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VwGH vom 27.04.2020, Ro 2019/20/0003

VwGH vom 27.04.2020, Ro 2019/20/0003

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch die Vorsitzende Senatspräsidentin Dr. Hinterwirth sowie die Hofräte Mag. Eder und Mag. Cede als Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag. Kieslich, über die Revision des M, vertreten durch Dr. Martin Dellasega und Dr. Max Kapferer, Rechtsanwälte in 6020 Innsbruck, Schmerlingstraße 2/2, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom , L524 2143903-1/21E, betreffend Angelegenheiten nach dem AsylG 2005 und dem FPG (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl), zu Recht erkannt:

Spruch

Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.

Der Bund hat dem Revisionswerber Aufwendungen in der Höhe von EUR 1.346,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

1 Der Revisionswerber, ein irakischer Staatsangehöriger, stellte am einen Antrag auf internationalen Schutz.

2 Mit Bescheid vom wies das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) den Antrag auf internationalen Schutz sowohl hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten als auch der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten ab, erteilte keinen Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen, erließ gegen den Revisionswerber eine Rückkehrentscheidung, stellte fest, dass seine Abschiebung in den Irak zulässig sei, und setzte eine Frist für die freiwillige Ausreise von 14 Tagen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung fest.

3 Begründend führte das BFA aus, der Revisionswerber sei nicht von unbekannten Dritten verfolgt worden und würde bei einer Rückkehr in seinen Herkunftsstaat in keine existenzbedrohende Notlage geraten. Beweiswürdigend erschloss das BFA das Fehlen einer Verfolgungsgefahr daraus, dass der Revisionswerber bei seiner Einvernahme angegeben habe, er sei nicht gemeinsam mit seiner Familie geflüchtet, sondern zunächst über ein Jahr lang mit seiner Schwester in seinem Heimatland verblieben und habe "ohne jegliche Probleme" bei seinem Onkel gelebt.

4 Gegen diesen Bescheid erhob der Revisionswerber - gemeinsam mit seiner Schwester, deren Antrag auf internationalen Schutz ebenfalls vollumfänglich abgewiesen wurde - Beschwerde an das Bundesverwaltungsgericht (BVwG). Die Beschwerde langte beim BVwG am ein und wurde zunächst der von einem männlichen Richter geleiteten Gerichtsabteilung L504 zugewiesen. Aufgrund der auf § 20 AsylG 2005 gestützten Unzuständigkeitsanzeige dieses Richters vom wurde das Verfahren der von einer Richterin geleiteten Gerichtsabteilung L512 zugewiesen. 5 Mit der am in Kraft getretenen Verfügung des Geschäftsverteilungsausschusses des BVwG vom wurde die vorliegende Rechtssache der Gerichtsabteilung L512 abgenommen und der von einem männlichen Richter geleiteten Gerichtsabteilung I415 zugewiesen.

6 Am zeigte der Leiter der Gerichtsabteilung I415 infolge der Behauptung eines drohenden Eingriffs in die sexuelle Selbstbestimmung gemäß § 20 AsylG 2005 seine Unzuständigkeit an, woraufhin die Rechtssache der von einer Richterin geleiteten Gerichtsabteilung L524 zugewiesen wurde. Die Leiterin dieser Gerichtsabteilung erhob am ihrerseits eine Unzuständigkeitsanzeige, die sie zusammengefasst mit einer fehlerhaften Zuteilung und dem Nichtvorliegen eines vorgebrachten Eingriffs in die sexuelle Selbstbestimmung im Sinne des § 20 AsylG 2005 begründete.

7 Mit Entscheidung des Präsidenten des BVwG vom wurde die vorliegende Rechtssache der Gerichtsabteilung L524 endgültig zugewiesen.

