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Bescheidbeschwerde – Einzel – Erkenntnis, BFG vom 23.11.2023, RV/7102484/2019

Einschätzungsverordnung bei Selbsterhaltungs(un)fähigkeit nicht anwendbar

Rechtssätze


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Stammrechtssätze
RV/7102484/2019-RS1
Die Einschätzungsverordnung (EVO) hat immer die Feststellung eines Grades der Behinderung zum Ziel. § 8 Abs 5 FLAG 1967 sieht ausdrücklich vor, dass für die zweite Alternative des § 8 Abs 5 FLAG (Selbsterhaltungs(un)fähigkeit) ein Grad der Behinderung nicht festzustellen ist. Auf die gebotene Trennung der beiden alternativen Fälle eines erheblich behinderten Kindes iSd § 8 Abs 5 FLAG weist der Verwaltungsgerichtshof in ständiger Rechtsprechung hin. „… [D]ie Beantwortung der Frage, ob ein Kind voraussichtlich dauernd außer Stande ist, sich selbst den Unterhalt zu verschaffen, [ist] nicht anhand des Grades der Behinderung zu beurteilen …“ ().

Entscheidungstext

IM NAMEN DER REPUBLIK

Das Bundesfinanzgericht hat durch die Richterin Silvia Gebhart in der Beschwerdesache ***Bf1***, ***Bf1-Adr***, vertreten durch ***6***, über die Beschwerde vom gegen den Bescheid des Finanzamtes Waldviertel vom , nunmehr Finanzamt Österreich, betreffend Abweisung des Antrag auf Gewährung des Grund- und Erhöhunsbetrages vom wegen nicht erreichter Selbsterhaltungsfähigkeit ab Juli 2018 (Familienbeihilfe 07.2018-05.2019 ), SVNr xxxx xxxxxx, zu Recht erkannt:

I. Der Beschwerde wird gemäß § 279 BAO Folge gegeben. Der angefochtene Bescheid wird aufgehoben.

II. Die belangte Behörde hat dem Antrag stattzugeben und eine entsprechende Mitteilung nach § 12 FLAG 1967 zu erlassen sowie die Auszahlung der Familienbeihilfenbeiträge mitsamt Kinderabsetzbetrag vorzunehmen.

III. Gegen dieses Erkenntnis ist eine ordentliche Revision an den Verwaltungsgerichtshof nach Art. 133 Abs. 4 Bundes-Verfassungsgesetz (B-VG) nicht zulässig.

Entscheidungsgründe

I. Verfahrensgang

Der volljährige Beschwerdeführer (Bf) beantragte durch seine als Erwachsenenvertreterin bestellte Schwester ***6*** die Gewährung der erhöhten Familienbeihilfe mit den amtlichen Formularen Beih1 und Beih3. Es wurde angegeben, dass der Bf Pflegegeld beziehe. Die Erwachsenenvertreterin wurde ihrerseits bei den Rechtsmitteln von einem Mitarbeiter der Caritas St. Pölten, Arbeitsassistenz (Herr ***), unterstützt, der nach außen nicht rechtswirksam in Erscheinung trat. Aufgrund des Antrages wurde der Bf an das Bundessozialamt zur Begutachtung verwiesen.

1. Sachverständigengutachten (mit Untersuchung) nach der Einschätzverordnung vom

Nach dem von der belangten Behörde beim Bundessozialamt (BSA) bzw Sozialministeriumsservice in Auftrag gegebenen Sachverständigengutachten und die Bescheinigung vom (ON7) war "eine Einschätzung des Leidensgrades und der Dauer des Leidenszustandes nicht möglich, da keine einschlägigen bzw schlüssigen Befunde vorliegen. Im Rahmen der klinischen Untersuchung ist das Ausmaß der außenanamnstisch (offenbar: außenanamnestisch) bestehenden Einschränkungen der kognitiven Fähigkeiten aufgrund der Sprachbarriere nicht feststellbar." Der Bf sei nicht voraussichtlich außerstande, sich selbst den Unterhalt zu verschaffen. Aus dem zuvor genannten Grund konnte über die Erwerbsfähigkeit ebenfalls keine verlässliche Aussage getroffen werden.

Mit dem angefochtenen Bescheid wurde der Antrag des Bf als unbegründet abgewiesen, wogegen mit Schriftsatz vom form- und fristgerecht Bescheidbeschwerde erhoben wurde.

Bescheidbeschwerde vom (ON1)

Die Beschwerde rügt, dass sich der begutachtende Arzt Dr ***1*** mit den Ausführungen, es lägen "keine einschlägigen bzw schlüssigen Befunden" vor, begnügt habe. Dadurch leide das Gutachten an Unschlüssigkeit und Unvollständigkeit, die das BSA zu beseitigen verpflichtet gewesen sei. Weiters hätte der Gutachter aufgrund der Anamnese sehen müssen, dass der Bf beeinträchtigt sei. Das Vorbringen der Schwester, der Bf habe in der Hauptschule drei Jahre lang dieselbe Stufe besucht (Anm BFG: zwei Jahre davon außerhalb der gesetzlichen Schulpflicht) und sei in vielen Fächern (Anm BFG: vor allem in den sog Hauptgegenständen und den bedeutenden Nebenfächern) nicht beurteilt worden, sei nicht berücksichtigt worden. Das Fehlen von Befunden aus der Vergangenheit wird mit einem Brand des Elternhauses in der Türkei begründet, dem alle Unterlagen des Bf zum Opfer gefallen seien. Der Bf habe sich von 2010 bis Mitte 2018 in der Türkei aufgehalten, um die Schwester zu entlasten. Die Schwester hat nach dem Brand ihren Bruder wieder bei sich in Österreich aufgenommen und sich bemüht, Kopien von alten Befunden zu organisieren, so den Befund des KH ***3*** aus dem Jahr 1992, mit welchem dem damals 15 Jahre alten Bf, der vom FA für Neurologie aufgrund Auffälligkeiten in der Motorik bzw einer Störung des Kurzzeitgedächtnisses an die do Abteilung zugewiesen worden war, Debilitas und ein hirnorganisches Psychosyndrom festgestellt wurde.

Bis 2010 habe der Bf darüber hinaus bereits die erhöhte Familienbeihilfe infolge einer im Kleinkindalter erlittenen Meningitis bezogen, die eine Intelligenzminderung zur Folge hatte. Wegen des Brandes seien auch diesbezügliche Unterlagen verloren gegangen. Das Finanzamt Waldviertel habe der Schwester die Herausgabe dieser Unterlagen aus "datenschutzrechtlichen Gründen" verweigert.

Aufgrund der Intelligenzminderung, die nachweislich seit der Kindheit bestünde (Befund aus 1992, Schulstammkarte), habe der Bf nie gearbeitet und sei immer von den Eltern bzw aktuell von seiner Schwester versorgt worden. Er sei auch nicht in der Lage, bloße Hilfstätigkeiten zu verrichten. Die Fähigkeit, sich selbst den Unterhalt zu verschaffen, sei beim Bf nicht vor seinem 21. LJ eingetreten und bestünden nach wie vor nicht. Diese Tatsache sei als erwiesen anzusehen, weil der Bf in der Vergangenheit die erhöhte Familienbeihilfe als Erwachsener wegen der Intelligenzminderung bezogen hat. Ohne medizinisches Fachwissen zu haben, könne nach allgemeiner Lebenserfahrung gesagt werden, dass eine Intelligenzminderung nicht heilbar sei. Diese medizinische Fragestellung sollte in einem Sachverständigengutachten erörtert werden.

Zur Verdeutlichung, wie es um den Bf stehe, wurden beispielhaft folgende Tätigkeiten, die der Bf nicht alleine durchführen kann, aufgezählt:

  1. Körperpflege (benötigt Erinnerung)

  2. Kochen (konnte aufgrund des Geisteszustandes nie erlernt werden)

  3. Einkaufen (nicht allein möglich, weil kein Verständnis für Geld und Zahlen)

  4. Reinigung der Wohnung

  5. Wäsche waschen

  6. Wahrnehmung von Behördenwegen etc

Mit der Beschwerde wurden vorgelegt:

1. Befund des KH ***3*** vom

2. Befund von ***2*** vom

3. Schulstammkarte

4. Leistungsnachweis der neuen Mittelschule (Schuljahre 1990/91 bis 1992/93)

Gestellt wurden die Anträge (soweit relevant)

I. Aufhebung des Abweisungsbescheides vom ,

II. Einholung eines Sachverständigengutachtens und

III. …;

IV. in eventu Aufhebung des Abweisungsbescheides vom und Zurückverweisung an die zuständige Behörde zur neuerlichen Entscheidung.

2. Sachverständigengutachten aufgrund der Aktenlage nach der Einschätzverordnung vom (ON8)

Mit diesem kam das BSA zu demselben Ergebnis wie das Vorgutachten und stellte einen Grad der Behinderung nicht fest. Zur Selbsterhaltungsfähigkeit wurde folgende Anmerkung angebracht:

"Lt. den vorgelegten Unterlagen wurde 2/1992 eine stationäre Untersuchung bei Auffälligkeiten in der Motorik und des Kurzzeitgedächtnisses durchgeführt. Es wurde darauf hingewiesen, dass aufgrund der Sprech- und Sprachschwierigkeiten eine Anamnese schwer erhebbar war. Damals wurde die Diagnose Debilitas und hirnorganisches Psychosyndrom gestellt.

Anm.: Debilitas ist ein heute nicht mehr verwendeter Begriff für eine Intelligenzminderung in leichter Ausprägung, was per se nicht zu einer Selbsterhaltungsunfähigkeit führen muss. Andere Befunde, die den Zustand näher spezifizieren liegen nicht vor. (psychologische Testung unter Berücksichtigung der Fremdsprachigkeit).

Nach den Unterlagen ist anzunehmen, dass eine kognitive Leistungseinschränkung seit Kindheit/Jugend vorlag. Es kann nach den Befunden aber nicht eindeutig davon ausgegangen werden, dass dies in einem Ausmass vorgelegen hat, dass daraus eine dauernde Selbsterhaltungsunfähigkeit vor dem 18/21. LJ resultiert hätte."

