der Stadt ***6***. Daraus geht hervor, dass das Kind zum Besuch des Kindergartens vorgemerkt wurde, aber die Eltern in der Zeit von 01.04. - nachzufragen hätten, ob ein Platz für das Kind zur Verfügung stehe. Beigelegte Honorarnoten von Kinderärzten belegen, dass ***1*** am , , , , , und in ärztlicher Behandlung gewesen sei.
Das FA forderte die Bf. in einem weiteren Ersuchen vom auf, eine EWR-Bescheinigung für ***1*** samt Nachweis der Antragstellung und Nachweise vorzulegen, aus denen ein Aufenthalt des Kindes ab Mai 2018 zu entnehmen sei. Weiters wurde die Bf. aufgefordert Stellung zu nehmen, warum bis Oktober 2022 rumänische Familienleistungen bezogen worden sei und seien Einkommensteuerbescheide bzw.- nachweise ab 2019 vorzulegen sowie die Finanzierung der Lebenshaltungskosten für die Familie nachzuweisen.
Der Vorhalt blieb unbeantwortet.
Mit Beschwerdevorentscheidung vom wies das FA die Beschwerde ab. Begründend wurde auf die §§ 5 Abs. 3 FLAG 1967, 115, 119 BAO und die fehlende Mitwirkungspflicht der Bf. verwiesen.
Mit langte ein als Vorlageantrag zu wertender Schriftsatz der Bf. ein. Darin gab sie bekannt, dass sie in Rumänien Kindergeld erhalten habe. Sie wolle nur die "Differenz zu Rumänien" erhalten. Sie habe einen Monat auf eine Antwort aus Rumänien gewartet, diese aber nicht erhalten. Die Bf. legte o.a. Unterlagen erneut vor und ergänzte sie um
2 in rumänischer Sprache abgefasste (nicht übersetzte) Schreiben
Befundbericht Klinikum ***6*** vom (ambulanter Aufenthalt)
Anmeldebescheinigung vom für ***1***;
Unterschriftsbeglaubigung Notar ***12*** vom samt in rumänischer Sprache handschriftlichen Vermerk vom ;
Flugtickets der Familie von ***6*** nach London vom und von Wien nach Palma Mallorca vom ;
E-Mailverkehr ***13***) vom an ***14***: Anfrage um Kindergartenplatz für ein 3-jähriges Kind.
Antwort ***14***: Verweis auf Krabbelgruppenplatz, da die Tochter noch nicht 3 Jahre alt sei.
Das FA legte die Beschwerde mit Vorlagebericht vom dem Bundesfinanzgericht vor. Beantragt wurde die Abweisung der Beschwerde.
Das Bundesfinanzgericht tätigte Abfragen in den Datenbanken der Finanzverwaltung sowie im Zentralen Melderegister.
II. Das Bundesfinanzgericht hat erwogen:
1. Sachverhalt
Mit Antrag vom stellte die Bf. den Antrag auf Gewährung der Familienbeihilfe. Im Vorlageantrag vom änderte sie ihren Antrag insoweit, als nur mehr die Gewährung der Differenzzahlung für den Zeitraum 05/2018 - 08/2020 beantragt wurde.
Die Bf., ihr Gatte, ***4*** und das gemeinsame Kind ***1***, geb. ***2***, sind rumänische Staatsbürger.
Die Bf. ist mit ihrem Hauptwohnsitz von - in ***15*** (***16***), von bis in der ***17*** und seit in der ***18***, jeweils in ***6*** gemeldet. Als Nebenwohnsitze sind im Zentralen Melderegister von - ***19*** (Unterkunftgeber ***20*** GmbH) und von - in ***21*** (Unterkunftgeber ***22*** KG) ausgewiesen.
Das Kind ***1*** ist hauptwohnsitzmäßig seit in der ***17*** und ab in der ***18*** jeweils ***6*** gemeldet.
***4*** ist von - in ***15*** (***16***), von - und seit in ***6*** mit seinem Hauptwohnsitz gemeldet. Von - ist im Zentralen Melderegister der "Verzug in Nicht-EU-Raum" angemerkt.
