VwGH vom 10.06.2021, Ro 2021/18/0001
Betreff
Der Verwaltungsgerichtshof hat durch die Vorsitzende Vizepräsidentin Dr.in Sporrer sowie den Hofrat Dr. Sutter und die Hofrätin Dr.in Sembacher als Richterinnen und Richter, unter Mitwirkung des Schriftführers Mag. Wuketich, über die Revision des R Q, vertreten durch Mag.a Nadja Lindenthal, Rechtsanwältin in 1070 Wien, Siebensterngasse 23/3, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom , W144 2219524-2/2E, betreffend die Erteilung eines Einreisetitels gemäß § 35 AsylG 2005 (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Österreichische Botschaft Teheran), zu Recht erkannt:
Spruch
Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.
Der Bund hat dem Revisionswerber Aufwendungen in der Höhe von € 1.106,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.
Begründung
1Der im Jahr 1980 geborene Revisionswerber, ein Staatsangehöriger Afghanistans, stellte am bei der Österreichischen Botschaft Teheran (ÖB Teheran) einen Antrag auf Erteilung eines Einreisetitels gemäß § 35 Asylgesetz 2005 (AsylG 2005). Er strebe die Familienzusammenführung mit seiner - ebenfalls die Staatsangehörigkeit Afghanistans besitzenden und am geborenen - Ehefrau (im Folgenden auch: Bezugsperson), der in Österreich vom Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) mit Bescheid vom der Status der Asylberechtigten zuerkannt worden sei, an. Er habe mit der Bezugsperson drei gemeinsame minderjährige Kinder, die sich bereits in Österreich befänden und ebenfalls den Status von Asylberechtigten zuerkannt bekommen hätten.
2Nach Durchführung eines Ermittlungsverfahrens wies die ÖB Teheran den Antrag des Revisionswerbers mit Bescheid vom ab. Begründend verwies die Behörde darauf, dass das BFA mitgeteilt habe, dass die Zuerkennung eines Schutzstatus an den Revisionswerber mangels Vorliegens einer gültig geschlossenen Ehe mit der Bezugsperson nicht wahrscheinlich sei.
3Dagegen erhob der Revisionswerber Beschwerde an das Bundesverwaltungsgericht (BVwG), in der er sein bisheriges Vorbringen im Wesentlichen aufrecht hielt. Den im Verfahren vor der ÖB Teheran getätigten Ausführungen des BFA, wonach es sich bei der Ehe zwischen dem Revisionswerber und der Bezugsperson um eine Kinderehe handle, sei entgegenzuhalten, dass sich bereits aus der Registrierung der Ehe in Afghanistan ergebe, dass die Ehe offenbar anerkannt worden sei. Abgesehen davon sei der geltend gemachte Formmangel auch nach österreichischem Recht heilbar. Gemäß § 22 EheG sei eine Ehe als von Anfang an gültig anzusehen, wenn der Ehegatte nach Eintritt der Ehefähigkeit zu erkennen gebe, dass er die Ehe fortsetzen wolle. Im konkreten Fall sei die Bezugsperson bereits 33 Jahre alt, habe mit ihrem Ehegatten drei gemeinsame Kinder und im Verfahren den Willen kundgetan, das Familienleben mit dem Revisionswerber fortzusetzen. Aufgrund der Altersstruktur der Eheleute und deren Willen, das Familienleben fortzusetzen, könne „zum heutigen Zeitpunkt“ kein Verstoß gegen den „ordre public“ gesehen werden.
4Mit dem angefochtenen Erkenntnis wies das BVwG die Beschwerde des Revisionswerbers als unbegründet ab und erklärte die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG für zulässig.
5Das BVwG stellte fest, dass der Revisionswerber die am geborene Bezugsperson, der mit Bescheid des BFA vom Asyl gewährt worden sei, in Afghanistan am traditionell-muslimisch nach Scharia-Recht geheiratet habe. Die Bezugsperson sei zu diesem Zeitpunkt 15 Jahre und 9 Monate alt gewesen.
6Beweiswürdigend führte das BVwG aus, das Datum der Eheschließung und das Geburtsdatum der Bezugsperson würden sich aus den Angaben des Revisionswerbers im Befragungsformular in Verbindung mit der vorgelegten Heiratsurkunde und aus der Reisepasskopie der Bezugsperson ergeben. Der Umstand, dass die Bezugsperson zum Zeitpunkt der traditionellen Eheschließung „noch keine 16 Jahre, sondern erst 15 Jahre und 9 Monate alt“ gewesen sei, ergebe sich aus einem Vergleich ihres Geburtsdatums mit dem Datum der Eheschließung und sei im Verfahren auch nicht bestritten worden.
