VwGH vom 03.12.2021, Ro 2020/18/0001
Betreff
Der Verwaltungsgerichtshof hat durch die Vorsitzende Vizepräsidentin Dr.in Sporrer als Richterin sowie die Hofräte Mag. Nedwed und Mag. Tolar als Richter, unter Mitwirkung des Schriftführers Mag. Wuketich, über die Revision des A G, in Graz, bei Revisionseinbringung vertreten durch Dr. Wolfgang Vacarescu, Rechtsanwalt in 8010 Graz, Jakominiplatz 16/I, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom , W226 2227419-1/2E, betreffend eine Asylangelegenheit (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl),
I. den Beschluss gefasst:
Die Revision wird zurückgewiesen, soweit sie sich gegen die Aberkennung des Status des Asylberechtigten, die Nichtzuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten und die Nichterteilung eines Aufenthaltstitels gemäß § 57 AsylG 2005 wendet.
II. zu Recht erkannt:
Spruch
In seinem übrigen Umfang wird das angefochtene Erkenntnis wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.
Der Bund hat dem Revisionswerber Aufwendungen in der Höhe von EUR 1.346,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen. Das Mehrbegehren wird abgewiesen.
Begründung
1Der Revisionswerber ist ein Staatsangehöriger der Russischen Föderation und Angehöriger der tschetschenischen Volksgruppe, dem mit Bescheid des Bundesasylamts vom im Wege der Asylerstreckung (abgeleitet von seiner Mutter) der Status des Asylberechtigten zuerkannt wurde. Unter einem stellte das Bundesasylamt fest, dass dem Revisionswerber kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zukomme.
2Im Mai 2019 leitete das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) von Amts wegen ein Aberkennungsverfahren ein.
3Mit Bescheid des BFA vom wurde dem Revisionswerber der Status des Asylberechtigten gemäß § 7 Abs. 1 Z 2 Asylgesetz 2005 (AsylG 2005) aberkannt und festgestellt, dass ihm die Flüchtlingseigenschaft kraft Gesetzes nicht mehr zukomme (Spruchpunkt I.). Dem Revisionswerber wurde der Status des subsidiär Schutzberechtigten nicht zuerkannt (Spruchpunkt II.) und kein Aufenthaltstitel gemäß § 57 AsylG 2005 erteilt (Spruchpunkt III.). Das BFA erließ zudem eine Rückkehrentscheidung (Spruchpunkt IV.), stellte fest, dass die Abschiebung des Revisionswerbers in die Russische Föderation zulässig sei (Spruchpunkt V.), legte eine Frist für die freiwillige Ausreise fest (Spruchpunkt VI.) und erließ gegen den Revisionswerber ein auf die Dauer von fünf Jahren befristetes Einreiseverbot (Spruchpunkt VII.).
4Gegen diesen Bescheid erhob der Revisionswerber Beschwerde, in der er auch die Durchführung einer mündlichen Verhandlung beantragte.
5Das Bundesverwaltungsgericht (BVwG) wies diese Beschwerde mit dem angefochtenen Erkenntnis - ohne Durchführung einer mündlichen Verhandlung - als unbegründet ab (Spruchpunkt A.) und erklärte die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG ohne jede Begründung für zulässig (Spruchpunkt B.).
6Zur Begründung von Spruchpunkt A. führte das BVwG aus, trotz des Umstandes, dass seit der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten an den Revisionswerber bereits 16 Jahre vergangen seien, komme eine Aberkennung des Asylstatus gemäß § 7 Abs. 1 Z 2 AsylG 2005 in Betracht, weil der Revisionswerber in diesem Zeitraum sieben Mal wegen vorsätzlich begangener gerichtlich strafbarer Handlungen verurteilt worden sei (vgl. § 7 Abs. 3 iVm § 2 Abs. 3 AsylG 2005). Da ihm Asyl im Wege der Erstreckung, abgeleitet von seiner Mutter, zuerkannt worden sei, müsse geprüft werden, ob die Gründe der Mutter für deren Flucht nicht oder nicht mehr bestünden. Dies sei der Fall; der Asylstatus der Mutter sei unbestrittenerweise ebenfalls aberkannt worden.
7Subsidiärer Schutz sei nicht zuzuerkennen, da den Revisionswerber eine Rückführung in den Herkunftsstaat keinem realen Risiko einer Verletzung in den durch Art. 2 und 3 EMRK geschützten Rechten aussetzen würde.