Der Mietvertrag für die ***18*** wurde am zwischen der Bf. ihrem Gatten und den Vermietern abgeschlossen.
Aus den Bestätigungen der ***9*** KG vom und der ***10*** vom geht hervor, dass die Bf. als selbständige Erwerbstätige bzw. selbständige Masseuse/selbständige Prostituierte tätig war.
Von - war der Einsatzort der Bf. die ***7*** Kontaktbar in der Schweiz. Der Entscheid vom des Amtes für Wirtschaft und Arbeit Zürich ist an die Bf. per Adresse ***23*** Rumänien gerichtet.
Die Bf. gab die Höhe der Einkünfte aus der selbständigen Erwerbstätigkeit für den Zeitraum 05/2018 - 08/2020 nicht bekannt.
Die Anmeldebescheinigung für die Bf. ("Selbständige") ist mit datiert.
Die Bf. ist seit (bis laufend) freiwillig bei der SVS versichert.
Laut Einkommensteuerbescheid (antragslose Arbeitnehmerveranlagung) 2018 vom betrugen die Einkünfte der Bf. aus nichtselbständiger Arbeit bei der ***9*** KG für den Zeitraum - € 424,40. Weitere Einkünfte für 2018 scheinen nicht auf bzw. wurden von der Bf. idF nicht erklärt.
Für die Jahre 2019 und 2020 erfolgten keine Einkommensteuerveranlagungen. Meldungen von Beschäftigungsverhältnissen oder Erklärungen gewerblicher Einkünfte der Bf. in Österreich liegen nicht vor. Von - ist die Bf. beim AMS als arbeitssuchend gemeldet. Arbeitslosengeld wurde nicht bezogen.
Die Bf. bezog bis 11/2022 Familienleistungen für ihre Tochter ***1*** von der Agentur für Zahlungen und Soziale Kontrolle ***5***, Rumänien.
Der Kindesvater (KV) ist sozialversicherungsrechtlich und steuerrechtlich in Österreich nicht erfasst. Entsprechende Daten aus Rumänien liegen nicht vor.
Als Beruf des KV ist im Mietvertrag vom Selbständiger Personentransportunternehmer angegeben.
Das Kind wurde in Österreich an folgenden Tagen geimpft: , , , , , , ;
Patientenblätter für ***1*** liegen für den Zeitraum - vor;
Honorarnoten von österreichischen Kinderärzten sind mit , , , , , , datiert; ein ambulanter Klinikaufenthalt des Kindes war am .
Der vorschulische Bildungsverlauf (Kindergarten) des Kindes ist seit dem Kindergartenjahr 2020/21 dokumentiert.
Unterlagen/Nachweise, wo das Kind ***1*** von 05/2018 - 08/2020 tatsächlich aufhältig war, wurden von der Bf. nicht vorgelegt.
Die Lebenshaltungskosten für die Familie wurden für den strittigen Zeitraum nicht nachgewiesen.
Zum Vorhalt, warum bis 10/2022 Familienleistungen in Rumänien bezogen wurden, hat sich die Bf. nicht erklärt.
2. Beweiswürdigung
Die getroffenen Feststellungen ergeben sich aus der elektronischen Aktenlage und den Datenbanken der Finanzverwaltung, dem AJ-WEG Auskunftsverfahren sowie aus dem Zentralen Melderegister.
Dass die Bf. in Österreich (aber auch in der Schweiz) als selbständige Erwerbstätige (selbständige Masseuse bzw. Prostituierte) tätig war, versucht sie anhand der angeführten Bestätigungen der ***9*** KG, der ***10*** GmbH zu belegen. Aber aufgrund der undifferenzierten Bestätigungen und der fehlenden Angaben durch die Bf. ist ihre selbständige Erwerbstätigkeit in Österreich weder zeitlich noch finanziell dezidiert belegt. Somit ist die Ausübung der selbständigen Erwerbstätigkeit der Bf. in zeitlicher und finanzieller Hinsicht keineswegs erwiesen.