8 Mit dem angefochtenen Erkenntnis wies das BVwG die Beschwerde durch die der Gerichtsabteilung L524 vorstehende Richterin ab und erklärte die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG für zulässig. Das BVwG begründete diesen Zulässigkeitsausspruch damit, dass eine Unzuständigkeit des Verwaltungsgerichts vorliege, weil das Beschwerdeverfahren des Revisionswerbers zum Beschwerdeverfahren seiner Schwester annex und die Gerichtsabteilung L524, der diese Beschwerdefälle zugewiesen worden seien, unzuständig sei. Das Verfahren hätte dem ursprünglich zuständigen Richter nicht hätte abgenommen und der Gerichtsabteilung L524 nicht zugewiesen werden dürfen, weil - entgegen der Unzuständigkeitseinreden der männlichen Richter - kein Eingriff in die sexuelle Selbstbestimmung (der Schwester des Revisionswerbers) als Teil des Fluchtvorbringens behauptet worden sei.

9 Gegen dieses Erkenntnis richtet sich die vorliegende ordentliche Revision, die dem Verwaltungsgerichtshof vom Bundesverwaltungsgericht nach Durchführung des Verfahrens nach § 30a VwGG - Revisionsbeantwortungen wurden nicht erstattet - mit den Verfahrensakten vorgelegt wurde.

10 Der Verwaltungsgerichtshof hat in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat erwogen:

11 Voranzustellen ist, dass die im Zulässigkeitsausspruch des BVwG angestellten Überlegungen eine Revisionszulässigkeit nicht aufzuzeigen vermögen. Wie der Verwaltungsgerichtshof bereits im Verfahren über die Revision der Schwester des Revisionswerbers mit Erkenntnis vom , Ro 2019/01/0007, festgehalten hat, bestand keine Unzuständigkeit der Gerichtsabteilung, die über die Beschwerde der Schwester des Revisionswerbers entschieden hat. 12 Das Beschwerdeverfahren des Revisionswerbers war gemäß den Bestimmungen der zunächst anwendbaren Fassung der Geschäftsverteilung des BVwG ("Geschäftsverteilung für das Geschäftsverteilungsjahr vom bis " - GV 2016) als "Annexsache" zum Beschwerdeverfahren der Schwester des Revisionswerbers zu behandeln. Gemäß § 3 der Verfügung des Geschäftsverteilungsausschusses vom erfolgten die mit dieser Verfügung angeordneten Abnahmen und Neuzuweisungen von Rechtssachen "unter Wahrung bestehender Annexitäten". Daher war auch im Fall des Revisionswerbers jene Gerichtsabteilung zuständig, die über das Beschwerdeverfahren der Schwester des Revisionswerbers zu entscheiden hatte (zur Zuständigkeit im Verfahren der Schwester vgl. das bereits zitierte hg. Erkenntnis vom , Ro 2019/01/0007).

13 Die dem nach § 25a Abs. 1 VwGG vorgenommenen Ausspruch des BVwG zugrunde liegende Begründung zeigt daher auch im vorliegenden Fall keine Abweichung von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofs zu § 20 Abs. 1 und 2 AsylG 2005 auf, die als solche zur Revisionszulässigkeit führen würde.

14 Mit dem in der Revision erstatteten Zulässigkeitsvorbringen zur Verletzung des § 21 Abs. 7 BFA-VG wird die Zulässigkeit der Revision jedoch aufgezeigt. Die Revision ist unter diesem Gesichtspunkt auch berechtigt.

15 Der Verwaltungsgerichtshof erkennt in ständiger Rechtsprechung, dass für die Auslegung der in § 21 Abs. 7 BFA-VG enthaltenen Wendung "wenn der Sachverhalt aus der Aktenlage in Verbindung mit der Beschwerde geklärt erscheint" folgende Kriterien beachtlich sind:

16 Der für die rechtliche Beurteilung entscheidungswesentliche Sachverhalt muss von der Verwaltungsbehörde vollständig in einem ordnungsgemäßen Ermittlungsverfahren erhoben worden sein und bezogen auf den Zeitpunkt der Entscheidung des BVwG immer noch die gesetzlich gebotene Aktualität und Vollständigkeit aufweisen. Die Verwaltungsbehörde muss die die entscheidungsmaßgeblichen Feststellungen tragende Beweiswürdigung in ihrer Entscheidung in gesetzmäßiger Weise offen gelegt haben und das BVwG die tragenden Erwägungen der verwaltungsbehördlichen Beweiswürdigung teilen. In der Beschwerde darf kein dem Ergebnis des behördlichen Ermittlungsverfahrens entgegenstehender oder darüber hinausgehender für die Beurteilung relevanter Sachverhalt behauptet werden, wobei bloß unsubstantiiertes Bestreiten des von der Verwaltungsbehörde festgestellten Sachverhaltes ebenso außer Betracht bleiben kann wie ein Vorbringen, das gegen das in § 20 BFA-VG festgelegte Neuerungsverbot verstößt. Auf verfahrensrechtlich festgelegte Besonderheiten ist bei der Beurteilung Bedacht zu nehmen (vgl. dazu grundlegend , 0018 sowie aus der nachfolgenden Rechtsprechung etwa , mwN). 17 Schließt das BVwG sich nicht nur der Beweiswürdigung der Verwaltungsbehörde an, sondern zeigt darüber hinaus in seiner Beweiswürdigung noch weitere bedeutsame Aspekte auf, mit welchen es die Widersprüchlichkeit des Vorbringens begründet, nimmt es damit eine zusätzliche Beweiswürdigung vor, die dazu führt, dass das Bundesverwaltungsgericht die tragenden Erwägungen der verwaltungsbehördlichen Beweiswürdigung nicht bloß unwesentlich ergänzt (vgl. ; , Ra 2017/20/0405, jeweils mwN). Eine solche (ergänzende) Beweiswürdigung hat jedoch regelmäßig erst nach einer mündlichen Verhandlung, in der auch ein persönlicher Eindruck von der betroffenen Person gewonnen werden kann, zu erfolgen. 18 Der Verwaltungsgerichtshof hat zudem bereits festgehalten, dass die Durchführung einer mündlichen Verhandlung auch dann geboten ist, wenn das BVwG zur Situation im Herkunftsstaat des Asylwerbers aktuelle Länderberichte einholt und die Feststellungen des BFA ergänzt (vgl. etwa , mwN). 19 Die Revision zeigt zutreffend auf, dass das BVwG die Beweiswürdigung des BFA zur Unglaubwürdigkeit des Fluchtvorbringens des Revisionswerbers durch über die Beweiswürdigung des BFA hinausgehende nicht bloß unwesentliche eigenständige Überlegungen ergänzt hat.

20 Zutreffend bringt die Revision auch vor, dass der dem Bescheid des BFA vom zugrunde gelegte Sachverhalt zum Zeitpunkt der Entscheidung des BVwG nicht mehr aktuell gewesen ist, weil sich die Situation im Irak seit dem Bescheiderlassungszeitpunkt in für die Beurteilung nicht unmaßgeblicher Weise geändert hat. Das BVwG hat dazu gegenüber dem Bescheid neue Feststellungen getroffen, in denen Länderberichte bis November 2018 zitiert werden. Das BVwG hat dazu dem Revisionswerber die aktualisierten Länderinformationen zur Stellungnahme übermittelt, worauf dieser in seiner Stellungnahme vom unter anderem darauf verwies, dass sich sein Dorf im Mittelpunkt der Auseinandersetzungen befinde, und neuerlich die Durchführung einer Verhandlung beantragte. Nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes kann die Einräumung einer Möglichkeit zur schriftlichen Stellungnahme die Durchführung einer Verhandlung grundsätzlich nicht ersetzen (vgl. etwa , Rn. 14, mwN). Auch deshalb lagen die Voraussetzungen des § 21 Abs. 7 BFA-VG für die Abstandnahme von einer Verhandlung nicht vor.

21 Die Missachtung der Verhandlungspflicht führt im Anwendungsbereich des Art. 6 EMRK und - wie hier gegeben - des Art. 47 GRC zur Aufhebung wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften, ohne dass die Relevanz dieses Verfahrensmangels geprüft werden müsste (vgl. , mwN).

22 Das angefochtene Erkenntnis war daher gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 lit. c VwGG wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufzuheben.

23 Die Kostenentscheidung gründet auf § 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2014.

Wien, am

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ECLI:
ECLI:AT:VWGH:2020:RO2019200003.J00

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