Dieses Gutachten wurde von der belangten Behörde NICHT für die Erledigung der Beschwerde herangezogen. Dem vorgelegten Verwaltungsakt liegt das weitere Sachverständigengutachten vom ein, auf das sich die Beschwerdevorentscheidung stützt.

3. Sachverständigengutachten aufgrund der Aktenlage nach der Einschätzverordnung vom (ON10)

Nach Wiedergabe des vorangegangenen Begutachtungsgeschehen wurde darin festgehalten, dass der Bf am zur nervenfachärztlichen Untersuchung im BASB Landesstelle NÖ bezüglich Ausstellung eines Behindertenpasses war. Deswegen werde das gegenständliche FLAG-Gutachten auf Basis dieser Untersuchung aktenmäßig erledigt.

EINSCHUB: BBG-Sachverständigengutachten vom (ON9)

Unter Anamnese wurde festgehalten:

"aktenmäßiges VGA : hirnorganisches Psychosyndrom, frühkindlicher Hirnschaden mit Intelligenzdefizit GdB 100%

aktuell: Antrag auf Ausstellung eines Behindertenpasses

Die Schwester berichtet, dass der Bruder in der Kindheit in der Türkei ca. mit 2 l/2a schwer krank gewesen sei. Sein Kopf sei angeschwollen auf doppelte Größe. Er habe eine Infektion gehabt, keine operativen Eingriffe"

Zur derzeitigen Beschwerde gab die Schwester an:

"[Der Bf] habe mit dem Rechnen und Schreiben Probleme. Er habe Probleme im Umgang mit dem Geld, wisse nicht wie viel er zurückbekomme beim Wechselgeld. Man müsse ihm sagen was er machen müsse. Er müsse auch erinnert werden, wenn er duschen gehen solle. Sie traue sich nicht, dass er alleine herumgehe, er habe z. B. bei einem Nachbarn im Garten einen Vogel fotografieren wollen und habe das Privatgrundstück ohne fragen betreten. Er sei nicht selbstständig."

Sozialanamnese (Außenanamnese mit der Schwester):

"AW spricht türkisch. Er könne aber praktisch kein Deutsch. Man könne sich auf türkisch mit ihm unterhalten aber "nicht gescheit".
AW sei in der Türkei geboren, habe 5 [Jahre] dort die VS besucht, sei aber immer in der 1. Klasse gewesen.
1990 kam er mit den Eltern nach Österreich.
Er habe in Österreich - 1990/1991 die 8. Schulstufe (4a) und 1991/92 9. Schulstufe (4a) und 1992/93 8. Schulstufe (4a) - die Hauptschule besucht. Er sei nicht beurteilt worden. Nur im letzten Halbjahr ist er in Turnen, Zeichnen, Werken, Haushalt bewertet worden. Er konnte auch die deutsche Sprache nicht.
Er sei von 1993 bis 2007 zu Hause bei den Eltern gewesen. Die Mutter wollte nicht, dass er in eine Caritaswerkstätte komme.
Er sei bis 2007 mit den Eltern in Österreich geblieben, dann sei er mit den Eltern wieder in die Türkei gefahren.
[I]n der Türkei habe er nie gearbeitet und sei immer zu Hause bei den Eltern gewesen.
Das Haus der Eltern sei im Mai 2018 abgebrannt, auch frühere Befunde seien vernichtet worden.
7/2018 sei AW von der Schwester nach Österreich geholt worden und lebe jetzt bei seiner Schwester.
Die Schwester habe seit eine Erwachsenenvertretungsverfügung für ihn.
Er habe keine[n] Wehrdienst gemacht.
Lt. Angabe der Schwester habe er früher schon Pflegegeld gehabt und auch erhöhte Familienbeihilfe bezogen b
[e]vor er mit den Eltern wieder in die Türkei zurückging.
Er bekomme jetzt Mindestsicherung.
Pflegegeld und erhöhte Familienbeihilfe werden beantragt.
Geplant sei auch einen Platz in der Caritaswerkstätte *** zu organisieren."

An neuen Befunden wurden erfasst:

  1. "Formular unterzeichnet Dr. ***4*** FA Neurologie Stempel: 07 ? 1995: unterstrichen ist: er ist wehrdienstfähig "nicht fähig" Anm: keine Diagnose ersichtlich

  2. NÖ Pflegegeld Gutachten für Diplomsozialarbeiter : Pflegestufe 2 vorgeschlagen Anm: keine Diagnose oder Befunde angeführt

  3. Psychologischer Befund Dr. ***5*** : formale Diagnosen: F07: Persönlichkeits- Verhaltensstörung aufgrund einer Krankheit, Schädigung oder Funktionseinschränkung des Gehirns, F71 mittelgradige Intelligenzminderung, zugehörige Begriff: Imbezilität, mittelgradige Oligophrenie."

In der Stellungnahme zu gesundheitlichen Änderungen im Vergleich zum Vorgutachten wird ausgeführt:

"Im Vergleich zum aktenmäßigen VGA :
Reduktion um 5 Stufen da nun Einschätzung nach EVO"

Fortsetzung Sachverständigengutachten vom (ON10)

In der Stellungnahme zu gesundheitlichen Änderungen im Vergleich zum Vorgutachten wird ausgeführt:

"Erhöhung um 5 Stufen gegenüber dem aktenmäßigen VGA nach aktuellem psychologischen Befund"

Der GdB wird mit 50% ab März 2019 angegeben.

Zur Fähigkeit, sich selbst den Unterhalt zu verschaffen, wurde ausgeführt: "JA."

Die Unfähigkeit, sich selbst den Unterhalt zu verschaffen ist nicht vor vollendetem 18. und nicht vor vollendetem 21. Lebensjahr eingetreten.

"Anmerkung bzw. Begründung betreffend die Fähigkeit bzw. voraussichtlich dauernde Unfähigkeit, sich selbst den Unterhalt zu verschaffen: Nach der Anamnese, den vorgelegten Unterlagen sowie dem klinischen Bild ist anzunehmen, dass eine kognitive Leistungseinschränkung seit Kindheit/Jugend vorlag.

Es kann aus den Befunden aber nicht eindeutig abgeleitet werden, dass dies in einem Ausmass vorgelegen hätte, dass dies vor dem 18./21. LJ zu einer anhaltenden dauernden Selbsterhaltungsunfähigkeit geführt hätte.

Aus der im Befund aus 2/1992 als Diagnose beschriebenen Debilitas (Anm.: ein heute nicht mehr verwendeter Begriff für eine Intelligenzminderung in leichter Ausprägung), ohne nähere Ausführung der kognitiv mnestischen Leistungsbreite, ist nicht eindeutig und zwangsläufig abzuleiten, dass daraus eine Selbsterhaltungsunfähigkeit resultieren müsste.

Daher rückwirkende Anerkennung ab aktuellem psychologischen Befund."

Beschwerdevorentscheidung vom (ON5)

Mit Beschwerdevorentscheidung vom wies die belangte Behörde unter Hinweis auf das BSA-Gutachten vom die Beschwerde als unbegründet ab, weil dieses einen Grad der Behinderung in Höhe von 50% und eine dauernde Erwerbsunfähigkeit erst ab (und somit nach Vollendung des 21. Lebensjahres) festgestellt habe.

Vorlageantrag vom

Mit Vorlageantrag wurde die Vorlage der Beschwerde an das BFG form- und fristgerecht beantragt und ergänzendes Beschwerdevorbringen erstattet:

In ihrer Beschwerdevorentscheidung übergehe die belangte Behörde einige Beweise. Zum einen habe der Bf bis 2010 die erhöhte Familienbeihilfe bezogen aus demselben Grund bezogen, wie er aktuell ins Treffen geführt werde. Im Jahr war der Beschwerdeführer bereits 34 Jahre alt. Zum anderen wurde ein Befund aus dem Jahr 1992 vorgelegt, in welchem genau die Beeinträchtigungen festgestellt worden sind, welche nun auch Gegenstand dieses Verfahrens sind. Zu diesem Zeitpunkt war der Beschwerdeführer 15 Jahre alt. Weiters werde im Sachverständigengutachten des Bundesamtes für Soziales und Behindertenwesen vom sogar auf ein aktenmäßiges Vorgutachten vom verwiesen, in welchem ein hirnorganisches Psychosyndrom, sowie ein frühkindlicher Hirnschaden mit Intelligenzdefizit festgestellt worden ist. Schließlich wird gerügt, dass ein BSA-Gutachten vom (gemeint offenbar vom ) nicht übermittelt worden sei.

Gestellt wurden folgende weitere ANTRÄGE:

I. Aufhebung der Beschwerdevorentscheidung vom ,

II. Durchführung einer mündlichen Verhandlung.

Mit Vorlagebericht vom wurde die Beschwerde mitsamt zugehörigen Teilen des Verwaltungsverfahrens dem BFG elektronisch vorgelegt.

Erörterungsgespräch am (Niederschrift ON17)

Anlässlich dessen wurde der Schwester eine Ablichtung des BSA-Gutachtens vom überreicht. Ergänzend wurde vorgetragen bzw erhoben:

"Die Schriftsätze wurden von der Rechtsberatung der Caritas erstellt.

Die Richterin erläutert die ab 2014 neue Vorgangsweise bzgl Gutachten und Bescheinigung sowie die Bindungswirkung an vollständige, schlüssige und im Fall mehrerer Gutachten widerspruchsfrei Gutachten.

Gezeigt wird der Antrag Beih3, dem die Erkrankungen fehlen.

Die Lücke von 2010 bis 2018 besteht, weil der Bruder in dieser Zeit in der Türkei bei den Eltern gelebt hat. Die Betreuung wurde den Eltern zu viel, weshalb [die Schwester] ihn 2018 nach Österreich zurückgeholt hat. Aus diesem Grund gibt es für den Zeitraum 2010-2018 keine Brückenbefunde. Der Bf arbeitet in einer Caritaswerkstätte und erhält ein monatliches Taschengeld von EUR 80,00.

Der Bf hatte in der Türkei einen Brand verursacht, wobei das Elternhaus zur Gänze abgebrannt ist. Die Mitteilung über die ehemals bezogene erhFB und die SV-Gutachten sind bei dem Brand verloren gegangen.

In der Türkei war der Bf zwar in ärztlicher Behandlung, doch hat der Vater nicht darauf geachtet, Diagnosen etc schriftlich zu erhalten.