Da die Bf. - trotz mehrfacher Aufforderung - keinerlei Angaben über ihre selbständige Erwerbstätigkeit in zeitlicher und einkommensmäßiger Hinsicht für den strittigen Zeitraum in Österreich getätigt hat, fehlen grundlegende Unterlagen für die rechtliche Beurteilung der Sachlage. Die Anmeldebescheinigung gem. dem NAG ("Selbständige") wurde für die Bf. erst mit ausgestellt.
Steuerlich und sozialversicherungsrechtlich sind Einkünfte aus einer selbständigen Erwerbstätigkeit der Bf. für den strittigen Zeitraum nicht erfasst.
Nachweislich war die Bf. bei der SVS sozialversicherungsrechtlich von 05/2018 - 08/2018 vollversichert; ab 09/2018 ist die Bf. freiwillig versichert.
Von der Bf. wurden angeforderte Unterlagen wie Beschäftigungsnachweise des KV ab 05/2018 bzw. Einkommensnachweise des KV nicht erbracht.
Faktische Nachweise (z.B. ärztliche Untersuchungen) für den Aufenthalt des Kindes in Österreich oder in Rumänien wurden für den strittigen Zeitraum nicht erbracht. Die Anmeldebescheinigung für das Kind ist mit datiert. Die polizeiliche Anmeldung des Hauptwohnsitzes für das Kind in Österreich ist mit datiert.
Dass der KV im Zeitraum 05/2018 - 08/2020 in Österreich nicht aufhältig war, ist aufgrund fehlender faktischer, sozialversicherungsrechtlicher, einkommensteuerrechtlicher und hauptwohnsitzmäßiger (Anm. vom - Verzug in den Nicht-EU-Raum) Nachweise als erwiesen anzusehen. Ein Nachweis, dass der KV in Rumänien aufhältig war, wurde von der Bf. nicht erbracht.
Laut Auskunft ELISA Rumänien, der IT-Anwendung des Dachverbandes der Sozialversicherungsträger, gab die Familie den Wohnsitzwechsel nach Österreich erst mit Wirkung vom bekannt. Die Aussetzung der rumänischen Familienleistungen erfolgte durch den KV erst mit . Rumänische Familienleistungen wurden somit bis 11/2022 bezogen.
3. Rechtliche Beurteilung
3.1. Zu Spruchpunkt I. (Abweisung)
Die Freizügigkeit von Personen stellt eine der Grundfreiheiten der Europäischen Union dar. Unionsrechtlich sind die Familienleistungen, zu denen auch die österreichische Familienbeihilfe zählt, dem Bereich der sozialen Sicherheit zugeordnet.
Nach § 53 Abs. 1 FLAG 1967 sind Staatsbürger von Vertragsparteien des Übereinkommens über den Europäischen Wirtschaftsraum (EWR), soweit es sich aus dem genannten Übereinkommen ergibt, in diesem Bundesgesetz österreichischen Staatsbürgern gleichgestellt. Hierbei ist der ständige Aufenthalt eines Kindes in einem Staat des Europäischen Wirtschaftsraums nach Maßgabe der gemeinschaftsrechtlichen Bestimmungen dem ständigen Aufenthalt eines Kindes in Österreich gleichzuhalten.
Im Beschwerdefall sind daher nicht nur die innerstaatlichen Bestimmungen des FLAG - wie es das FA unrichtigerweise im Abweisungsbescheid zum Ausdruck brachte - zu beachten, sondern sind vielmehr die Verordnungen (EG) Nr. 883/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit, in der Folge als VO (EG) Nr. 883/2004 bezeichnet, und (EG) Nr. 987/2009 vom zur Festlegung der Modalitäten für die Durchführung der VO (EG) Nr. 883/2004, die beide ab in Kraft traten, anzuwenden. Diese haben allgemeine Geltung, sind in allen ihren Teilen verbindlich und gelten unmittelbar in jedem Mitgliedstaat ("Durchgriffswirkung"). Die Verordnungen gehen dem nationalen Recht in ihrer Anwendung vor ("Anwendungsvorrang des Gemeinschaftsrechts").
