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VwGH vom 25.04.2022, Ro 2020/21/0008

VwGH vom 25.04.2022, Ro 2020/21/0008

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Pelant, Senatspräsident Dr. Sulzbacher, Hofrat Dr. Pfiel, Hofrätin Dr. Julcher und Hofrat Dr. Schwarz als Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag.a Eraslan, über die Revision des I A, vertreten durch Mag. Clemens Lahner, Rechtsanwalt in 1070 Wien, Burggasse 116, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichtes vom , W112 2183095-1/30E, betreffend Abschiebung (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl), zu Recht erkannt:

Spruch

Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.

Der Bund hat dem Revisionswerber Aufwendungen in der Höhe von € 1.346,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

1Der Revisionswerber, ein Staatsangehöriger von Marokko, wurde am in Anwendung der Verordnung (EU) Nr. 604/2013, im Folgenden: Dublin III-VO, im Wege der Abschiebung von Österreich nach Italien überstellt. Dagegen erhob er fristgerecht eine Beschwerde, weil die Überstellung trotz des mit eingetretenen Ablaufs der hierfür gemäß Art. 29 Abs. 1 Unterabs. 1 der Dublin III-VO zur Verfügung stehenden sechsmonatigen Frist vorgenommen worden sei.

2Diese Beschwerde wies das Bundesverwaltungsgericht (BVwG) im zweiten Rechtsgang mit dem vor dem Verwaltungsgerichtshof angefochtenen Erkenntnis vom , in dem es gemäß § 25a Abs. 1 VwGG die Revision nach Art. 133 Abs. 4 B-VG für zulässig erklärte, als unbegründet ab. In seiner Begründung ging das BVwG dabei im Ergebnis von folgendem Sachverhalt aus:

3Der Revisionswerber reiste im Oktober 2016 von Libyen kommend nach Italien ein, wo er am erkennungsdienstlich behandelt wurde. In der Folge begab er sich nach Österreich und stellte am einen Antrag auf internationalen Schutz. Hierauf wurde ein Konsultationsverfahren nach der Dublin III-VO geführt und am ein auf Art. 13 Abs. 1 der genannten Verordnung gestütztes Aufnahmegesuch an die italienischen Behörden gerichtet. Dieses Ersuchen blieb unbeantwortet. Infolgedessen wurde den italienischen Behörden am  mitgeteilt, dass damit gemäß Art. 22 Abs. 7 der Dublin III-VO der Aufnahme des Revisionswerbers zugestimmt worden sei und die Überstellungsfrist am begonnen habe.

4In der Folge wies das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) den vom Revisionswerber gestellten Antrag auf internationalen Schutz mit Bescheid vom gemäß § 5 Abs. 1 AsylG 2005 zurück. Unter einem stellte das BFA fest, dass gemäß Art. 13 Abs. 1 iVm Art. 22 Abs. 7 der Dublin III-VO Italien zur Antragsprüfung zuständig sei, ordnete gemäß § 61 Abs. 1 Z 1 FPG die Außerlandesbringung des Revisionswerbers (nach Italien) an und sprach aus, dass die Abschiebung des Revisionswerbers dorthin gemäß § 61 Abs. 2 FPG zulässig sei.

5Gegen diesen Bescheid erhob der Revisionswerber eine Beschwerde, die dem BVwG am vorgelegt wurde. Diese Beschwerde, der keine aufschiebende Wirkung zukam, zog der Revisionswerber mit Schriftsatz seines Rechtsvertreters vom wieder zurück, was die mit Beschluss des BVwG vom ausgesprochene Einstellung des Beschwerdeverfahrens nach sich zog.

6Die bereits für den organisierte Überstellung des Revisionswerbers nach Italien war gescheitert, weil er damals in der psychiatrischen Abteilung eines Krankenhauses in Wien untergebracht war, wobei die Unterbringung nach dem Unterbringungsgesetz von einem Wiener Bezirksgericht zunächst mit Beschluss vom für vorläufig zulässig und dann mit Beschluss vom für den Zeitraum bis für zulässig erklärt worden war. Hierauf wurde den italienischen Behörden am  mitgeteilt, dass sich die Überstellungsfrist wegen der Anhaltung des Revisionswerbers gemäß Art. 29 Abs. 2 der Dublin III-VO auf zwölf Monate verlängert habe.