Beweismittel über den Brand werden nachgereicht. …"

Beschluss vom (ON18)

Die Niederschrift über das Erörterungsgespräch wurde der belangten Behörde mit hg Beschluss vom zur Kenntnis gebracht. Gleichzeitig wurde um Vorlage der Altakten bis 2010, betreffend Bewilligung der erhFB bis 2010, ersucht.

Beweismittelvorlage belangte Behörde

Mit Schriftsatz vom wurde ausgeführt, dass Gutachten bzw. Befunde über den Bezug der erhöhten Familienbeihilfe bis zum Jahr 2010 nicht mehr beim Finanzamt auflägen. Es könnten lediglich Aktenvermerke ab dem Jahr 1995 sowie eine Mitteilung über den Bezug der Familienbeihilfe vom aus dem Familienbeihilfeverfahren des Vaters des Bf. vorgelegt werden.

Das Finanzamt beantrage im Hinblick auf die vom Sozialministeriumservice eingeholten Gutachten weiterhin die Beschwerde als unbegründet abzuweisen.

Vorgelegte Aktenteile:

Auszüge aus dem AIS-DB7 mit folgenden Aktenvermerken:

"21 3 v ., F2, seit 9. Lebensmonat schweres IQ-Def[i]zit (Debilitas) und HOPS, Ursache unbekannt

21 3 v., AKH ***3***, § 8(5)d FLAG, Frühki[n]dlicher Cerebralschaden, Debilitus ?raus, mögl.Farbenblindheit 21

18 3 lt. Rücksprache mit Fachbereich: FB einstellen mit 10/10, bei Wiedereinreise event. 8 Monate rückfordern!

Mitteilung über den Bezug der Familienbeihilfe vom , erhFB für den Bf im Zeitraum April 1993 bis November 2010"

Beweismittelvorlage Bf

Die Beweismittel über den Brand wurden am in türkischer Sprache vorgelegt.

hg Beschluss vom

"Mit Schriftsatz vom hat die belangte Behörde Ausdrucke aus dem AISDB7:A vorgelegt, die folgende Fakten aus den Jahren 1992 und 1995 zum Gesundheitszustand des Kindes beinhalten: Laut ärztlicher Bescheinigung (21) vom des AKH ***3***, besteht beim Kind ein frühkindlicher Cerebralschaden, Debilitus ?raus, mögliche Farbenblindheit. Laut ärztlicher Bescheinigung (21) vom (F2), besteht bei dem Kind seit dem 9. Lebensmonat ein schweres IQ-Defizit (Debilitas) und HOPS, Ursache unbekannt.

Für die Krankheit des Kindes wird der Begriff "Oligophrenie" verwendet, der nach heute vertretener Fachmeinung veraltet ist und besser durch "geistige Behinderung" oder "Intelligenzminderung" ersetzt werden sollte. Oligophrenie wird (bzw wurde) verwendet, wenn Schwachsinn entweder bereits angeboren oder in frühester Kindheit erworben wurde. Debilitas wird vom BFG als Debilität verstanden, ein Begriff, der früher für eine leichte Intelligenzminderung verwendet wurde, Imbezillität wurde für eine mittlere bis schwere und Idiotie für die schwerste Form der Intelligenzminderung verwendet. Für das BFG hat besondere Bedeutung das Adjektiv "schweres IQ-Defizit". "HOPS" ist veraltet für "hirnorganisches Psychosyndrom" und wird heute bezeichnet als "akute organische Psychose". Bei Imbezillität, die mit dem Adjektiv "schweres IQ-Defizit" korrespondiert, bleibt die geistige Entwicklung auf der Stufe eines unmündigen Kindes stehen (wäre 7 Jahre laut ABGB). Betroffene Kinder und Jugendliche können im Beruf nur Teilarbeiten erlernen (Quelle: https://www.lecturio.de/lexikon/oligophrenie).

Für das Kind hat der Vater seit April 1993 (Kind 16 Jahre alt) bis November 2010 (Kind 34 Jahre alt) die erhöhte Familienbeihilfe bezogen. Aus dem Bezug über den Zeitraum einer Ausbildung hinaus ist zu schließen, dass FB und erhFB wegen Nichterlangung der Selbsterhaltungsfähigkeit gewährt wurden und entsprechende Bescheinigungen (Amtsarzt, Gemeindearzt) bzw seit der Reform BSA-Bescheinigungen vorlagen. Der Bezug wurde laut AIS-DB7:A eingestellt, weil die Eltern und das Kind Österreich verlassen haben und für längere Zeit in der Türkei gelebt haben.

Die Krankheit des Kindes ist nach dem Kenntnisstand des BFG weder heilbar noch ist der Zustand verbesserbar. Es hat die 4a der HS drei Mal besucht und wurde ohne Jahres- und Abschlusszeugnis geführt, abgesehen von den Fächern Leibesübungen, Werkerziehung, bildnerische Erziehung/Schreiben, nicht beurteilt. Das Kind konnte bis 2010 und kann aktuell selbstständig keine Arbeiten oder Tätigkeiten verrichten, weil immer jemand bei ihm dabei sein muss. Das Kind soll den Brand, bei dem das elterliche Haus in der Türkei verloren ging, verursacht haben. Das Kind wurde von der Schwester in Österreich aufgenommen, weil die Eltern aufgrund ihres Alters die Aufsicht nicht mehr geschafft haben. Es hat keinen Beruf erlernt, auch nicht in Teilbereichen, war niemals berufstätig, "arbeitet" derzeit in der Behindertenwerkstatt der Caritas für ein monatliches Taschengeld von EUR 80,00.

Das erste GA vom ist unvollständig, weil es auf die oben dargestellte Beweislage laut Verwaltungsakt zur Krankheit des Kindes nicht eingegangen ist. Der Gutachter ist als Allgemeinmediziner mit Fachgebiet Urologie nicht sachgerecht besetzt worden. Wenn Krankheitsunterlagen vernichtet werden (hier durch höhere Gewalt: Brand), kann sich ein Gutachter nicht auf die Aussage beschränken, dass Befunde nicht vorliegen. Die Krankheit des Kindes wird durch Intelligenztest erhoben, den ein Gutachter des Faches Psychiatrie und Neurologie hätte durchführen können.

Das zweite GA vom wurde von einer Ärztin für Psychiatrie und Neurologie erstellt, die zur ärztlichen Bescheinigung vom (seit dem 9. Lebensmonat schweres IQ-Defizit (Debilitas) und HOPS, Ursache unbekannt) keine Aussage treffen konnte, weil es ihr nicht vorgelegt wurde. In der Begründung wird ausgeführt, dass "eine aktuelle eindeutige Einschätzung der Funktionseinschränkungen nicht möglich ist, da kein psychopathologischer aktueller Status und auch keine neuropsychologische Testung (u.a. Bestimmung IQ unter Berücksichtigung der Fremdsprachigkeit) vorliegt. Im aktuellen vorliegenden neurologischen Befund vom wird eine sprachliche Barriere, da die Muttersprache des Patienten türkisch ist, beschrieben. Ebenso ist im VGA deswegen keine Einschätzung möglich.

Es wird aber beschrieben, dass die Gesamtmotilität und die Bewegungsabläufe nicht beeinträchtigt sind und Aufforderungen non verbaler Art nachgekommen wird. Ebenso wird im aktuellen vorliegenden neurologischen Befund ein unauffälliger neurologischer Status beschrieben."

Die Gutachterin vermisst den aktuellen Status, nicht einen früheren Status, und eine aktuelle IQ-Bestimmung unter Berücksichtigung der Fremdsprachigkeit.

Dem BFG sind Fälle bekannt, in denen BSA-Gutachter selbst solche Tests durchführen und anhand derer selbst Befund erheben. Hier ist die Vorgangsweise offenbar im SMS nicht einheitlich akkordiert. Auch das zweite Gutachten ist nach Ansicht des BFG unvollständig, weil der Ärztin der Umstand, dass FB bis zum 34. LJ bezogen wegen der Diagnose "seit dem 9. Lebensmonat schweres IQ-Defizit (Debilitas) und HOPS" bezogen wurde, als amtsbekannten Umstand nicht berücksichtigt hat.

Das GA betr Behindertenpass vom wurde von denselben Ärzten erstellt und vidiert wie das zweite GA. Neues Beweismittel ist der "Psychologische Befund Dr. ***5*** : formale Diagnosen: F07: Persönlichkeits-Verhaltensstörung aufgrund einer Krankheit, Schädigung oder Funktionseinschränkung des Gehirns, F71 mittelgradige Intelligenzminderung, zugehörige Begriff: Imbezilität, mittelgradige Oligophrenie." Festgehalten wurde ferner, dass in der Vergangenheit bereits erhFB bezogen worden war "bevor er wieder mit den Eltern in die Türkei zurückging".

Das GA betr Behindertenpass erwähnt das aktenmäßige VGA 11042006 mit folgenden medizinischen Fakten: "hirnorganisches Psychosyndrom, frühkindlicher Hirnschaden mit Intelligenzdefizit GdB 100%". Am stand das Kind kurz vor seinem 30. Geburtstag und ein Intelligenzdefizit, das einen GdB 100vH bewirkt, muss als schwerwiegend angesehen werden. Das Intelligenzdefizit muss weiters vor dem 18. und 21. LJ den Eintritt der Selbsterhaltungsfähigkeit verhindert haben, sonst hätte in dem Alter des Kindes keine erhFB ausgezahlt werden dürfen.

Zuvor dargestellte Beschreibung deckt sich inhaltlich mit dem Akteineintrag zur ärztlichen Bescheinigung vom (seit dem 9. Lebensmonat ein schweres IQ-Defizit (Debilitas) und HOPS). Das BFG sieht darin eine Brücke zwischen den Befunden aus 1995 über 2006 zu 2019, weil es sich um eine unheilbare und nicht verbesserbare Krankheit handelt.