Die VO ist nur auf grenzüberschreitende Sachverhalte anzuwenden. Dies trifft dann zu, wenn ein Unionsbürger von seinem Freizügigkeitsrecht Gebrauch macht und in einem anderen Staat einer Erwerbstätigkeit nachgeht oder nachgegangen ist sowie dafür Leistungen erhält.
Auszüge aus VO 883/2004:
Art. 1. Für die Zwecke dieser Verordnung bezeichnet der Ausdruck:
a) "Beschäftigung" jede Tätigkeit oder gleichgestellte Situation, die für die Zwecke der Rechtsvorschriften der sozialen Sicherheit des Mitgliedstaates, in dem die Tätigkeit ausgeübt wird oder die gleichgestellte Situation vorliegt, als solche gilt;
b) "selbständige Erwerbstätigkeit" jede Tätigkeit oder gleichgestellte Situation, die für die Zwecke der Rechtsvorschriften der sozialen Sicherheit des Mitgliedstaats, in dem die Tätigkeit ausgeübt oder die gleichgestellte Situation vorliegt, als solche gilt;..
Selbständig erwerbstätig sind demnach alle Personen, die eine selbständige Tätigkeit in der Land- und Forstwirtschaft, als Gewerbetreibender, als "neuer Selbständiger", als Freiberufler oder als freiberuflich tätiger Künstler ausüben.
Für das Vorliegen einer selbständigen Erwerbstätigkeit ist es erforderlich, dass eine k o n k r e t e Tätigkeit ausgeübt wird.
Artikel 11
Allgemeine Regelung
(1) Personen, für die diese Verordnung gilt, unterliegen den Rechtsvorschriften nur eines Mitgliedstaats. Welche Rechtsvorschriften dies sind, bestimmt sich nach diesem Titel.
(2) Für die Zwecke dieses Titels wird bei Personen, die aufgrund oder infolge ihrer Beschäftigung oder selbstständigen Erwerbstätigkeit eine Geldleistung beziehen, davon ausgegangen, dass sie diese Beschäftigung oder Tätigkeit ausüben. Dies gilt nicht für Invaliditäts-, Alters- oder Hinterbliebenenrenten oder für Renten bei Arbeitsunfällen oder Berufskrankheiten oder für Geldleistungen bei Krankheit, die eine Behandlung von unbegrenzter Dauer abdecken.
(3) Vorbehaltlich der Artikel 12 bis 16 gilt Folgendes:
a) eine Person, die in einem Mitgliedstaat eine Beschäftigung oder selbstständige Erwerbstätigkeit ausübt, unterliegt den Rechtsvorschriften dieses Mitgliedstaats…
b)……
Nach Art. 67 VO 883/2004 hat eine Person auch für Familienangehörige, die in einem anderen Mitgliedstaat wohnen, Anspruch auf Familienleistungen nach den Rechtsvorschriften des zuständigen Mitgliedstaats, als ob die Familienangehörigen in diesem Mitgliedstaat wohnen würden.
Art. 68 VO 883/2004 lautet:
Artikel 68
Prioritätsregeln bei Zusammentreffen von Ansprüchen
(1) Sind für denselben Zeitraum und für dieselben Familienangehörigen Leistungen nach den Rechtsvorschriften mehrerer Mitgliedstaaten zu gewähren, so gelten folgende Prioritätsregeln:
a) Sind Leistungen von mehreren Mitgliedstaaten aus unterschiedlichen Gründen zu gewähren, so gilt folgende Rangfolge: an erster Stelle stehen die durch eine Beschäftigung oder eine selbstständige Erwerbstätigkeit ausgelösten Ansprüche, darauf folgen die durch den Bezug einer Rente ausgelösten Ansprüche und schließlich die durch den Wohnort ausgelösten Ansprüche.
