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VwGH vom 17.04.2020, Ro 2020/21/0004

VwGH vom 17.04.2020, Ro 2020/21/0004

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch die Vorsitzende Vizepräsidentin Dr.in Sporrer als Richterin sowie die Hofräte Dr. Pelant und Dr. Sulzbacher als Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag.a Eraslan, über die Revision des R A in W, vertreten durch Mag. Nora Huemer-Stolzenburg, Rechtsanwältin in 1220 Wien, Schüttaustraße 69/46, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichtes vom , W186 2224565-1/7E, betreffend Schubhaft (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl), zu Recht erkannt:

Spruch

Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.

Der Bund hat dem Revisionswerber Aufwendungen in der Höhe von € 1.106,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

1Der Revisionswerber ist afghanischer Staatsangehöriger. Nach seiner Einreise nach Österreich stellte er am einen Antrag auf internationalen Schutz, den das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) mit Bescheid vom vollinhaltlich abwies; unter einem sprach das BFA aus, dass dem Revisionswerber ein Aufenthaltstitel gemäß § 57 AsylG 2005 nicht erteilt werde, erließ gegen ihn eine Rückkehrentscheidung, stellte gemäß § 52 Abs. 9 FPG fest, dass seine Abschiebung nach Afghanistan zulässig sei und gewährte eine Frist für die freiwillige Ausreise.

2Der Revisionswerber erhob gegen diesen Bescheid Beschwerde. Während offenen Beschwerdeverfahrens verstieß er gegen das SMG und wurde deswegen zunächst am zu einer bedingt nachgesehenen zehnmonatigen Freiheitsstrafe und dann am zu einer teilbedingten neunmonatigen Freiheitsstrafe (unbedingter Strafteil drei Monate) verurteilt. Er befand sich deswegen zuletzt bis in Strafhaft.

3Im unmittelbaren Anschluss an die Strafhaft wurde der Revisionswerber in Schubhaft übernommen. Grundlage hierfür war ein Bescheid des BFA vom , mit dem gegen den Revisionswerber - verbunden mit dem Ausspruch, dass die Rechtsfolgen dieses Bescheides nach seiner Entlassung aus „der derzeitigen Haft“ eintreten - gemäß § 76 Abs. 2 Z 1 FPG die Schubhaft angeordnet worden war, uzw. zum Zwecke der Sicherung des Verfahrens über einen Antrag auf internationalen Schutz im Hinblick auf die Erlassung einer aufenthaltsbeendenden Maßnahme.

4Die gegen diesen Bescheid erhobene Beschwerde wies das Bundesverwaltungsgericht (BVwG) mit dem nunmehr angefochtenen Erkenntnis vom als unbegründet ab. Außerdem stellte das BVwG fest, dass die für die Fortsetzung der Schubhaft maßgeblichen Voraussetzungen zum Zeitpunkt der Entscheidung vorlägen und traf diesem Ergebnis entsprechende Kostenentscheidungen.

5Das BVwG stellte insbesondere fest, dass die vom Revisionswerber gegen den Asylbescheid vom erhobene Beschwerde - nach wie vor - beim BVwG anhängig sei und dass - so dann im Rahmen der rechtlichen Beurteilung - der Ausgang dieses „Asyl(beschwerde)verfahrens hinsichtlich zeitlicher und inhaltlicher Aspekte“ nicht abgesehen werden könne. Rechtlich gelangte das BVwG zu dem Ergebnis, dass ausgehend von den Straftaten des Revisionswerbers von einer Gefährdung im Sinn des § 67 Abs. 1 FPG auszugehen sei und dass - insbesondere mangels sozialer Verankerung des Revisionswerbers in Österreich - Fluchtgefahr vorliege. Bezugnehmend auf den in der Schubhaftbeschwerde erhobenen Einwand, der Revisionswerber befinde sich im offenen Asylverfahren und warte auf dessen Ausgang, es sei (noch) keine Beschwerdeverhandlung vor dem BVwG „in naher Zukunft anberaumt“ worden und die Dauer der Schubhaft sei „dahingehend nicht absehbar“, weshalb sich die Anhaltung nicht als verhältnismäßig erweise, führte das BVwG dann noch - wörtlich - Folgendes aus:

„Der angewandte Tatbestand [§ 76 Abs. 2 Z 1 FPG] stellt eine Ausnahmebestimmung zu der Regel dar, dass ‚Asylwerber‘ nicht in Schubhaft genommen werden dürfen. Dass ein Verfahren daher (in jeder Hinsicht) offen ist, stellt ein wesentliches Element bei der Anwendung des § 76 Abs. 2 Z 1 FPG dar. Würde der Umstand, dass das Verfahren offen ist, die Anwendung des § 76 Abs. 2 Z 1 unter dem Gesichtspunkt der Verhältnismäßigkeit ausschließen, verlöre diese Bestimmung generell ihre Anwendbarkeit. Die Normierung einer prinzipiell nicht anwendbaren Bestimmung kann aber dem Gesetzgeber nicht zugesonnen werden. Aus diesem Grund geht das Gericht - trotz der nicht absehbaren Haftdauer - von der Verhältnismäßigkeit der Inschubhaftnahme des [Revisionswerbers] aus.“

6Insoweit erkannte das BVwG allerdings „eine (offene) Rechtsfrage“, weshalb es in Bezug auf die Abweisung der Schubhaftbeschwerde und die Feststellung, dass die für die Fortsetzung der Schubhaft maßgeblichen Voraussetzungen zum Zeitpunkt der Entscheidung vorliegen, eine Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG für zulässig erklärte.

7Gegen dieses Erkenntnis richtet sich die vorliegende ordentliche Revision, über die der Verwaltungsgerichtshof nach Durchführung des Vorverfahrens - eine Revisionsbeantwortung wurde nicht erstattet - und Vorlage der Akten durch das BVwG (§ 30a Abs. 4 bis 6 VwGG) erwogen hat:

8Die Revision ist zulässig und berechtigt.

9Der Revisionswerber war bis zuletzt Asylwerber und genoss ungeachtet dessen, dass er angesichts der strafrechtlichen Verurteilungen sein asylrechtliches Aufenthaltsrecht nach § 13 Abs. 2 AsylG 2005 verloren hatte, gemäß § 13 Abs. 3 AsylG 2005 (weiterhin) faktischen Abschiebeschutz. Im Hinblick darauf kam die Verhängung von Schubhaft gegen den Revisionswerber von vornherein nur nach dem - vom BFA auch herangezogenen - Schubhafttatbestand des § 76 Abs. 2 Z 1 FPG in Betracht.

10Gemäß § 76 Abs. 2 Z 1 FPG darf Schubhaft nur angeordnet werden, wenn dies zur Sicherung des Verfahrens über einen Antrag auf internationalen Schutz im Hinblick auf die Erlassung einer aufenthaltsbeendenden Maßnahme notwendig ist, sofern der Aufenthalt des Fremden die öffentliche Ordnung oder Sicherheit gemäß § 67 FPG gefährdet, Fluchtgefahr vorliegt und die Schubhaft verhältnismäßig ist.

11(Auch) Verhängung von Schubhaft nach § 76 Abs. 2 Z 1 FPG ist daran geknüpft, dass sich die konkrete Schubhaft als verhältnismäßig erweist. Das ergibt sich schon aus dem Wortlaut des § 76 Abs. 2 Z 1 FPG und ist im Übrigen auch aus verfassungsrechtlichen Gründen (vgl. etwa , VfSlg. 19.472/2011, Punkt III.2. der Entscheidungsgründe) geboten.

12Im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung ist zufolge § 76 Abs. 2a FPG ein strafrechtlich relevantes Fehlverhalten des Fremden „in Betracht zu ziehen“. Nach der mittlerweile gefestigten Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes ist aber - neben dem Gesichtspunkt des § 76 Abs. 2a FPG - auch die Frage der voraussichtlichen Dauer des Asylverfahrens bzw. eines dem Asylwerber weiterhin zukommenden „Bleiberechts“ einzubeziehen (vgl. etwa , Rn. 17, , Rn. 17, und zuletzt , Rn. 12).