Das dritte GA vom wurde von denselben Ärzten erstellt bzw vidiert und das neue Beweismittel aus dem Verwaltungsverfahren wg Behindertenpasses (Dr. ***5*** ) berücksichtigt. Auch das dritte Gutachten ist nach Ansicht des BFG unvollständig, weil es auf die ärztliche Bescheinigung vom (seit dem 9. Lebensmonat ein schweres IQ-Defizit (Debilitas) und HOPS) nicht eingeht und das VGA aus 2006 nicht berücksichtigt. Anders als bei der Begutachtung betr Behindertenpass wurde hier nicht der frühere Bezug der erhFB erwähnt, der durch den Wegzug in die Türkei zeitlich bestimmbar war, sodass die Gutachterin auf das Alter des Kindes (34 Jahre) schließen konnte.

Auf das GA des Dr. ***5*** kann der Eintritt des GdB per 3/2019 nicht gestützt werden, weil dieser nicht zu untersuchen hatte, wann in der Vergangenheit die Erkrankung des Kindes jenes Ausmaß erreicht hat, woraus die mangelnde Selbsterhaltungsfähigkeit mit Gewissheit anzunehmen war. Die an ihn herangetragene Fragestellung war rein zum Tag seiner Untersuchung.

Aus anderen Vergleichsfällen zu geistigen Behinderungen und Zeitpunkt des Nichteintritts der Selbsterhaltungsfähigkeit ist dem BFG bekannt, dass von den AST beauftragte Privatgutachter anhand der vorgelegten Befunde auf den zuvor genannten Zeitpunkt mithilfe ihrer Sachkenntnis aufgrund und nach Maßgabe der Beweismittel schließen, auch wenn zu diesem als erwiesenen anzusehenden Zeitpunkt kein Befund, der diesen Zeitpunkt explizit bezeichnet, vorliegt. Der BSA-Gutachter hat in jenem Beschwerdefall den vom Privatgutachter beweiswürdigend erschlossenen Zeitpunkt übernommen. Die/der ärztlich/e Gutachter/in des BSA/SMS hat diesen Zeitpunkt durch logisches, abstrahierendes und schlussfolgerndes Denken selbst zu bestimmen, wobei im Beschwerdefall von ausschlaggebender Bedeutung ist, dass das Kind an einer unheilbaren geistigen Behinderung leidet und inhaltlich übereinstimmende Krankheitsbilder aus 1995 und 2019 nachgewiesen sind.

Sämtliche drei SMS-FLAG-Gutachten (das zweite und dritte Gutachten übernehmen das VGA) geben den Befund der vom BSA-Gutachter/von der Gutachterin durchgeführten Untersuchung wieder zu: Allgemeinzustand, Ernährungszustand, Größe Gewicht Status (Kopf / Fußschema), Fachstatus Caput und Collum, Herz/Lunge/Abdomen, Motorik und Neurologie, Gesamtmobilität Bewegungsabläufe. Dieser Untersuchungen wurden im Rahmen der Begutachtung durchgeführt.

Der psychopathologische Status wurde in den drei SMS-FLAG-Gutachten mangels Befunde nicht festgestellt. "Der psychopathologische Befund fasst die Ergebnisse einer psychiatrischen Untersuchung zusammen und bildet die Grundlage für diagnostische Entscheidungen sowie therapeutische Maßnahmen. Dabei werden u.a. Bewusstsein, Orientierung, Gedächtnis, Wahrnehmung und Denken, Ich-Grenzen und Affekt beurteilt." (Quelle: https://www.amboss.com/de/wissen/psychopathologischer-befund/)

Den psychopathologischen Status hat das BSA/SMS nach Ansicht des BFG selbstständig zu erheben, weil ihm nach vorherrschender Ansicht gemäß § 8 Abs 6 FLAG die Erstellung eines eigenen Sachverständigengutachtens aufgetragen wird, das Grundlage für die Bescheinigung ist.

Sämtliche drei SMS-FLAG-Gutachten sind somit auch deshalb unvollständig, weil die psychiatrisch-neurologische Befundung nicht durchgeführt wurde und Fakten zu Gunsten des Bf nicht gewürdigt wurden (zB VGA aus 2006 trotz gleicher Arztbesetzung ab dem 2. GA). Es ist für den Rechtsunterworfenen nicht erkennbar, dass er zu einer Begutachtung beim BSA/SMS erscheinen muss, dort jedoch entgegen dem Gesetzeswortlaut keine Begutachtung erfährt (s § 8 Abs 6 FLAG 1967). Wenn vor Ort Sprachprobleme festgestellt werden, ist ein Dolmetscher beizuziehen. Im GA wegen Behindertenpasses wurde zur türkischen Sprache erhoben. "Man könne sich auf türkisch mit ihm unterhalten aber ,nicht gescheit'." Demnach beherrscht der Bf seine Muttersprache Türkisch nicht auf Erwachsenenniveau. Die drei SMS-FLAG-Gutachten sind darauf nicht eingegangen. Es wurde im Beschwerdeverfahren vorgetragen, dass der Bf bis zum 34. Lebensjahr wegen Intelligenzminderung die erhFB bezogen hat, worauf keines des GA eingegangen ist. Der Verfahrensgrundsatz des § 115 Abs 3 BAO gilt auch für die Sachverständigengutachten des § 8 Abs 6 FLAG 1967. Als amtsbekannte Umstände iS leg.cit. sind im Beschwerdefall das VGA aus 2006, die AV im AISDB7:A und die Mitteilung vom anzusehen.

Das Beschwerdeverfahren wirft die Rechtsfrage auf, wie der Begriff "ärztliches Sachverständigengutachten" in § 8 Abs 6 FLAG zu verstehen ist, ob das BSA nach dieser Bestimmung tatsächlich selbst Sachverständigengutachten zu erstellen hat oder bloß Privatgutachten kontrolliert und ggf übernimmt. Teile der Richterschaft des BFG vertreten die Ansicht, dass das BSA lediglich die Bescheinigung auszustellen habe, jedoch keine Sachverständigengutachten, sondern darauf beschränkt sei, vorgelegte Gutachten von dritter Seite zu beurteilen. Dann stellt sich die Frage, warum zwar das Abdomen abgetastet (also eine ärztliche Untersuchung durchgeführt wird), aber der IQ nicht getestet wird, und warum das BSA die von ihm ausgestellte Urkunde selbst "Sachverständigengutachten" bezeichnet, wenn es keine oder nur eine eingeschränkte Sachverständigengutachtenstätigkeit ausübt.

Das BFG wird im Beschwerdefall die Ansicht vertreten, dass das BSA nach Gesetzeswortlaut Sachverständigengutachten zu erstellen und folglich eine Sachverständigengutachtenstätigkeit (wäre hier die Testung des aktuellen IQ iVm Kenntnissen der Muttersprache) auszuüben hat, zumal es ärztliche Untersuchungen durchführt (Abdomenabtastung). Demgegenüber begreift sich das BSA offenbar als reine Kontrollinstanz medizinischer Befunde und Gutachten, die es übernimmt. Die Erstellung von unvollständigen Sachverständigengutachten wie im Beschwerdefall erfüllt nicht den Auftrag des § 8 Abs 6 FLAG und entspricht nicht den Grundsätzen einer ökonomischen und raschen Verwaltung.

Nach Ansicht des BFG liegt wegen der erwähnten amtsbekannten Umstände aus 1992, 1995, 2006 und der nicht heilbaren Imbezillität Entscheidungsreife vor."

Gegenäußerung der belangten Behörde vom

"Bezugnehmend … wird … mitgeteilt: Da das Sozialministeriumservice laut eigener Angaben auf Verfahren/Gutachten aus dem Jahr 2006 keinen Zugriff mehr hat, kann das angeforderte Gutachten vom nicht vorgelegt werden (siehe E-Mail-Verkehr im Anhang). Zur Begründung der beantragten Abweisung der Beschwerde: Eine geistige oder körperliche Behinderung iSd § 2 Abs 1 lit c bzw. § 6 Abs 2 lit d FLAG 1967 kann durchaus die Folge einer Krankheit sein, die schon seit längerem vorliegt (bei angeborenen Krankheiten oder genetischen Anomalien etwa seit Geburt), sich jedoch erst zu einem späteren Zeitpunkt manifestiert. Maßgebend ist aber der Zeitpunkt, zu dem Behinderungen (als Folge der allenfalls schon länger bestehenden Krankheit) jenes Ausmaß erreichen, das eine Erwerbsunfähigkeit bewirkt (vgl. Ra 2018/16/0022, Ra 2014/16/0010). Dieser Zeitpunkt wurde im Letztgutachten vom mit dem Monat März 2019 festgestellt.

Bei der Antwort auf die Frage, ob eine körperliche oder geistige Behinderung, die zur Unfähigkeit, sich selbst den Unterhalt zu verschaffen, führt, vor Vollendung des 21. Lebensjahres oder allenfalls während einer Berufsausbildung vor Vollendung des 25. Lebensjahres eingetreten ist, sind die Abgabenbehörden und das Bundesfinanzgericht gemäß § 8 Abs 6 FLAG 1967 an die der Bescheinigung des Bundesamtes für Soziales und Behindertenwesen zugrundeliegenden Gutachten gebunden und dürfen diese nur insoweit prüfen, ob sie schlüssig und vollständig sind und im Falle mehrerer Gutachten nicht einander widersprechen, (vgl. Ra 2017/16/0023, Ro 2014/16/0053). Daraus folgt, dass der Entscheidungsfindung weder Aktenvermerke noch die Tatsache des Bezuges der erhöhten Familienbeihilfe für Vorzeiträumen für die Feststellung des Eintritts der Erwerbsunfähigkeit zu Grunde zu legen sind. Bei Bedenken an der Vollständigkeit der vorliegenden Gutachten hat ein Auftrag zur Ergänzung bzw. die Einholung eines neuerlichen Gutachtens unter Angabe der zu berücksichtigenden Beweismittel zu erfolgen.