8Zur Rückkehrentscheidung führte das BVwG aus, der Revisionswerber sei ledig und Vater von zwei Kindern, mit denen ebenso wie mit der Kindesmutter kein gemeinsamer Wohnsitz bestehe. Die Beziehung des Revisionswerbers zu seinen „ehemaligen Haushaltsmitgliedern“ stelle kein Familienleben im Sinne des Art. 8 EMRK dar, weil diese nicht von ihm abhängig seien. Was das Privatleben betreffe, sei festzuhalten, dass sich der Revisionswerber seit 16 Jahren ohne Unterbrechungen als Asylberechtigter in Österreich aufhalte. Er sei jedoch wegen sieben Straftaten vorbestraft und stelle im Hinblick auf die regelmäßig wiederkehrende Straffälligkeit eine Gefahr für die öffentliche Ordnung und Sicherheit dar. Der Eingriff in das Privatleben sei insgesamt verhältnismäßig. Zwar sei zu Gunsten des Revisionswerbers zu würdigen, dass er bereits im Alter von 14 Jahren nach Österreich gekommen sei, hier prägende Jahre der Adoleszenz verbracht habe und nunmehr neben Russisch und Tschetschenisch auch Deutsch spreche. Er habe in Österreich allerdings keinen „besonderen Freundeskreis“ bzw. einen solchen jedenfalls nicht erwähnt. In seiner Familie habe er „nach den tschetschenischen Sitten und Gebräuchen“ gelebt. Er sei nie einer ehrenamtlichen Tätigkeit nachgegangen und kaum erwerbstätig gewesen. Seine Mutter und „die Geschwister“ würden ebenso wie seine beiden Töchter in Österreich leben. Das BVwG übersehe nicht, dass diese in Österreich aufenthalts- bzw. asylberechtigt seien, allerdings sei auch für diese die Gefährdung im Herkunftsstaat weggefallen. Es liege in deren Sphäre, ob sie die österreichische Staatsbürgerschaft oder einen anderen Aufenthaltstitel anstrebte und danach den Revisionswerber in der Russischen Föderation besuchen würden oder nicht. Außerdem könne der Kontakt über elektronische Medien oder Besuche zB in der Ukraine aufrechterhalten werden. Das öffentliche Interesse an der Hintanhaltung weiterer Straftaten überwiege jedenfalls das Interesse des Revisionswerbers an der Aufrechterhaltung seiner privaten und familiären Bindungen.
9Die vorliegende ordentliche Revision macht zu ihrer Zulässigkeit im Wesentlichen eine Abweichung von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes zur Verhandlungspflicht geltend.
10Das BFA erstattete keine Revisionsbeantwortung.
11Der Verwaltungsgerichtshof hat in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat erwogen:
12Die Revision ist teilweise zulässig und insoweit auch begründet.
Zu Spruchpunkt I.:
13Nach Art. 133 Abs. 4 B-VG ist gegen ein Erkenntnis des Verwaltungsgerichtes die Revision zulässig, wenn sie von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt, insbesondere weil das Erkenntnis von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes abweicht, eine solche Rechtsprechung fehlt oder die zu lösende Rechtsfrage in der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes nicht einheitlich beantwortet wird.
14Nach § 34 Abs. 1 VwGG sind Revisionen, die sich wegen Nichtvorliegen der Voraussetzungen des Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zur Behandlung eignen, ohne weiteres Verfahren mit Beschluss zurückzuweisen.
15Nach § 34 Abs. 1a VwGG ist der Verwaltungsgerichtshof bei der Beurteilung der Zulässigkeit der Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG an den Ausspruch des Verwaltungsgerichtes gemäß § 25a Abs. 1 VwGG nicht gebunden. Die Zulässigkeit einer außerordentlichen Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG hat der Verwaltungsgerichtshof im Rahmen der dafür in der Revision vorgebrachten Gründe (§ 28 Abs. 3 VwGG) zu überprüfen.
16Auch in der ordentlichen Revision hat der Revisionswerber von sich aus die unter dem Gesichtspunkt einer Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung maßgeblichen Gründe der Zulässigkeit der Revision aufzuzeigen, sofern er der Ansicht ist, dass die - hier völlig fehlende - Begründung des Verwaltungsgerichts für die Zulässigkeit der Revision nicht ausreicht (vgl. etwa , mwN).
17Die vorliegende Revision wendet sich formal zwar gegen die angefochtene Entscheidung im vollen Umfang, bezieht ihr Vorbingen zur Zulässigkeit der Revision wegen Verstoßes gegen die Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes zur Verhandlungspflicht jedoch im Wesentlichen nur auf die Rückkehrentscheidung und die darauf aufbauenden Aussprüche.
