VwGH vom 16.06.2021, Ro 2020/18/0003
Betreff
Der Verwaltungsgerichtshof hat durch die Vorsitzende Vizepräsidentin Dr.in Sporrer, den Hofrat Dr. Sutter und die Hofrätin Dr.in Sembacher als Richterinnen und Richter, unter Mitwirkung des Schriftführers Mag. Wuketich, über die Revision des Bundesamts für Fremdenwesen und Asyl in 1030 Wien, Modecenterstraße 22, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom , W114 2174297-1/27E, betreffend eine Angelegenheit nach dem AsylG 2005 (mitbeteiligte Partei: M H, vertreten durch Mag. Sarah Kumar, Rechtsanwältin in 8010 Graz, Schießstattgasse 30/1), zu Recht erkannt:
Spruch
Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.
Ein Aufwandersatz findet nicht statt.
Begründung
1Die mitbeteiligte Partei, ein Staatsangehöriger Afghanistans, stellte am einen Antrag auf internationalen Schutz.
2Das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) wies diesen Antrag mit Bescheid vom sowohl hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten als auch hinsichtlich der Zuerkennung des Status eines subsidiär Schutzberechtigten ab, erteilte keinen Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen, erließ gegen die mitbeteiligte Partei eine Rückkehrentscheidung, stellte fest, dass ihre Abschiebung nach Afghanistan zulässig sei, und setzte eine Frist von 14 Tagen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung für die freiwillige Ausreise fest.
3Mit Erkenntnis vom wies das Bundesverwaltungsgericht (BVwG) die gegen diesen Bescheid erhobene Beschwerde nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung ab und erklärte die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG für nicht zulässig.
4Dagegen wandte sich die mitbeteiligte Partei an den Verfassungsgerichtshof. Dieser lehnte die Behandlung der Beschwerde, soweit sie sich gegen die Abweisung des Antrags auf Gewährung des Status eines Asylberechtigten wandte, ab und behob die darüberhinausgehende Entscheidung des BVwG wegen Verstoßes gegen das Recht auf Gleichbehandlung aller Fremden untereinander. Begründend führte der Verfassungsgerichtshof aus, das BVwG habe es verabsäumt, sich im Rahmen seiner Entscheidung mit näher genannten Länderberichten zur Situation von afghanischen Staatsangehörigen, die über längere Zeit im Ausland gelebt hätten, auseinanderzusetzen.
5Mit dem nunmehr in Revision gezogenen Erkenntnis erkannte das BVwG der mitbeteiligten Partei den Status eines subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan zu und erteilte eine befristete Aufenthaltsberechtigung. Unter einem behob das BVwG die Spruchpunkte III. und IV. des Bescheids des BFA. Die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG erklärte das BVwG für zulässig.
6Begründend führte das BVwG unter anderem aus, dass der (im Iran geborenen) mitbeteiligten Partei im Lichte der aktuellen Covid-19-Pandemie keine zumutbare innerstaatliche Fluchtalternative in Afghanistan zur Verfügung stünde.
7Die vorliegende Amtsrevision richtet sich gegen dieses Erkenntnis und bringt zur Begründung ihrer Zulässigkeit - unter anderem - ein Abweichen von den im Erkenntnis des Verwaltungsgerichtshofes vom , Ra 2018/18/0001, dargelegten Kriterien für die Zumutbarkeit der Inanspruchnahme einer innerstaatlichen Fluchtalternative und entsprechende Begründungsmängel des angefochtenen Erkenntnis vor.
8Die mitbeteiligte Partei erstattete eine Revisionsbeantwortung und beantragte die Zurückweisung der Revision, hilfsweise ihre Abweisung, sowie Kostenersatz.
9Der Verwaltungsgerichtshof hat in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat erwogen:
10Die vorliegende Amtsrevision erweist sich aus den in ihr genannten Gründen als zulässig. Sie ist auch begründet:
11Im gegenständlichen Fall ist strittig, ob der mitbeteiligten Partei in den afghanischen Städten Mazar-e Sharif oder Herat eine zumutbare innerstaatliche Fluchtalternative im Sinne des § 11 Abs. 1 AsylG 2005 zur Verfügung steht, die eine Zuerkennung von subsidiärem Schutz ausschließt.
12Um von einer zumutbaren innerstaatlichen Fluchtalternative sprechen zu können, reicht es nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes nicht aus, dem Asylwerber entgegen zu halten, dass er in diesem Gebiet keine Folter oder unmenschliche oder erniedrigende Behandlung zu erwarten hat. Es muss ihm vielmehr möglich sein, im Gebiet der innerstaatlichen Fluchtalternative nach allfälligen anfänglichen Schwierigkeiten Fuß zu fassen und dort ein Leben ohne unbillige Härten zu führen, wie es auch andere Landsleute führen können. Ob dies der Fall ist, erfordert eine Beurteilung der allgemeinen Gegebenheiten im Herkunftsstaat und der persönlichen Umstände des Asylwerbers. Es handelt sich letztlich um eine Entscheidung im Einzelfall, die auf der Grundlage ausreichender Feststellungen über die zu erwartende Lage des Asylwerbers in dem in Frage kommenden Gebiet sowie dessen sichere und legale Erreichbarkeit getroffen werden muss (vgl. , mwN).
13Im vorliegenden Fall hat das BVwG zwar eine einzelfallbezogene Abwägung der für und gegen das Vorhandensein einer innerstaatlichen Fluchtalternative sprechenden Gründe vorgenommen, dabei aber wesentliche Umstände außer Acht gelassen bzw. mangelhaft begründet.
14Das BVwG ging u.a. davon aus, dass der mitbeteiligten Partei durch bereits bestehende Ausgangsbeschränkungen in Herat, Mazar-e Sharif und Kabul sowie durch „mögliche bzw. wahrscheinliche zukünftige Ausgangsbeschränkungen in weiteren Städten oder Orten in Afghanistan“ die Suche nach Arbeit unmöglich sei. Rückkehrhilfe könne er wegen der zahlreichen Rückkehrer aus dem Iran und Pakistan, wenn überhaupt, nur minimal in Anspruch nehmen.
15Die Amtsrevision macht zu Recht geltend, dass diese Erwägungen durch keine entsprechenden Tatsachenfeststellungen im angefochtenen Erkenntnis gedeckt sind. Insbesondere lässt sich der Begründung nicht entnehmen, ob und welche Ausgangsbeschränkungen im maßgeblichen Zeitpunkt der Entscheidung des BVwG etwa in der afghanischen Stadt Mazar-e Sharif gegeben waren, die einer Arbeitssuche entgegenstünden. Auch fehlen im angefochtenen Erkenntnis jegliche Feststellungen zur Sicherheits- und Versorgungslage in den Gebieten, die als innerstaatliche Fluchtalternative in Betracht kämen. Die Amtsrevision verweist überdies - mit näherer Begründung - zutreffend darauf, dass die in Rede stehende Rückkehrhilfe für aus Österreich zurückkehrende afghanische Asylwerber von jener unterschieden werden müsste, die für Rückkehrer aus dem Iran und Pakistan vorgesehen sei.
16Schon wegen dieser Begründungsmängel kann das angefochtene Erkenntnis keinen Bestand haben und war daher wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 lit. b und c VwGG aufzuheben.
17Ein Kostenersatz findet nicht statt, weil Mitbeteiligte nach § 47 Abs. 3 VwGG Anspruch auf Aufwandersatz nur im Fall der Abweisung der Revision insgesamt haben (vgl. ).
Wien, am
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ECLI: | ECLI:AT:VWGH:2021:RO2020180003.J00 |
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