Sachverständige haben bei Erstellung des Gutachtens fundierte und wissenschaftlich belegbare konkrete Aussagen zu treffen und dürfen ihre Beurteilung und Feststellungen nicht auf Spekulationen, sondern ausschließlich auf die festgestellten Tatsachen verbunden mit ihrem fachspezifischen Wissen stützen. Alleine die Möglichkeit, dass zu einem bestimmten Zeitpunkt ein bestimmter Sachverhalt Vorgelegen sein könnte, reicht dabei keinesfalls aus, diesen Sachverhalt gutachterlich als gegeben anzusehen und zu bestätigen. Einem Gutachten würde es an Schlüssigkeit fehlen, wenn die untersuchenden Sachverständigen den Eintritt einer dauernden Erwerbsunfähigkeit - ohne Dokumentation entsprechender Befunde - zu einem weit davorliegenden Zeitpunkt feststellen würden, (vgl. RV/2100516/2020; RV/6100100/2021). Dementsprechend kann im gegenständliche Fall nicht schon deshalb von einer Unvollständigkeit der Gutachten ausgegangen werden, weil zu Befunden, welche den Sachverständigen nicht Vorlagen, keine Aussage getroffen wurde (Aktenvermerk betr. ärztliche Bescheinigung vom ; VGA vom - fraglich, ob bei Gutachtenerstellung im Jahr 2018/2019 noch Zugriff seitens des SMS auf diese Unterlagen bestand). Angemerkt wird noch, dass weder das Behinderteneinstellungsgesetz noch das FLAG eine Regelung enthalten, aus der geschlossen werden kann, dass ein Anspruch auf die Beiziehung von Fachärzten bestimmter Richtung bestünde. Es besteht demnach kein Anspruch auf die Zuziehung eines Facharztes eines bestimmten medizinischen Teilgebietes. Es kommt vielmehr auf die Schlüssigkeit des Gutachtens an. (Vgl Lenneis in Lenneis/Wanke, FLAG 2. Auflage, § 8 Rz 29; RV/7103723/2020; RV/7102460/2017). Sachverständige können nur aufgrund von Indizien, insbesondere anhand von vorliegenden Befunden, Rückschlüsse darauf ziehen, zu welchem Zeitpunkt eine erhebliche Behinderung eingetreten ist. Es wird daher primär an den Beschwerdeführern liegen, den behaupteten Sachverhalt, nämlich ihre bereits vor der Vollendung des 21. Lebensjahres eingetretene dauernde Unfähigkeit, sich selbst den Unterhalt zu verschaffen, klar und ohne Möglichkeit eines Zweifels nachzuweisen (vgl. Lenneis in Lenneis/Wanke, FLAG 2. Auflage § 8 Rz 32). Kann eine Bescheinigung des Sozialministeriumservice, dass eine voraussichtlich dauernde Erwerbsunfähigkeit bereits vor Vollendung des 21. Lebensjahres eingetreten ist, nicht vorgelegt werden und kann daher der Eintritt einer voraussichtlich dauernden Erwerbsunfähigkeit vor Vollendung des 21. Lebensjahres nicht festgestellt werden, trifft die Beweislast denjenigen, zu dessen Gunsten die entsprechende Tatsache wirken würde: Das Finanzamt hat die Beweislast für Tatsachen zu tragen, die einem Anspruch auf Familienbeihilfe und/oder den Erhöhungsbetrag entgegenstehen oder einschränken, der Antragsteller für Tatsachen, die den Anspruch auf Familienbeihilfe und/oder den Erhöhungsbetrag begründen oder ausweiten.

Bescheinigt das Sozialministeriumservice lege artis den Eintritt einer voraussichtlich dauernden Erwerbsunfähigkeit vor Vollendung des 21. Lebensjahres (vor Abschluss einer Berufsausbildung, aber vor Vollendung des 25. Lebensjahres) nicht, geht dies zu Lasten des Antragstellers (vgl. RV/5100727/2022; RV/7102586/2017). Der Nachweis einer vor Vollendung des 21. Lebensjahres eingetretenen voraussichtlich dauernden Erwerbsunfähigkeit wurde vom Bf. bislang nicht erbracht. Das Finanzamt beantragt daher im Hinblick auf die vom Sozialministeriumservice eingeholten Gutachten weiterhin die Beschwerde als unbegründet abzuweisen."

II. Das Bundesfinanzgericht hat erwogen:

Bescheidbeschwerde und Vorlageantrag sind frist- und formgerecht. Die Bescheidbeschwerde ist darüber hinaus begründet.

Dem mit Vorlageantrag gestellten Antrag auf Aufhebung der Beschwerdevorentscheidung vom kann nicht entsprochen werden, weil die Bescheidbeschwerde von der Einbringung des Vorlageantrages an wiederum als unerledigt gilt. Das BFG entscheidet über die Beschwerde, nicht über den Vorlageantrag (§ 264 Abs 3 BAO). Mit Aufhebung des angefochtenen Bescheides ist gleichzeitig die Beschwerdevorentscheidung aus dem Rechtsbestand ausgeschieden. Ein gesonderter Ausspruch zur Aufhebung der Beschwerdevorentscheidung ist daher nicht erforderlich.

Von der Anberaumung der ordnungsgemäß beantragten mündlichen Verhandlung (vor dem Einzelrichter) konnte wegen der vollen Stattgabe und des zuvor stattgefundenen Erörterungstermines ohne Verletzung von subjektiven Rechten Abstand genommen werden.

1. Rechtslage

Artikel 7 Abs 1 B-VG lautet:

"Alle Staatsbürger sind vor dem Gesetz gleich. Vorrechte der Geburt, des Geschlechtes, des Standes, der Klasse und des Bekenntnisses sind ausgeschlossen. Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden. Die Republik (Bund, Länder und Gemeinden) bekennt sich dazu, die Gleichbehandlung von behinderten und nichtbehinderten Menschen in allen Bereichen des täglichen Lebens zu gewährleisten."

§ 114 Abs 1 BAO (Bundesabgabenordnung) ordnet an:

"Die Abgabenbehörden haben darauf zu achten, daß alle Abgabepflichtigen nach den Abgabenvorschriften erfaßt und gleichmäßig behandelt werden, sowie darüber zu wachen, daß Abgabeneinnahmen nicht zu Unrecht verkürzt werden. Sie haben alles, was für die Bemessung der Abgaben wichtig ist, sorgfältig zu erheben und die Nachrichten darüber zu sammeln, fortlaufend zu ergänzen und auszutauschen."

Gemäß § 115 Abs 3 BAO haben die Abgabenbehörden Angaben der Abgabepflichtigen und amtsbekannte Umstände auch zugunsten der Abgabepflichtigen zu prüfen und zu würdigen.

§ 8 Abs 5 und Abs 6 FLAG 1967 (Familienlastenausgleichsgesetz 1967) lauten:

"(5) Als erheblich behindert gilt ein Kind, bei dem eine nicht nur vorübergehende Funktionsbeeinträchtigung im körperlichen, geistigen oder psychischen Bereich oder in der Sinneswahrnehmung besteht. Als nicht nur vorübergehend gilt ein Zeitraum von voraussichtlich mehr als drei Jahren. Der Grad der Behinderung muß mindestens 50 vH betragen, soweit es sich nicht um ein Kind handelt, das voraussichtlich dauernd außerstande ist, sich selbst den Unterhalt zu verschaffen. Für die Einschätzung des Grades der Behinderung sind § 14 Abs. 3 des Behinderteneinstellungsgesetzes, BGBl. Nr. 22/1970, in der jeweils geltenden Fassung, und die Verordnung des Bundesministers für Arbeit, Soziales und Konsumentenschutz betreffend nähere Bestimmungen über die Feststellung des Grades der Behinderung (Einschätzungsverordnung) vom , BGBl. II Nr. 261/2010, in der jeweils geltenden Fassung anzuwenden. Die erhebliche Behinderung ist spätestens nach fünf Jahren neu festzustellen, soweit nicht Art und Umfang eine Änderung ausschließen.

(6) Der Grad der Behinderung oder die voraussichtlich dauernde Unfähigkeit, sich selbst den Unterhalt zu verschaffen, ist durch eine Bescheinigung des Bundesamtes für Soziales und Behindertenwesen auf Grund eines ärztlichen Sachverständigengutachtens nachzuweisen. Die diesbezüglichen Kosten sind aus Mitteln des Ausgleichsfonds für Familienbeihilfen zu ersetzen."

§ 2 Abs 1 lit c FLAG 1967 idF des Jahres 1997 haben Anspruch auf Familienbeihilfe Personen, die im Bundesgebiet einen Wohnsitz oder ihren gewöhnlichen Aufenthalt haben für volljährige Kinder, die wegen einer vor Vollendung des 21. Lebensjahres oder während einer späteren Berufsausbildung, jedoch spätestens vor Vollendung des 27. Lebensjahres, eingetretenen körperlichen oder geistigen Behinderung voraussichtlich dauernd außerstande sind, sich selbst den Unterhalt zu verschaffen, …

§ 14 Abs 3 Behinderteneinstellungsgesetz (BehEinstG) lautet:

"Der Bundesminister für Arbeit, Gesundheit und Soziales ist ermächtigt, nach Anhörung des Bundesbehindertenbeirates gemäß § 8 BBG durch Verordnung nähere Bestimmungen über die Feststellung des Grades der Behinderung festzulegen. Diese Bestimmungen haben die Auswirkungen der Funktionsbeeinträchtigungen auf das allgemeine Erwerbsleben zu berücksichtigen und auf den Stand der medizinischen Wissenschaft Bedacht zu nehmen."

Verordnung des Bundesministers für Arbeit, Soziales und Konsumentenschutz betreffend nähere Bestimmungen über die Feststellung des Grades der Behinderung (Einschätzungsverordnung) idF BGBl. II Nr. 251/2012 lautet:

"Behinderung

§ 1. Unter Behinderung im Sinne dieser Verordnung ist die Auswirkung einer nicht nur vorübergehenden körperlichen, geistigen oder psychischen Funktionsbeeinträchtigung oder Beeinträchtigung der Sinnesfunktionen zu verstehen, die geeignet ist, die Teilhabe am Leben in der Gesellschaft, insbesondere am allgemeinen Erwerbsleben, zu erschweren. Als nicht nur vorübergehend gilt ein Zeitraum von mehr als voraussichtlich sechs Monaten.

§ 2

Grad der Behinderung

(1) Die Auswirkungen der Funktionsbeeinträchtigungen sind als Grad der Behinderung zu beurteilen. Der Grad der Behinderung wird nach Art und Schwere der Funktionsbeeinträchtigung in festen Sätzen oder Rahmensätzen in der Anlage dieser Verordnung festgelegt. Die Anlage bildet einen Bestandteil dieser Verordnung.