18Die Revision war daher in diesem Umfang gemäß § 34 Abs. 1 und 3 VwGG zurückzuweisen.
Zu Spruchpunkt II.:
19Zulässig und begründet ist die Revision insoweit, als sie sich gegen die Rückkehrentscheidung und die darauf aufbauenden Spruchpunkte richtet.
20Nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes zum auch hier maßgeblichen § 21 Abs. 7 erster Fall BFA-VG ist ein Absehen von der mündlichen Verhandlung dann gerechtfertigt, wenn der für die rechtliche Beurteilung entscheidungswesentliche Sachverhalt von der Verwaltungsbehörde vollständig in einem ordnungsgemäßen Ermittlungsverfahren erhoben wurde und bezogen auf den Zeitpunkt der Entscheidung des BVwG immer noch die gesetzlich gebotene Aktualität und Vollständigkeit aufweist. Die Verwaltungsbehörde muss die die entscheidungsmaßgeblichen Feststellungen tragende Beweiswürdigung in ihrer Entscheidung in gesetzmäßiger Weise offengelegt haben und das BVwG die tragenden Erwägungen der verwaltungsbehördlichen Beweiswürdigung teilen. In der Beschwerde darf kein dem Ergebnis des behördlichen Ermittlungsverfahrens entgegenstehender oder darüber hinausgehender für die Beurteilung relevanter Sachverhalt behauptet werden, wobei bloß unsubstantiiertes Bestreiten des von der Verwaltungsbehörde festgestellten Sachverhaltes ebenso außer Betracht bleiben kann wie ein Vorbringen, das gegen das in § 20 BFA-VG festgelegte Neuerungsverbot verstößt (vgl. grundlegend , 0018).
21Der Verwaltungsgerichtshof hat in diesem Zusammenhang bereits wiederholt darauf hingewiesen, dass bei der Erlassung von aufenthaltsbeendenden Maßnahmen der Verschaffung eines persönlichen Eindrucks im Rahmen einer mündlichen Verhandlung besondere Bedeutung zukommt, und zwar sowohl in Bezug auf die (allenfalls erforderliche) Gefährdungsprognose als auch in Bezug auf die für die Abwägung nach Art. 8 EMRK (sonst) relevanten Umstände. Nur in eindeutigen Fällen, in denen bei Berücksichtigung aller zugunsten des Fremden sprechenden Fakten auch dann für ihn kein günstigeres Ergebnis zu erwarten ist, wenn sich das Verwaltungsgericht von ihm einen (positiven) persönlichen Eindruck verschafft, kann eine Verhandlung unterbleiben (vgl. , mwN).
22Diese Voraussetzungen für das Absehen von der mündlichen Verhandlung lagen im Zusammenhang mit der Rückkehrentscheidung und den darauf aufbauenden Spruchpunkten nicht vor.
23Im Falle des Revisionswerbers liegt schon wegen seines rechtmäßigen Aufenthalts in Österreich als Asylberechtigter seit dem Jahr 2004, also während einer Dauer von 16 Jahren bis zur Erlassung des angefochtenen Erkenntnisses, und wegen des Umstandes, dass er der Vater von zwei in Österreich lebenden minderjährigen Kindern ist, - ungeachtet der sieben, vom BVwG überdies bloß summarisch festgestellten strafgerichtlichen Verurteilungen - kein eindeutiger Fall vor, der ein Absehen von der Durchführung einer mündlichen Verhandlung im Sinne der hg. Rechtsprechung erlauben würde, zumal der Revisionswerber in der Beschwerde gegen die Rückkehrentscheidung des BFA den Sachverhalt substantiiert bestritten (etwa nicht festgestellte nähere Umstände des regelmäßigen Kontaktes zu seinen Familienangehörigen vorgebracht und auf das Bestehen einer neuen Partnerschaft hingewiesen) und die Durchführung einer Verhandlung beantragt hat.
24Der Revisionswerber rügt somit zu Recht, dass das BVwG seine Verhandlungspflicht verletzt hat.
25Das angefochtene Erkenntnis war daher in Bezug auf die gegen den Revisionswerber erlassene Rückkehrentscheidung und die darauf aufbauenden Spruchpunkte wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 lit. c VwGG aufzuheben.
26Der Ausspruch über den Aufwandersatz gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2014.
Wien, am
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ECLI: | ECLI:AT:VWGH:2021:RO2020180001.J00 |
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