7In der rechtlichen Beurteilung führte das BVwG unter anderem die Bestimmungen der § 6 und 16 des Bundesgesetzes vom über das internationale Privatrecht (IPR-Gesetz; im Folgenden: IPRG) sowie - teils bereits außer Kraft getretene - Bestimmungen des österreichischen Ehegesetzes (EheG) zur Ehefähigkeit, zur Geschäftsunfähigkeit, zur Form der Eheschließung und zu den Nichtigkeitsgründen des Mangels der Form gemäß § 21 EheG und des Mangels der Ehefähigkeit gemäß § 22 EheG an.
8Daran anschließend zitierte es ein näher genanntes Erkenntnis des BVwG vom Mai 2020, wonach dieses „in ständiger Rechtsprechung bereits bisher ausgeführt“ habe, dass nach österreichischem Recht eine Ehe, die von einer unter 16-Jährigen geschlossen werde, keinesfalls gültig sei, da eine solche Kinderehe den Grundwerten der österreichischen Rechtsordnung widerspreche.
9Überdies führte das BVwG aus, dass der Verwaltungsgerichtshof sich jüngst „mit der Frage der (Un-)wirksamkeit von Kinderehen“ in seinem Erkenntnis vom , Ra 2020/14/0006, auseinandergesetzt habe. Aus den Erwägungen des Verwaltungsgerichtshofes ergebe sich, dass zwar nicht jede Eheschließung einer bzw. eines Minderjährigen per se gegen den „ordre public“ verstoße, dass aber zur Eingehung einer Ehe jedenfalls das Mindestalter von 16 Jahren überschritten sein müsse, andernfalls keine gültige Ehe zustande kommen könne. Daraus folge, dass auch eine Heilung des Mangels der Ehefähigkeit gemäß § 22 Abs. 2 EheG nicht in Betracht kommen könne, wenn die Ehe von einer Person unter 16 Jahren eingegangen worden sei. Die Bestimmung des § 22 Abs. 2 EheG sei insofern teleologisch zu reduzieren, als sich die Möglichkeit einer Heilung der mangelnden Ehefähigkeit auf jene Eheschließungen von Über-16-Jährigen beschränke, die potentiell - bei Vorliegen besonderer Umstände - gültig sein könnten. Andernfalls würde man zu dem unvertretbaren Ergebnis kommen, dass auch Ehen, die etwa von 10-Jährigen geschlossen worden seien, einer nachträglichen Heilung gemäß § 22 Abs. 2 EheG zugänglich wären, da das EheG lediglich an die Altersgrenze von 16 Jahren normativ anknüpfe, aber im Hinblick auf ein Alter unter 16 Jahren nicht mehr weiter differenziere.
10Eine Heilung gemäß § 22 Abs. 2 EheG setze weiters voraus, dass die Ehegattin nach Eintritt der Ehefähigkeit „zu erkennen gebe“, dass sie die Ehe fortsetzen wolle. Ein „Zu-Erkennen-Geben“ indiziere nach Ansicht des BVwG, dass ein aktives, außenwirksames und unzweifelhaftes Tun gefordert sei, hingegen könne aus dem bloßen Verharren in der Ehe nicht geschlossen werden, dass es dem freien Willen der betreffenden Person entspreche, die Ehe fortsetzen zu wollen. Für einen derartigen Fortsetzungswillen lägen - selbst wenn man eine Heilung gemäß § 22 Abs. 2 EheG als rechtlich möglich und nicht dem „ordre public“ widersprechend ansehe - im vorliegenden Fall keine ausreichenden und konkreten Umstände vor, zumal die Bezugsperson mit den Kindern alleine nach Europa gereist und der Revisionswerber im Herkunftsstaat verblieben sei. Auch aus der nachfolgenden Registrierung einer muslimischen Ehe könne nicht notwendigerweise auf den Fortsetzungswillen beider Eheleute geschlossen werden, da eine Registrierung grundsätzlich auch nur auf Betreiben eines Ehegatten vorgenommen werden könne. Letztlich führte das BVwG in seiner rechtlichen Beurteilung aus, dass nicht verkannt werde, dass durch seine Rechtsansicht unbillige Härten entstehen könnten, in derartigen Fällen sei jedoch auf das Niederlassungs- und Aufenthaltsgesetz und die dortigen Möglichkeiten einer Familienzusammenführung zu verweisen. Eine mündliche Verhandlung sei gemäß § 11a Abs. 2 FPG nicht durchzuführen gewesen.