(2) Bei Auswirkungen von Funktionsbeeinträchtigungen, die nicht in der Anlage angeführt sind, ist der Grad der Behinderung in Analogie zu vergleichbaren Funktionsbeeinträchtigungen festzulegen.

(3) Der Grad der Behinderung ist nach durch zehn teilbaren Hundertsätzen festzustellen. Ein um fünf geringerer Grad der Behinderung wird von ihnen mit umfasst. Das Ergebnis der Einschätzung innerhalb eines Rahmensatzes ist zu begründen.

§ 3

Gesamtgrad der Behinderung

§ 4

Grundlage der Einschätzung

(1) Die Grundlage für die Einschätzung des Grades der Behinderung bildet die Beurteilung der Funktionsbeeinträchtigungen im körperlichen, geistigen, psychischen Bereich oder in der Sinneswahrnehmung in Form eines ärztlichen Sachverständigengutachtens. Erforderlichenfalls sind Experten aus anderen Fachbereichen - beispielsweise Psychologen - zur ganzheitlichen Beurteilung heran zu ziehen.

(2) Das Gutachten hat neben den persönlichen Daten die Anamnese, den Untersuchungsbefund, die Diagnosen, die Einschätzung des Grades der Behinderung, eine Begründung für die Einschätzung des Grades der Behinderung innerhalb eines Rahmensatzes sowie die Erstellung des Gesamtgrades der Behinderung und dessen Begründung zu enthalten."

Aus der Einschätzverordnung:

2. Sachverhalt

Der Bf besitzt die türkische Staatsbürgerschaft und wurde im Juni 1976 in der Türkei geboren. Im Kleinkindalter erlitt der Bf eine Infektion, aufgrund der sein Kopf auf die doppelte Größe anschwoll. Von ärztlicher Seite wird eine Meningitis angenommen. Im elektronischen Finanzamtsakt sind ein "frühkindlicher Cerebralschaden, Debilitus ?raus, mögliche Farbenblindheit" und ein "schweres IQ-Defizit (Debilitas) und HOPS seit dem 9. Lebensmonat" vermerkt. In der Türkei besuchte der Bf die Volksschule, stieg aber nicht auf. Er besuchte demnach wiederholt die erste Klasse.

Im Jahr 1990 kam der Bf mit seiner Familie nach Österreich. Damals war er 14 Jahre alt. Entsprechend seinem Alter wurde der Bf in der vierten Klasse einer Mittelschule eingeschult. Die vierte Klasse der Mittelschule besuchte der Bf drei Mal, letztmalig im Schuljahr 1992/93. In sämtlichen Schuljahren wurde der Bf in den Hauptgegenständen und bedeutsamen Nebengegenständen nicht beurteilt. In Leibesübung wurde er mit Sehr gut und Gut benotet.

Für den Zeitraum April 1993 bis November 2010 bezog der Vater für den Bf die erhöhte Familienbeihilfe. Im November 2010 war der Bf 34 Jahre alt. Jedenfalls ab Dezember 1995 ist beweiswürdigend davon auszugehen, dass die Gewährung wegen voraussichtlich dauernder Selbsterhaltungsunfähigkeit erfolgte und in Abgabenverfahren der Vorjahre die Tatsache, dass es sich beim Bf um ein Kind handelt, das voraussichtlich dauernd außerstande ist, sich selbst den Unterhalt zu verschaffen, ordnungsgemäß nachgewiesen wurde. Ab Dezember 2010 kehrten die Eltern des Bf mit ihm zurück in die Türkei, wo er im Haushalt seiner Eltern lebte und von seinen Eltern versorgt wurde.

Die Bf besuchte keine Sonderschule, erlernte keinen Beruf, keine Hilfstätigkeit und war in seinem gesamten Leben zu keinem Zeitpunkt, weder in der Türkei noch im Inland, beruflich tätig. Er wurde nie gefördert und wurde immer von seiner Familie versorgt. Derzeit arbeitet er in einer Caritaswerkstätte und erhält dafür ein monatliches Taschengeld von EUR 80,00.

Der Bf spricht seine Muttersprache Türkisch mangelhaft und Deutsch nicht.

Im Mai 2018 brannte das Haus der Eltern des Bf zur Gänze ab, wobei sämtliche Krankenunterlagen des Bf verbrannten. Die Eltern des Bf haben während des Aufenthaltes in der Türkei für den Bf nicht um die Aushändigung von Arztunterlagen (Diagnosen, Befunde, Arztbriefe etc) gebeten. Brückenbefunde von 2011 bis Mitte 2018 lagen daher auch ohne Brand nicht vor.

Im Juli 2018 (im Alter von 42 Jahren) kehrte der Bf nach Österreich zurück und lebt seither im Haushalt seiner Schwester. Mit Verfügung vom wurde seine Schwester zu seinem gesetzlichen Erwachsenenvertreter bestellt.

In gegenständlichem Beschwerdeverfahren wurden drei Sachverständigengutachten/Bescheinigungen beim BSA/SMS in Auftrag gegeben. Anlässlich der Vorsprachen für das zweite und dritte Gutachten beim BSA wurde der Bf NICHT untersucht.

Sämtliche Gutachten wurden zur Frage, ob das Fehlen der voraussichtlich dauernden Fähigkeit, sich selbst den Unterhalt zu verschaffen, vor Vollendung des 21. LJ eingetreten ist, beauftragt. Nach den ersten beiden Sachverständigengutachten war kein Grad der Behinderung zu ermitteln und das Nichtvorliegen der Selbsterhaltungsfähigkeit wurde verneint. Beides aus Gründen einer nicht ausreichenden Befundlage. Das dritte Gutachten vom kommt zu dem Ergebnis, dass der GdB ab 03/2019 50% beträgt und der Bf ab diesem Zeitpunkt voraussichtlich außer Stande ist, sich selbst den Unterhalt zu verschaffen. Eine Beurteilung für den Zeitraum vor Vollendung des 21. Lebensjahren liege keine gesicherte Befundlage vor. In allen drei Sachverständigengutachten wurde gerügt, dass die Sprachkenntnisse und Sprachfähigkeit der türkischen sowie der deutschen Sprache nicht gutachterlich festgestellt wurden.

Beweismittel und Beweiswürdigung

Obige Sachverhaltsfeststellung ergab sich aufgrund der im Verfahrenshergang dargestellten Beweise nach folgenden Überlegungen:

Die frühkindliche Meningitis ergibt sich aus dem Befund des Nervenfacharztes ***2*** und wurde widerspruchslos in das Sachverständigengutachten vom übernommen. Der Befund korrespondiert mit der ärztlichen Bescheinigung vom und steht in Einklang mit den übrigen Befunden aus der damaligen Zeit und den aktuellen Befunden.

Der Bezug der erhöhten Familienbeihilfe vom April 1993 bis November 2010 ergibt sich aus der Mitteilung der belangten Behörde vom .

Die Feststellungen zur Schulausbildung in der Türkei ergeben sich aus der Sozialanamnese im BBG-Gutachten vom . Der Gutachter des Gutachtens vom gab in diesem Gutachten an, auf das Gutachten vom aufzubauen, hat die mangelnde bzw in Wahrheit fehlende Schulausbildung des Bf im Gutachten vom ohne Angabe von Gründen nicht berücksichtigt.

Aus Aktenvermerken im elektronischen Beihilfenakt AISDB7:A:

  1. Laut ärztlicher Bescheinigung (21) vom des AKH ***3***, besteht ein frühkindlicher Cerebralschaden, Debilitus ?raus, mögliche Farbenblindheit.

  2. Laut ärztlicher Bescheinigung (21) vom (F2), besteht seit dem 9. Lebensmonat ein schweres IQ-Defizit (Debilitas) und HOPS, Ursache unbekannt.

Das Sachverständigengutachten des BSA vom ergab ein hirnorganisches Psychosyndrom, einen frühkindlichen Hirnschaden mit Intelligenzdefizit und einen GdB von 100%. Vorgetragen wurde, dass das BSA auf das Sachverständigengutachten vom nicht zugreifen könne. Es wurde nicht vorgetragen, die Daten des Sachverständigengutachtens seien gelöscht worden.

Aus dem Bezug von FB und erhFB über den Zeitraum der Ausbildung des Bf hinaus bis zum Alter von 34 Jahren ist zu schließen, dass aufgrund entsprechender Bescheinigungen (Amtsarzt, Gemeindearzt) bzw seit der Reform BSA-Bescheinigungen die belangte Behörde bis November 2010 davon ausging, dass der Bf voraussichtlich dauernd außer Stande sein wird, sich selbst den Unterhalt zu verschaffen, und dass die voraussichtliche Selbsterhaltungsunfähigkeit innerhalb der gesetzlichen zeitlichen Schranken des § 2 Abs 1 lit c FLAG 1967 (vor Vollendung des 21. LJ) in der damals geltenden Fassung eingetreten war. Dieser Annahme ist die belangte Behörde in ihrer Gegenäußerung nicht entgegengetreten. Jedenfalls ab Dezember 1995 und nach Schulabgang ist davon auszugehen, dass die Gewährung wegen voraussichtlich dauernder Selbsterhaltungsunfähigkeit erfolgte, weil eine "bloße" Behinderung für sich allein nicht die Gewährung der erhöhten Familienbeihilfe zur Folge gehabt hätte.

Entsprechend der Rechtslage des § 8 Abs 5 FLAG 1967 in der für das Jahr 1995 und Folgejahre geltenden Fassung ist davon auszugehen, dass die belangte Behörde alle fünf Jahre eine Überprüfung angeordnet hat, sofern sie nicht nach Art und Umfang eine Änderung des Krankheitszustandes des Bf ausgeschlossen hat.

Die belangte Behörde hat nicht vorgetragen, dass sie Zweifel an der Richtigkeit ihrer Aktenvermerke aus den Jahren 1992 und 1995 und der Rechtsmäßigkeit der Auszahlung der erhöhten Familienbeihilfe bis 2010 hat.

Die Feststellung zu den Sprachkenntnissen beruht auf der im BSA-Gutachten vom dargestellten Sozialanamnese ("nicht gescheit" auf Türkisch unterhalten können). An selber Stelle ist festgehalten, dass der Bf die deutsche Sprache nicht könne.