7Diese gerichtlich gebilligte Unterbringung des Revisionswerbers wurde am vorzeitig beendet; er wurde zwei Tage später aus der Spitalspflege entlassen. Hierauf erfolgte die eingangs in Rn. 1 erwähnte Überstellung (Abschiebung) des Revisionswerbers nach Italien am auf dem Luftweg, die in Begleitung einer Polizeieskorte und einer Ärztin ohne besondere Vorkommnisse durchgeführt wurde. Einem vom Revisionswerber in Italien am gestellten Antrag auf internationalen Schutz wurde am stattgegeben.

8In der rechtlichen Beurteilung ging das BVwG davon aus, die mit Bescheid des BFA vom verfügte Anordnung zur Außerlandesbringung des Revisionswerbers sei durchsetzbar und durchführbar gewesen. Die Anordnung zur Außerlandesbringung sei auch vor der Abschiebung am nicht außer Kraft getreten.

9Die sechsmonatige Frist nach Art. 29 Abs. 1 Unterabs. 1 der Dublin III-VO für die Überstellung des Revisionswerbers nach Italien sei zwar am abgelaufen. Österreich habe aber Italien schon davor mitgeteilt, dass sich die Überstellungsfrist wegen der Anhaltung des Revisionswerbers gemäß Art. 29 Abs. 2 der Dublin III-VO verlängere. Der Revisionswerber habe sich zwar weder in Untersuchungs- noch in Strafhaft befunden. Allerdings sei er vom 20. September bis zum infolge freiwilliger stationärer Aufnahme in psychiatrischer Behandlung gewesen. Vom bis zum sei er aufgrund von Beschlüssen eines Wiener Bezirksgerichtes in der psychiatrischen Abteilung eines Krankenhauses untergebracht worden. Vom 4. bis zum sei er wieder freiwillig in Spitalsbehandlung gewesen.

10Der Zeitraum, in dem der Revisionswerber gegen seinen Willen durch Gerichtsbeschluss in einer psychiatrischen Anstalt untergebracht worden sei, sei - wie das BVwG näher begründete - einer „Inhaftierung“, die nach Art. 29 Abs. 2 Dublin III-VO zur Verlängerung der Überstellungsfrist auf zwölf Monate führen könne, gleichzuhalten. Italien sei somit zu Recht mitgeteilt worden, dass der Revisionswerber angehalten worden sei. Die Überstellungsfrist sei dadurch auf zwölf Monate verlängert worden, also bis zum . Die Überstellungsfrist sei daher im Zeitpunkt der Abschiebung noch nicht abgelaufen gewesen. Auch die weiteren Voraussetzungen für eine rechtmäßige Abschiebung seien vorgelegen.

11Gegen dieses Erkenntnis richtet sich die vorliegende (ordentliche) Revision, über die das BVwG das Vorverfahren durchführte, in dem das BFA eine Revisionsbeantwortung erstattete.

12Über diese Revision hat der Verwaltungsgerichtshof erwogen:

13In der vorliegenden Revisionssache ist insbesondere Art. 29 Dublin III-VO von Bedeutung, der auszugsweise lautet:

„Überstellung

Artikel 29

Modalitäten und Fristen

(1) Die Überstellung des Antragstellers oder einer anderen Person im Sinne von Artikel 18 Absatz 1 Buchstabe c oder d aus dem ersuchenden Mitgliedstaat in den zuständigen Mitgliedstaat erfolgt gemäß den innerstaatlichen Rechtsvorschriften des ersuchenden Mitgliedstaats nach Abstimmung der beteiligten Mitgliedstaaten, sobald dies praktisch möglich ist und spätestens innerhalb einer Frist von sechs Monaten nach der Annahme des Aufnahme- oder Wiederaufnahmegesuchs durch einen anderen Mitgliedstaat oder der endgültigen Entscheidung über einen Rechtsbehelf oder eine Überprüfung, wenn diese gemäß Artikel 27 Absatz 3 aufschiebende Wirkung hat.

...