11Die Zulässigkeit der Revision begründete das BVwG mit fehlender Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes zur Rechtsfrage, ob eine Ehe, die von einer Person im Alter von unter 16 Jahren geschlossen worden sei, einer Heilung gemäß § 22 Abs. 2 EheG mit der Wirkung, dass die Ehe als von Anfang an gültig anzusehen sei, zugänglich oder eine Heilung einer solchen Ehe rechtlich unmöglich sei und die Ehe damit dem „ordre public“ widerspreche.
12Gegen dieses Erkenntnis wendet sich die vorliegende Revision, die zur Begründung ihrer Zulässigkeit zusammengefasst geltend macht, die Revision sei nicht nur aus dem vom BVwG genannten Grund zulässig, sondern auch, weil das BVwG von der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes abgewichen sei und die Gültigkeit der vorliegenden Ehe - ohne auf diese im Einzelfall einzugehen - falsch beurteilt habe. Unter Heranziehung des Erkenntnisses des Verwaltungsgerichtshofes vom , Ra 2020/14/0006, sei nicht nachvollziehbar, wie die Anerkennung der Ehe des Revisionswerbers mit der Bezugsperson „zum jetzigen Zeitpunkt“ zu einem Ergebnis führen könne, das mit den Grundwerten der österreichischen Rechtsordnung unvereinbar sei. Auch die weitere Voraussetzung für das Eingreifen der Vorbehaltsklausel des § 6 IPRG, wonach das Ergebnis der Anwendung fremden Sachrechts anstößig sein müsse, könne angesichts des vorliegenden Sachverhalts und in Ermangelung einer Auseinandersetzung mit diesem nicht erkannt werden. Schon aus diesem Grund weiche das angefochtene Erkenntnis von der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ab und hätte das BVwG von einer rechtskonformen Ehe des Revisionswerbers mit der Bezugsperson ausgehen müssen.
13Das BVwG habe nicht nachvollziehbar dargelegt, aus welchen im zitierten Erkenntnis des Verwaltungsgerichtshofes dargelegten Erwägungen es den Schluss ziehe, dass zur Eingehung einer Ehe jedenfalls das Mindestalter von 16 Jahren überschritten sein müsse und auch eine Heilung des Mangels der Ehefähigkeit gemäß § 22 Abs. 2 EheG nicht möglich sei. Dies stelle eine krasse Fehleinschätzung im Hinblick auf die Auslegung des § 22 Abs. 2 EheG dar. Auch sei der ursprüngliche Mangel bei der Ehefähigkeit im Zeitpunkt der Eheschließung zwischen dem Revisionswerber und der Bezugsperson selbst nach österreichischem Recht nach mittlerweile über 18 Jahren Ehe als geheilt anzusehen. Zudem fehle es an jeglichen Feststellungen, die auf eine Einschränkung der Willensfreiheit oder das Anknüpfen an Bedingungen hinsichtlich der Eheschließung schließen ließen. Hätte das BVwG diesbezüglich Zweifel gehabt, hätte es eine mündliche Verhandlung zur Einvernahme der Bezugsperson durchführen müssen. Selbiges gelte für die Ausführungen des BVwG zu einem „Zu-Erkennen-Geben der Ehegattin im Hinblick auf die Fortsetzung der Ehe“.
14Die ÖB Teheran hat keine Revisionsbeantwortung erstattet.
15Der Verwaltungsgerichtshof hat in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat erwogen:
16Die Revision ist aus den von ihr dargelegten Gründen zulässig; sie ist auch begründet.
17Der Verwaltungsgerichtshof hat sich bereits in seinem Erkenntnis vom , Ra 2020/14/0006, mit der Vorbehaltsklausel des § 6 IPRG im Zusammenhang mit der Eheschließung mit einer minderjährigen Person befasst; auf die Begründung dieser Entscheidung wird gemäß § 43 Abs. 2 letzter Satz VwGG verwiesen.