Die Anstellung des Bf in der Caritas und die Höhe des Taschengeldes wurde vom Caritasmitarbeiter anlässlich des Erörterungstermines bekannt gegeben.

Das Vorbringen, die Krankenunterlagen des Bf sind bei einem Brand des Elternhauses zur Gänze vernichtet worden, erscheint glaubhaft, zumal es im Interesse des Bf läge, diese Unterlagen, die den Zeitraum vor Vollendung des 21. LJ betreffen, zu besitzen und vorlegen zu können. Den nachfolgenden rechtlichen Überlegungen zufolge kommt es auf diese Unterlagen nicht an.

3. Rechtliche Beurteilung

3.1. Zu Spruchpunkt I.

Relevanz des vorangegangenen Beihilfenverfahrens 1992 bis 2010

Ob es sich beim Bf um ein volljähriges Kind handelt, das wegen einer vor Vollendung des 21. Lebensjahres oder während einer späteren Berufsausbildung, jedoch spätestens vor Vollendung des 27. Lebensjahres, eingetretenen körperlichen oder geistigen Behinderung voraussichtlich dauernd außerstande ist, sich selbst den Unterhalt zu verschaffen, ist eine auf der Sachverhaltsebene im Begutachtungsverfahren des § 8 Abs 6 FLAG 1967 zu beantwortende Sachfrage.

Nach der Sachlage ist davon auszugehen, dass von der belangten Behörde bis November 2010 ordnungsgemäß und rechtskonform (lege artis) anhand der damals geltenden Rechtslage durch Bescheinigungen der damals zuständigen Institutionen nachgewiesen wurde, dass der Bf wegen einer vor Vollendung seines 21. Lebensjahres eingetretenen körperlichen oder geistigen Behinderung voraussichtlich dauernd außerstande ist, sich selbst den Unterhalt zu verschaffen. Im Laufe des Beschwerdeverfahrens ist nicht hervorgekommen, dass die belangte Behörde objektive rechtserhebliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit der von ihr bis November 2010 erfolgten Gewährung der erhöhten Familienbeihilfe hat (insbes Erschleichungstatbestand des § 303 Abs 1 lit a BaO). Im elektronischen Verwaltungsakt wurde damals ein schweres IQ-Defizit vermerkt.

Wurde von der Abgabenbehörde das voraussichtliche dauernde Außer-Stande-Sein, sich selbst den Unterhalt zu verschaffen, für ein volljähriges Kind innerhalb der zeitlichen Schranken des § 2 Abs 1 lit c FLAG festgestellt, so haben in den Folgejahren die Beihilfenverfahren die Frage zu Gegenstand, ob die Selbsterhaltungsfähigkeit nach wie vor nicht besteht. § 2 Abs 1 lit c FLAG verwendet den Begriff "voraussichtlich". Gewissheit, dass die Selbsterhaltungsunfähigkeit dauerhaft besteht und unabänderlich ist, verlangt leg.cit. nicht. Hätte der Bf Österreich nicht verlassen, so wäre das Beihilfenverfahren des Bf konform dem letzten Satz des § 8 Abs 5 FLAG mit dieser Fragestellung fortgeführt worden.

Nachteilig für den Bf wirkt sich allein der Umstand aus, dass er für etwa acht Jahre im Ausland gelebt hat. Aufgrund der Rückkehr nach Österreich und der nach einer Pause erfolgten Beantragung der erhöhten Familienbeihilfe, sieht sich die belangte Behörde verpflichtet, die bereits geklärte Tatsachenfrage der Selbsterhaltungsunfähigkeit vor dem 21. LJ ungeachtet des Vorverfahrens neuerlich zu prüfen. Damit hat die belangte Behörde die Rechtslage verkannt.

Sollte die belangte Behörde dem Ersuchen des Bf auf Akteneinsicht -wie dieser behauptet - tatsächlich seine eigenen Daten aus Datenschutzgründen vorenthalten haben, so hätte sie auch mit dieser Rechtsansicht die Rechtslage verkannt. Auch wenn seinerzeit Beihilfenbezieher der Vater des Bf war, handelt es sich um die Krankheitsdaten des Bf, auf deren Herausgabe der Bf ein subjektives Recht hat.

Aus dem verfassungsgesetzlichen Gleichheitsgrundsatz des Art 7 Abs 1 B-VG und dem einfachgesetzlichen abgabenrechtlichen Gleichheitssatz des § 114 Abs 1 BAO ergibt sich die rechtliche Beachtlichkeit des in der Vergangenheit für den Bf positiv geführten Beihilfenverfahrens. Die verfassungsrechtlichen Grundsätze verpflichten nicht nur den Gesetzgeber, sondern auch die Verwaltung (Art 18 Abs 1 B-VG). Es verstieße gegen das Sachlichkeitsgebot, eine bereits nachgewiesene Tatsache bei unveränderter Sach- und Rechtslage nochmals zum Gegenstand eines Verfahrens zu machen. Eine geänderte Sachlage wäre beispielsweise bei Hervorkommen von Tatsachen gegeben, die den Tatbestand des § 303 Abs 1 lit a BAO erfüllten (Erschleichungstatbestand). Laut Sachverhalt hat die belangte Behörde keinerlei Vorbringen in diese Richtung erstattet. Der Bf ist dem Beihilfenbezieher gleichzustellen, der Österreich nicht verlassen hat und durchgehend die erhöhte Familienbeihilfe bezieht.

Die nochmalige Überprüfung einer bereits bewiesenen Sache verstößt schließlich gegen den Grundsatz der entschiedenen Sache (res iudicata, ne bis in idem).

Die in der Vergangenheit getroffene Feststellung, dass der Bf voraussichtlich dauernd außerstande ist, sich selbst den Unterhalt zu verschaffen, stellt weiters einen "amtsbekannten Umstand" iSd § 115 Abs 3 BAO dar, der von Amts wegen zu berücksichtigen ist. Die belangte Behörde war verpflichtet, die Aktenvermerke und die Mitteilung dem Bundessozialamt für das Gutachterverfahren oder dem Bf zur Verfügung zu stellen, damit dieser diese Verwaltungsunterlagen dem BSA vorlegen konnte. Der Grundsatz der Unbeschränktheit von Beweismitteln gilt auch im Begutachtungsverfahren nach § 8 Abs 5 FLAG. Anderen Beweismitteln als Befunden kommt dann besondere Bedeutung zu, wenn Befunde aus Gründen, die der Antragsteller nicht zu vertreten hat, nicht vorhanden sind.

Die diesbezüglichen Beschwerdeeinwendungen sind daher berechtigt.

Aufgrund des zuvor Gesagten ist es ohne Belangt, wenn die alten medizinischen und behördlichen Unterlagen unwiederbringlich verloren gegangen sind.

Daraus folgt, dass das BSA mit der Gutachtensfrage zu beauftragen gewesen wäre, ob der Bf unverändert (nach wie vor) voraussichtlich dauernd außerstande ist, sich selbst den Unterhalt zu verschaffen.

Diese Frage hat das BSA mit dem Sachverständigengutachten vom bejaht, sodass eine weitere Beauftragung eines Sachverständigengutachtens durch das BFG unterbleiben konnte. Das 3. Gutachten sieht die Selbsterhaltungsunfähigkeit ab 03/2019 aufgrund eines Befundes der Ärztin Dr ***5*** aus diesem Monat als gegeben an.

Das BFG vertritt die Ansicht, dass das/die Gutachten nicht nach den Vorgaben des § 8 Abs 5 FLAG 1967 erstellt wurde/n, und sieht davon abweichend aus folgenden Gründen die Selbsterhaltungsunfähigkeit ab Antragstellung (Juli 2018) als gegeben an:

Alternative Fälle des § 8 Abs 5 FLAG 1967, gebotene Auseinandersetzung mit der Berufsausbildung und den Gründen, weshalb eine solche nicht erfolgen konnte

Der erste Satz des § 8 Abs 5 FLAG fingiert (arg. "gilt") ein erheblich behindertes Kind als ein Kind, bei dem eine nicht nur vorübergehende Funktionsbeeinträchtigung im körperlichen, geistigen oder psychischen Bereich oder in der Sinneswahrnehmung besteht. Der zweite Satz leg.cit. fingiert den Begriff vorübergehend als einen Zeitraum von mehr als drei Jahren.

Das Gesetz definiert ein erheblich behindertes Kind kraft zweier Fiktionen.

Der dritte Satz des § 8 Abs 5 FLAG ordnet an, dass ein Kind in zwei alternativen Fällen als erheblich behindert anzusehen ist: Zum einen bei einem Grad der Behinderung von mindestens von 50vH und um anderen dann, wenn es sich um ein Kind handelt, das voraussichtlich dauernd außerstande ist, sich selbst den Unterhalt zu verschaffen. Im zweiten Fall muss der Grad der Behinderung nicht festgestellt werden (argumento "…, soweit es sich nicht um ein Kind handelt, das voraussichtlich außer Stande ….").

Auf die gebotene Trennung der beiden alternativen Fälle eines erheblich behinderten Kindes iSd § 8 Abs 5 FLAG weist der Verwaltungsgerichtshof in ständiger Rechtsprechung hin. "… [D]ie Beantwortung der Frage, ob ein Kind voraussichtlich dauernd außer Stande ist, sich selbst den Unterhalt zu verschaffen, [ist] nicht anhand des Grades der Behinderung zu beurteilen …" ().

Im Beschwerdefalls besteht beim Bf mit der mittleren Intelligenzminderung seit dem Kleinkindalter eine dauerhafte und nicht heilbare Funktionsbeeinträchtigung im geistigen Bereich (Intelligenzminderung), die zur Folge hatte, dass der Bf keine Schulausbildung abgeschlossen hat, keinen Beruf erlernt hat, zu keinem Zeitpunkt in seinem Leben für Hilfstätigkeiten herangezogen wurde, immer in der Obhut seiner Eltern oder seiner Schwester lebte und die Schwester Erwachsenenvertreterin für ihren den Bf ist. Spricht ein geschützter Arbeitsplatz gegen die Selbsterhaltungsfähigkeit (vgl ), so ist im Größenschluss zu sagen, dass im Beschwerdefall die Beschäftigung bei der Caritas gegen ein monatliches Taschengeld von EUR 80,00 noch mehr gegen die Selbsterhaltungsfähigkeit spricht.