b) Sind Leistungen von mehreren Mitgliedstaaten aus denselben Gründen zu gewähren, so richtet sich die Rangfolge nach den folgenden subsidiären Kriterien:
i) bei Ansprüchen, die durch eine Beschäftigung oder eine selbstständige Erwerbstätigkeit ausgelöst werden: der Wohnort der Kinder, unter der Voraussetzung, dass dort eine solche Tätigkeit ausgeübt wird, und subsidiär gegebenenfalls die nach den widerstreitenden Rechtsvorschriften zu gewährende höchste Leistung. Im letztgenannten Fall werden die Kosten für die Leistungen nach in der Durchführungsverordnung festgelegten Kriterien aufgeteilt;…
Die Familienbeihilfe wird, abgesehen von hier nicht in Betracht kommenden Fällen, nur auf Antrag gewährt (§ 10 Abs. 1 FLAG 1967).
Zur Feststellung des Vorliegens der Anspruchsvoraussetzungen sind u.a. auch die Bestimmungen der Bundesabgabenordnung heranzuziehen.
Dem Beschwerdefall liegt der Antrag der Bf. auf Gewährung der Familienbeihilfe für das Kind ***1*** für 05/2018 - 08/2020 zu Grunde. Der Antrag wurde im Vorlageantrag eingeschränkt auf die Differenzzahlung; die Bf. will nur die Differenz zu dem aus Rumänien erhaltenen Geld erhalten".
Damit materiell - rechtlich die Anspruchsvoraussetzungen gewürdigt werden können, ist es erforderlich, dass der Sachverhalt geklärt ist.
Zwar haben die Abgabenbehörden nach § 115 Abs 1 BAO die abgabepflichtigen Fälle zu erforschen und von Amts wegen die tatsächlichen und rechtlichen Verhältnisse zu ermitteln, die für die Abgabepflicht und die Erhebung der Abgaben wesentlich sind.
Diese Verpflichtung der Behörde zur Ermittlung der materiellen Wahrheit entbindet aber die Abgabepflichtigen aber keineswegs von der sie treffenden Mitwirkungspflicht.
Nach Lehre und Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes tritt bei Begünstigungstatbeständen die Amtswegigkeit der Sachverhaltsermittlung gegenüber der Offenlegungspflicht des Begünstigungswerbers in den Hintergrund; der Begünstigungswerber hat die Umstände darzulegen, auf die die abgabenrechtliche Begünstigung gestützt werden kann (; , 90/14/0100; , 90/13/0160; , 93/13/0237, 0238; , 96/13/0110; , 98/16/0325, 0326, 0327; , 99/16/0100; Ellinger-Iro-Kramer-Sutter-Urtz, BAO, 1. Band, Tz 10ff zu § 115)
Die Pflicht zur amtswegigen Ermittlung des entscheidungswesentlichen Sachverhalts findet dort ihre Grenze, wo nach Lage des Falles nur die Partei Angaben zum Sachverhalt machen kann (; , 94/13/0099).
Nach § 167 Abs 2 BAO hat die Abgabenbehörde unter sorgfältiger Berücksichtigung der Ergebnisse des Abgabenverfahrens nach freier Überzeugung zu beurteilen, ob eine Tatsache als erwiesen anzunehmen ist oder nicht. In den Fällen, in denen die Behörde in Ausübung der freien Beweiswürdigung zu ihrer Erledigung gelangt, obliegt dem Verwaltungsgerichtshof die Prüfung, ob die Tatsachenfeststellungen auf aktenwidrigen Annahmen oder auf logisch unhaltbaren Schlüssen beruhen oder in einem mangelhaften Verfahren zu Stande gekommen sind. Tritt der Abgabepflichtige in der Lebenserfahrung widersprechende Beziehungen ein, muss er von Anbeginn dafür sorgen, dass er der Abgabenbehörde diese Beziehungen im Bedarfsfall vollständig aufhellen und dokumentieren kann (, ).