18Im Besonderen führte der Verwaltungsgerichtshof in diesem Erkenntnis neben dem Erfordernis der Ermittlung des anzuwendenden Sachrechts aus, dass bei der Beurteilung, ob eine dem „ordre public“ widerstreitende Kinderehe vorliegt, darauf Bedacht zu nehmen ist, ob die Entscheidung über die Eheschließung ohne Einschränkung der Willensfreiheit, insbesondere ob die Ehe selbstbestimmt und ohne Zwang eingegangen wurde, und ohne Anknüpfung an Bedingungen erfolgt ist. Durch die Eheschließung und das im Eheband erfolgte Leben darf zudem der Schutz des Kindeswohles, insbesondere die Wahrung der (Persönlichkeits-)Rechte des Minderjährigen sowie der Schutz vor Ausbeutung und unzulässigen Verpflichtungen jeglicher Art, nicht in wesentlicher Weise beeinträchtigt sein. Dabei wird - neben der stets bei der Prüfung nach § 6 IPRG zu beachtenden Intensität der Inlandsbeziehung - regelmäßig dem Alter der Ehepartner und im Besonderen der daraus resultierenden Einsichtsfähigkeit nicht unwesentliche Bedeutung zukommen. Zudem sind der Bestand, die Dauer und die Ausgestaltung der Ehe sowie der Wille des minderjährigen Ehepartners einer näheren Betrachtung zu unterwerfen. Aber auch weitere, den Einzelfall betreffende Umstände, etwa ob in Bezug auf die Eheschließung eine ernsthafte (und nicht bloß formelhafte) Überprüfung der Reife der Ehepartner und der Bereitschaft, die Ehe aus freien Stücken einzugehen, durch Behörden oder Gerichte stattgefunden hat, werden ebenso Berücksichtigung zu finden haben, wie der Wille des bei Eheschließung noch minderjährigen, aber mittlerweile volljährigen Ehepartners, die Ehe fortzusetzen, und worauf dieser Entschluss zurückzuführen ist. Dabei ist insoweit ein strenger Maßstab anzulegen, als jedenfalls verlässlich ausgeschlossen werden können muss, dass von einer von einer minderjährigen Person im Ausland geschlossenen Ehe, die Rechtswirkungen im Inland zeitigen soll, eine Gefährdung des „ordre public“ ausgeht, indem eine maßgebliche Beeinträchtigung des Kindeswohles oder des freien Ehewillens vorliegt (vgl. , Rn. 58ff).
19In Ansehung dieser Rechtsprechung hätte das BVwG somit das maßgebliche ausländische Recht - das BFA geht in seiner Stellungnahme an die ÖB Teheran von einer Eheschließung im Iran aus, das BVwG von einer Eheschließung in Afghanistan - zu ermitteln gehabt, und hierzu nachvollziehbare Feststellungen, einschließlich jener zu der nach diesem Recht zu beurteilenden Frage der Gültigkeit der Ehe, zu treffen gehabt. Weiters hätte es sich - unter der Voraussetzung, dass es sich um eine nach dem fremden Recht gültige Ehe handelt - unter Einbeziehung des Beschwerdevorbringens und der im Verfahren erstatteten Stellungnahmen des Revisionswerbers damit auseinandersetzen müssen, ob im hier vorliegenden konkreten Fall von einem Verstoß gegen den „ordre public“ auszugehen ist. Dabei hätte es insbesondere berücksichtigen müssen, ob die in Frage stehende Eheschließung ohne Einschränkung der Willensfreiheit erfolgt ist. In diesem Zusammenhang ist im Übrigen hervorzuheben, dass der zum Entscheidungszeitpunkt 40 Jahre alte Revisionswerber im Verfahren und in der Revision vorgebracht hat, dass er mit der Bezugsperson drei gemeinsame Kinder habe, die Bezugsperson bereits 33 Jahre alt sei und im Verfahren den Willen kundgetan habe, das seit dem Jahr 2002 bestehende Familienleben mit dem Revisionswerber fortzusetzen.
20Das BVwG hat sein Erkenntnis in Verkennung der Rechtslage mit inhaltlicher Rechtswidrigkeit belastet, weshalb dieses gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG wegen prävalierender Rechtswidrigkeit des Inhaltes aufzuheben war.
21Die Entscheidung über den Aufwandersatz gründet sich auf die § 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2014.
Wien, am
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ECLI: | ECLI:AT:VWGH:2021:RO2021180001.J00 |
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