13Das angefochtene Erkenntnis trägt dem nicht Rechnung. Die in der oben (siehe Rn. 5) wörtlich wiedergegebenen Passage angestellte Überlegung, ein offenes Asylverfahren schließe unter dem Gesichtspunkt der Verhältnismäßigkeit nicht (per se) die Anwendung des § 76 Abs. 2 Z 1 FPG aus, ist zwar zutreffend. Die offenkundig auch vertretene Ansicht, dass die zukünftige Dauer des Asylverfahrens keine Rolle spiele und im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung unbeachtlich sei, erweist sich jedoch vor dem Hintergrund der erwähnten Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes als verfehlt. Es kann auch - entgegen der Argumentation des BVwG - nicht gesehen werden, dass die Miteinbeziehung dieses zeitlichen Aspekts dem Schubhafttatbestand des § 76 Abs. 2 Z 1 FPG jede Anwendbarkeit nehmen würde.

14Wenn das BVwG in diesem Zusammenhang einer nicht näher abschätzbaren weiteren Dauer des Asylverfahrens und damit folgend der nicht absehbaren Dauer der weiteren Anhaltung nach § 76 Abs. 2 Z 1 FPG im Ergebnis jegliche Bedeutung absprechen will, so widerspricht das auch dem Grundsatz, dass eine Schubhaft nur dann verhängt und aufrechterhalten werden darf, wenn ihr Zweck innerhalb der Schubhafthöchstdauer voraussichtlich realisiert werden kann (so ausdrücklich in Bezug auf Schubhaft zur Sicherung der Abschiebung etwa , Rn. 10). Schubhaft nach § 76 Abs. 2 Z 1 FPG ist nämlich gemäß § 80 Abs. 5 FPG insoweit zeitlich beschränkt, als sie bis zum Zeitpunkt des Eintritts der Durchsetzbarkeit der aufenthaltsbeendenden Maßnahme die Dauer von zehn Monaten nicht überschreiten darf. Wäre - ungeachtet der gesetzlichen Entscheidungsfristen (siehe vor allem § 22 Abs. 6 AsylG 2005), von deren Einhaltung, wie der vorliegende Fall exemplarisch zeigt, aber nicht ohne Weiteres ausgegangen werden kann - von vornherein damit zu rechnen, dass es innerhalb dieses Zeitrahmens nicht zur Erlassung einer durchsetzbaren aufenthaltsbeendenden Maßnahme kommen werde, so erwiese sich eine dennoch verhängte oder aufrechterhaltene Schubhaft nach § 76 Abs. 2 Z 1 FPG somit regelmäßig als rechtswidrig. Die nach der genannten Bestimmung verhängte Schubhaft „zur Sicherung des Verfahrens über einen Antrag auf internationalen Schutz im Hinblick auf die Erlassung einer aufenthaltsbeendenden Maßnahme“ kann ihren Zweck nämlich nur dann entfalten, wenn der Fremde dann auch für den Vollzug der aufenthaltsbeendenden Maßnahme (Abschiebung) zur Verfügung steht (siehe in diesem Sinn nochmals , Rn. 17, wo festgehalten wurde, dass eine auf § 76 Abs. 2 Z 1 FPG gestützte Haft aus verfassungsrechtlichen Gründen nur dann verhängt werden kann, wenn das in dieser Bestimmung genannte zu sichernde Verfahren auch in eine Abschiebung münden kann).

15Auch so gesehen erweist es sich als unverzichtbar, bei Schubhaft nach § 76 Abs. 2 Z 1 FPG die Dauer des Asylverfahrens näher in den Blick zu nehmen und Ermittlungen (naheliegend durch Erkundigungen beim zuständigen Entscheidungsorgan) dazu anzustellen, wann mit dessen Abschluss gerechnet werden könne. Das hat das BVwG in Verkennung der Rechtslage unterlassen, weshalb das angefochtene Erkenntnis - auch wenn es zutreffen mag, dass im Sinn der Überlegungen des BVwG der Aufenthalt des Revisionswerbers die öffentliche Ordnung oder Sicherheit gemäß § 67 FPG gefährdet, was die Revision aber in Abrede stellt - in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufzuheben war.

16Von der Durchführung der beantragten Verhandlung vor dem Verwaltungsgerichtshof konnte gemäß § 39 Abs. 2 Z 4 VwGG abgesehen werden.

17Der Spruch über den Aufwandersatz gründet sich auf die § 47 ff VwGG iVm der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2014.

Wien, am

Zusatzinformationen


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ECLI:
ECLI:AT:VWGH:2020:RO2020210004.J00
Schlagworte:
Auslegung Anwendung der Auslegungsmethoden Bindung an den Wortlaut des Gesetzes VwRallg3/2/1 Besondere Rechtsgebiete

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