Auch bei Auslandssachverhalten - wie dem vorliegenden - besteht eine erhöhte Mitwirkungspflicht der Partei. Wenn Sachverhaltselemente im Ausland im Allgemeinen ihre Wurzeln haben, ist die Mitwirkungs- und Offenlegungspflicht der Partei in dem Maße höher, weil die Pflicht der Abgabenbehörde zur amtswegigen Erforschung des Sachverhaltes wegen des Fehlens der ihr sonst zu Gebote stehenden Ermittlungsmöglichkeiten geringer wird. Tritt in solchen Fällen die Mitwirkungspflicht des Abgabepflichtigen in den Vordergrund, so liegt es vornehmlich an ihm, Beweise für die Aufhellung auslandsbezogener Sachverhaltselemente zu schaffen.
Die bei Auslandssachverhaltselementen wegen der Einschränkung der Ermittlungsmöglichkeiten der Abgabenbehörde erhöhte Mitwirkungspflicht der Abgabepflichtigen führt dazu, dass die Abgabepflichtige mit der Verletzung der erhöhten Mitwirkungspflicht verbundene Nachteile zu tragen hat.
Im Beschwerdefall handelt es sich sowohl um eine Begünstigungsbestimmung als auch um einen Sachverhalt mit Auslandsbezug, der aufklärungsbedürftig ist. Somit ist jedenfalls von einer erhöhten Mitwirkungspflicht der Bf. auszugehen.
Die von der Bf. vorgelegten Unterlagen - Anmeldebescheinigung vom , Heiratsurkunde vom , Schulbesuchsbestätigung vom , Sprachentwicklungsblatt, Daten zum vorschulischen Bildungsverlauf, Einstellung der Zahlung des rumänischen Kindergeldes vom , Impfpasskopien, Patientenblatt, Kontenübersichten SVS 2021 - 2023, Einkommensteuerbescheid 2017, ärztliche Honorarnoten vom , , Befundbericht ***24*** vom , Anmeldebescheinigung für ***1*** vom , Notarrechnungen vom - betreffen nicht den strittigen Zeitraum und sind somit für die Beschwerde irrelevant.
Die Unterlagen - Mietvertrag vom , Kontenblätter SVS 2018 - 2020, Einkommensteuerbescheid 2018, Bestätigung der ***9*** KG vom und ***10*** GmbH vom , Meldebestätigung für ***1*** ab , in rumänischer Sprache gehaltene Schreiben (2 Blatt), Schreiben Kindergarten, Flugtickets vom , E-Mail-Verkehr vom , mit ***14*** (Bildungsland ***25***) - betreffen zwar den Streitzeitraum, sind aber nicht geeignet konkret die selbständige Erwerbstätigkeit der Bf. in Österreich nachzuweisen. Konkrete Angaben über die Dauer der selbständigen Erwerbstätigkeit bzw. des daraus erzielten Einkommens in Österreich hat die Bf. trotz mehrfacher Aufforderung nicht bekannt gegeben.
Für 2019 und 2020 wurde die Bf. nicht veranlagt. Im Übrigen zeigt sich aus dem Entscheid des Amtes für Wirtschaft und Arbeit, Zürich, dass die Bf. im strittigen Zeitraum nicht nur in Österreich sondern auch außerhalb Österreichs selbständig erwerbstätig war.
Die Kontenübersichten der SVS belegen, dass sich die Bf. freiwillig versichert hat, geben aber keinerlei Hinweis auf eine konkrete Ausübung der Erwerbstätigkeit der Bf. in Österreich.
Dem Einkommensteuerbescheid 2018 sind lediglich Einkünfte aus nichtselbständiger Arbeit in Höhe von € 424,40 für den Zeitraum - erfasst.
Von der Bf. wurde - trotz mehrfacher Aufforderung - nicht dargelegt, wie die Lebenshaltungskosten der Familie finanziert wurden.
Bemerkenswert ist auch der Umstand, dass die Bf. zum Vorhalt "warum bis Oktober 2022 Familienleistungen in Rumänien bezogen wurden", habe sich doch das Kind lt. Bf. in Österreich aufgehalten, nicht Stellung genommen hat.