Aufgrund dieser Tatsache ist die Selbsterhaltungsfähigkeit im gesamten Streitraum nicht gegeben. Einer Ermittlung des Grades der Behinderung hat es im Beschwerdefall aus folgenden Gründen nicht bedurft.

Keine Anwendung der Einschätzverordnung bei Selbsterhaltungsunfähigkeit

Die Einschätzverordnung (EVO) hat immer die Feststellung eines Grades der Behinderung zum Ziel.

Wie zuvor ausgeführt wurde, ordnet § 8 Abs 5 FLAG 1967 die Feststellung eines Grades der Behinderung nur für die erste Alternative leg.cit. an, jedoch nicht für die Beantwortung der Frage nach der Selbsterhaltungs(un)fähigkeit. § 8 Abs 5 FLAG 1967 sieht ausdrücklich vor, dass für die zweite Alternative des § 8 Abs 5 FLAG ein Grad der Behinderung nicht festzustellen ist.

Da im Beschwerdefall sämtliche Gutachten (ob mit oder ohne Untersuchung) allein durch Anwendung der Einschätzverordnung über die Ermittlung eines GdB die Frage nach der Selbsterhaltungs(un)fähigkeit beantworten wollen, verstoßen die Sachverständigengutachten gegen die Anordnung des § 8 Abs 5 FLAG 1967.

Im Beschwerdefall wäre eine (schlichte) Behinderung im Grad von zumindest 50vH ohne Aussicht auf Erfolg, weil bei gegebener Sachlage die erhöhte Familienbeihilfe nicht zustünde. Aus rechtlichen Gründe wäre die Ermittlung eines GdB nicht geboten. Davon zu unterscheiden wäre der Fall des mj Kindes, bei dem ein Grad der Behinderung in ausreichender Höhe als Eventualantrag zu gewähren wäre. Bei Bejahung der Selbsterhaltungsfähigkeit wäre im Eventualfall der GdB aus rechtlichen Gründen festzustellen.

Zur Beantwortung der Frage der Selbsterhaltungs(un)fähigkeit kommt es neben der körperlichen, geistigen oder psychischen Beeinträchtigung oder einer Sinneswahrnehmung auch auf die erlangte Berufsausbildung und mögliche Berufe, die nach der Lage des Einzelfalles ausgeübt werden können, und die Arbeitsmarktsituation an. Solche Überlegungen werden in den drei BSA-Gutachten nicht angestellt.

Da solche Überlegungen generell vom BSA nicht angestellt werden, erfolgt im Dezember 2017 eine Besprechung einiger Richterinnen und Richter mit Vertretern und Ärzten des BSA. Seitens des BSA wurde eingeräumt, dass dieses Wissen eher bei den Pensionsversicherungsanstalten angesiedelt sei, die die für die Beurteilung der Erwerbs(un)fähigkeit iVm Arbeitsunfähigkeitspensionen zuständig sind. Das Bundessozialamt beantwortet die Frage der Selbsterhaltungs(un)fähigkeit bis heute unverändert ausschließlich anhand der Einschätzverordnung.

Da die Frage der Selbsterhaltungs(un)fähigkeit nach § 8 Abs 5 FLAG auch nach Einführung des qualifizierten Nachweiseverfahrens nicht anhand der Einschätzverordnung zu beantworten ist, sind die vom Verwaltungsgerichtshofes in ständiger Rechtsprechung zu dieser Frage ergangenen Judikate nach wie einschlägig.

Voraussetzung dafür, daß ein amtsärztliches Zeugnis oder … im Sinn des § 8 Abs 6 FamLAG geeignet sind, das Vorliegen einer erheblichen Behinderung eines Kindes im Sinn des § 8 Abs 5 FamLAG als erwiesen anzunehmen oder zu verneinen, ist nicht nur die Feststellung des Leidens an sich (ärztlicher Befund). Vielmehr müssen die konkreten Auswirkungen des festgestellten Leidens auf die Berufsausbildung dargelegt und schlüssig begründet sein. Solche Auswirkungen können zB in einer verminderten Bewegungsfähigkeit, Wahrnehmungsfähigkeit (insbesondere Hören und Sehen), Denkfähigkeit (Gehirnleistung), Konzentrationsfähigkeit oder allgemein in einer verminderten Belastbarkeit bei Erbringung von Leistungen verschiedenster Art erblickt werden. Auch auf Dauer erforderliche besonders zeitaufwendige Therapien können zu einer wesentlichen Beeinträchtigung der Berufsausbildung führen (; , Hervorhebung durch BFG).

Es ist letztlich nicht die - medizinische - Frage der erheblichen Behinderung des Kindes, sondern die dauernde und wesentliche Beeinträchtigung in der Berufsausbildung des Kindes entscheidend (Hinweis E , 90/14/0021). Es ist keineswegs in der Verneinung einer solchen wesentlichen Beeinträchtigung der Berufsausbildung des Kindes die Aussage enthalten, daß ein Kind mit einem schweren Gebrechen (hier Hüftdisplasie beiderseits) iSd allgemeinen Sprachgebrauches nicht schwer behindert ist (, Hervorhebung durch BFG).

Keines der Gutachten des Beschwerdefalles hat sich mit der wegen der mittelgradigen Intelligenzminderung fehlenden Berufsausbildung auseinandergesetzt.

Nach Ansicht des BFG ist vor dem Hintergrund der durch die Intelligenzminderung des Bf hervorgerufenen Sachlage, dass er keinen Schulabschluss erlangt und keinen Beruf erlernt hat und niemals beruflich tätig war, immer unter elterlicher Aufsicht gelegt hat, kein Unterschied zwischen dem Antragsmonat Juli 2018 und dem März 2019 erkennbar.

Darüber hinaus ist zum festgestellten GdB von 50vH zu bemerken, dass bei gegebener Sachlage die Einordnung des Bf im unteren Rahmensatz der Position nicht den verwirklichten Sachverhalt abbildet, dass der Bf für ein monatliches Taschengeld bei der Caritas beschäftigt ist und Hilfe im sachlichen und persönlichen Bereich sowie zur Wahrung seiner Eigeninteressen benötigt, weshalb die Schwester als Erwachsenenvertreterin bestellt wurde.

Im Sachverständigengutachten vom ist vermerkt: "in den Befunden liegt eine Erwachsenenvertretungsverfügung vor, keine gerichtliche Besachwaltung." Die gerichtliche Besachwaltung existiert ab Juli 2018 nicht mehr, sondern wurde durch die gerichtliche Erwachsenenvertretung ersetzt. Aus dem Fehlen einer gerichtlichen Erwachsenenvertretung kann nicht zwingend auf den Umfang der Vertretung geschlossen werden. Die gerichtliche Erwachsenenvertretung erfolgt zB auch dann, wenn nahe Angehörige nicht vorhanden sind. Sämtliche ärztlichen Gutachten haben zu Unrecht nicht den Inhalt der Erwachsenenvertretungsverfügung beachtet. Im Beschwerdefall umfasst die Erwachsenenvertretung die Vertretung vor Behörden und anderen Institutionen, die Entscheidung in Aufenthalts- und Wohnungsangelegenheiten, in Gesundheitsangelegenheiten sowie in Vermögensangelegenheiten einschließlich Bankvollmacht und umfasst jeden rechtlichen Rechtsbereich. Die Beschränkung auf die Befundlage lässt außer Acht, dass nach § 14 Abs 3 BehEinstG die Bestimmungen der Einschätzverordnung die Auswirkungen der Funktionsbeeinträchtigungen auf das allgemeine Erwerbsleben zu berücksichtigen haben. Nach der Sachlage war der Bf infolge seiner geistigen/psychischen Beeinträchtigung nicht in der Lage, einen Beruf oder eine Hilfstätigkeit zu erlernen und ist nach wie vor nicht in der Lage am Erwerbsleben (=Arbeitsmarkt im ungeschützten Bereich) teilzuhaben. Demnach wäre der Bf in der Position einzuordnen.

Da das Sachverständigengutachten des BSA/SMS vom entgegen dem Wortlaut des § 8 Abs 5 FLAG 1967 die Frage der Selbsterhaltungsfähigkeit ausschließlich auf Grundlage der Einschätzverordnung anhand der Ermittlung eines Behindertengrades beantwortet hat und die behinderungsbedingt unterbliebene Berufsausbildung sowie die behinderungsbedingt erfolgte Erwachsenenvertretung nicht berücksichtigt hat, erweist es sich als unvollständig und unschlüssig, sodass das BFG daran nicht gebunden ist.

3.2. Zu Spruchpunkt II.

Die belangte Behörde ist gemäß § 282 BAO verpflichtet, mit den ihr zu Gebote stehenden rechtlichen Mitteln unverzüglich den der Rechtsanschauung des Verwaltungsgerichtes entsprechenden Rechtszustand herzustellen. Die belangte Behörde ist an die gegebene Sach- und Rechtslage gebunden. Mit Spruchpunkt II. wird dem Determinierungsgebot des Legalitätsprinzips entsprochen, woraus der Beschwerdeführer erkennen kann, welche abschließende Entscheidung die belangte Behörde zu treffen hat. Damit wird eine verfahrensrechtliche Gleichstellung mit den Beschwerdefällen hergestellt, in denen das BFG im Fall der vollen Stattgabe der Beschwerde die Bescheidänderung auszusprechen hat. Eine Abweisung des Antrages wäre nur bei Vorliegen der Voraussetzungen des § 303 BAO zulässig.

3.3. Zu Spruchpunkt III.

Gegen ein Erkenntnis des Bundesfinanzgerichtes ist die Revision zulässig, wenn sie von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt, insbesondere weil das Erkenntnis von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes abweicht, eine solche Rechtsprechung fehlt oder die zu lösende Rechtsfrage in der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes nicht einheitlich beantwortet wird.

Die Falllösung konnte auf eine gesicherte Judikaturlinie des Verwaltungsgerichtshofes gestützt werden und hat keine Rechtsfragen in obigem Rechtssinn aufgeworfen. Daher war die ordentliche Revision nicht zuzulassen.

Wien, am

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