(2) Wird die Überstellung nicht innerhalb der Frist von sechs Monaten durchgeführt, ist der zuständige Mitgliedstaat nicht mehr zur Aufnahme oder Wiederaufnahme der betreffenden Person verpflichtet und die Zuständigkeit geht auf den ersuchenden Mitgliedstaat über. Diese Frist kann höchstens auf ein Jahr verlängert werden, wenn die Überstellung aufgrund der Inhaftierung der betreffenden Person nicht erfolgen konnte, oder höchstens auf achtzehn Monate, wenn die betreffende Person flüchtig ist.

...“

14Mit Beschluss des Verwaltungsgerichtshofes vom , EU 2021/0001, wurde dem Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH) nach Art. 267 AEUV in erster Linie folgende Frage zur Vorabentscheidung vorgelegt:

„Ist unter einer Inhaftierung im Sinne des Art. 29 Abs. 2 Satz 2 der Verordnung (EU) Nr. 604/2013 [...] auch eine von einem Gericht für zulässig erklärte Unterbringung des Betroffenen in der psychiatrischen Abteilung einer Krankenanstalt gegen oder ohne seinen Willen (hier aufgrund einer sich aus seiner psychischen Erkrankung ergebenden Eigen- und Fremdgefährdung) zu verstehen?“

15Mit Urteil vom , C-231/21, hat der EuGH diese Frage wie folgt beantwortet:

„Art. 29 Abs. 2 Satz 2 der Verordnung (EU) Nr. 604/2013 [...] ist dahin auszulegen, dass der in dieser Bestimmung verwendete Begriff ‚Inhaftierung‘ nicht anwendbar ist, wenn ein Asylbewerber zwangsweise mit gerichtlicher Genehmigung in einer psychiatrischen Abteilung eines Krankenhauses untergebracht wird, weil er aufgrund einer psychischen Erkrankung eine erhebliche Gefahr für sich selbst oder für die Gesellschaft darstellt.“

Unter dem Begriff „Inhaftierung“ seien nämlich nur Untersuchungs- und Strafhaften zu verstehen, was sich - so begründete der EuGH im Wesentlichen dieses Urteil - einerseits aus dem Wortlaut der überwiegenden Sprachfassungen und andererseits aus dem Umstand ergebe, dass Ausnahmen (von der allgemeinen Regel einer sechsmonatigen Überstellungsfrist) eng auszulegen seien.

16Hieraus folgt, dass der Lauf der sechsmonatigen Überstellungsfrist gemäß Art. 29 Abs. 1 Unterabs. 1 der Dublin III-VO, der im vorliegenden Fall (unbestritten) am begonnen hatte, mit Ablauf des endete; zu einer Fristverlängerung nach Art. 29 Abs. 2 Satz 2 der Dublin III-VO ist es nicht gekommen. Da der Revisionswerber nicht vor Ablauf der in Art. 29 Abs. 1 Unterabs. 1 der Dublin III-VO vorgesehenen Frist von sechs Monaten nach Italien überstellt wurde, ging die Zuständigkeit auf Österreich als den ersuchenden Mitgliedstaat über (vgl. das in dieser Sache im ersten Rechtsgang ergangene Erkenntnis , Rn. 13, und , Rn. 13, jeweils mit dem Hinweis auf EuGH [Große Kammer] , Shiri, C-201/16, insbesondere Rn. 30 und 39).

17Aus diesem mit Ablauf der sechsmonatigen Überstellungsfrist eingetretenen Zuständigkeitsübergang und der damit verbundenen Pflicht zur inhaltlichen Prüfung des Antrages auf internationalen Schutz folgt - wegen bei rechtskonformer Vorgangsweise eingetretenen Wegfalls der zugrundeliegenden Entscheidungen (vgl. dazu des Näheren noch einmal , nunmehr Rn. 22 und 24) - die Rechtswidrigkeit der gegenständlich bekämpften, am durchgeführten Abschiebung des Revisionswerbers.

18Das angefochtene Erkenntnis, dem eine davon abweichende Rechtsansicht zugrunde liegt, war daher gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufzuheben.

19Von der Durchführung der in der Revision beantragten Verhandlung vor dem Verwaltungsgerichtshof konnte gemäß § 39 Abs. 2 Z 6 VwGG abgesehen werden.

20Die Kostentscheidung gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2014.

Wien, am

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ECLI:
ECLI:AT:VWGH:2022:RO2020210008.J00

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