Der von der Bf. und dem Gatten am als Mieter abgeschlossene Mietvertrag, der erstaunlicherweise keinerlei bisherige Wohnsitzdaten der Bf. und des Gatten enthält, trägt ebenso nichts zur Aufklärung hinsichtlich einer konkret ausgeübten selbständigen Erwerbstätigkeit bei.
Dem von der Bf. vorgelegten ZMR-Auszug ist zwar zu entnehmen, dass das Kind seit mit dem Hauptwohnsitz in Österreich gemeldet war. Polizeiliche Ab- und Anmeldungen iSd MeldeG haben allenfalls eine Indizwirkung. Für den Beschwerdefall kann daraus aber nichts gewonnen werden. Zudem kommt dem Vorbringen der Bf., wonach der "KV seit Mai 2018 immer zu Hause beim Kind gewesen sei" keinerlei Bedeutung zu. Ergibt sich doch aus dem Zentralen Melderegister, dass ***4*** vom - in den Nicht-EU-Raum verzogen war.
Ebenso irrelevant für die Beschwerde sind die vorliegenden Flugtickets sowie die E-Mails hinsichtlich eines möglichen Kindergartenbesuchs. Wurde dadurch doch eine selbständige Erwerbstätigkeit der Bf. in Österreich nicht nachgewiesen.
Zusammenfassend ist festzuhalten, dass die Bf. ihrer Mitwirkungspflicht im Sinne der abgabenrechtlichen Bestimmungen nicht nachgekommen ist, sodass sie den von ihr behaupteten Anspruch auf Familienbeihilfe schon mangels Darlegung der tatsächlichen Verhältnisse nicht erfolgreich geltend machen kann.
Es war daher spruchgemäß zu entscheiden.
3.2. Zu Spruchpunkt II. (Revision)
Gegen ein Erkenntnis des Bundesfinanzgerichtes ist die Revision zulässig, wenn sie von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt, insbesondere weil das Erkenntnis von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes abweicht, eine solche Rechtsprechung fehlt oder die zu lösende Rechtsfrage in der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes nicht einheitlich beantwortet wird.
Mit dem gegenständlichen Erkenntnis wurde nicht über eine Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung entschieden. Feststellungen auf der Sachverhaltsebene betreffen keine Rechtsfragen und sind grundsätzlich keiner Revision zugängig.
Klagenfurt am Wörthersee, am
Zusatzinformationen
Tabelle in neuem Fenster öffnen
Materie | Steuer FLAG |
betroffene Normen | § 279 BAO, Bundesabgabenordnung, BGBl. Nr. 194/1961 Art. 133 Abs. 4 B-VG, Bundes-Verfassungsgesetz, BGBl. Nr. 1/1930 § 5 Abs. 3 FLAG 1967, Familienlastenausgleichsgesetz 1967, BGBl. Nr. 376/1967 § 53 Abs. 1 FLAG 1967, Familienlastenausgleichsgesetz 1967, BGBl. Nr. 376/1967 VO 883/2004, ABl. Nr. L 166 vom S. 1 Art. 67 VO 883/2004, ABl. Nr. L 166 vom S. 1 Art. 68 VO 883/2004, ABl. Nr. L 166 vom S. 1 § 10 Abs. 1 FLAG 1967, Familienlastenausgleichsgesetz 1967, BGBl. Nr. 376/1967 § 115 Abs. 1 BAO, Bundesabgabenordnung, BGBl. Nr. 194/1961 § 167 Abs. 2 BAO, Bundesabgabenordnung, BGBl. Nr. 194/1961 MeldeG, Meldegesetz 1991, BGBl. Nr. 9/1992 § 17a VfGG, Verfassungsgerichtshofgesetz 1953, BGBl. Nr. 85/1953 § 24a VwGG, Verwaltungsgerichtshofgesetz 1985, BGBl. Nr. 10/1985 |
Verweise | |
ECLI | ECLI:AT:BFG:2024:RV.4100272.2023 |
Datenquelle: Findok — https://findok.bmf.gv.at