VwGH vom 09.06.2020, Ro 2019/10/0032
Betreff
Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Rigler sowie die Hofräte Dr. Lukasser, Dr. Hofbauer, Dr. Fasching und die Hofrätin Dr. Leonhartsberger als Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag. Bleiweiss, über die Revision der E D in H, vertreten durch Dr. Wolfgang Hirsch und Dr. Ursula Leissing, Rechtsanwälte in 6900 Bregenz, Rathausstraße 33, gegen das Erkenntnis des Landesverwaltungsgerichts Vorarlberg vom , Zl. LVwG-340-28/2018-R11, betreffend eine Angelegenheit nach dem Vorarlberger Mindestsicherungsgesetz (vor dem Verwaltungsgericht belangte Behörde: Bezirkshauptmannschaft Bregenz), zu Recht erkannt:
Spruch
Die Revision wird als unbegründet abgewiesen.
Begründung
1Am stellte die Revisionswerberin einen Antrag auf Gewährung von Mindestsicherung für die Übernahme der Unterkunfts- und Verpflegungskosten in einer näher bezeichneten Seniorenwohngruppe.
2Mit Bescheid vom wies die Bezirkshauptmannschaft Bregenz den Antrag der Revisionswerberin mangels finanzieller Hilfsbedürftigkeit ab.
3Mit dem angefochtenen Erkenntnis vom wies das Landesverwaltungsgericht Vorarlberg (im Folgenden: Verwaltungsgericht) die von der Revisionswerberin dagegen erhobene Beschwerde - nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung - ab und erklärte die ordentliche Revision an den Verwaltungsgerichtshof für zulässig.
4Begründend führte das LVwG nach Darstellung des Verfahrensgangs aus, die Revisionswerberin wohne in einer betreuten Wohngemeinschaft. Diese Wohngemeinschaft werde vom Sozialzentrum (Pflegeheim) J betrieben und sei ein Angebot für ältere Menschen, die aus gesundheitlichen oder sozialen Gründen nicht mehr allein wohnen könnten oder wollten, jedoch nicht die umfassenden Leistungen eines Pflegeheims benötigten. In der betreuten Wohngemeinschaft gebe es zwölf Zimmer. Die Wohngruppe sei räumlich vom Sozialzentrum getrennt; es bestehe die Möglichkeit eines Durchgangs zum Haupthaus. In der betreuten Wohngemeinschaft seien sechs Mitarbeiterinnen tätig (3,5 Vollzeitäquivalente), eine davon eine diplomierte Gesundheits- und Krankenschwester, eine Pflegeassistenz, drei Heimhelferinnen und eine Hilfskraft. In die betreute Wohngemeinschaft würden lediglich Personen aufgenommen werden, deren Pflegegeldeinstufung nicht über Stufe 3 liege. Pflegemaßnahmen würden nicht erbracht, es gebe lediglich Unterstützungsmaßnahmen. Die Alltagsbegleiterinnen würden die Bewohnerinnen und Bewohner im täglichen Ablauf unterstützen, indem sie z.B. die Einnahme und Vergabe der Medikamente kontrollierten, an die Tageshygiene erinnerten und erforderlichenfalls dabei hälfen (Waschlappen reichen, abtrocknen etc.), beim Zubettgehen oder beim Aufstehen hälfen, für Unterhaltung sorgten und Aktivierungsübungen für den Erhalt der kognitiven Fähigkeiten durchführten. Die Bewohnerinnen und Bewohner seien in der Nacht von 20.00 Uhr bis 07.30 Uhr ohne Betreuung, aber mit einem Notfallschalter mit der Nachtschicht des Haupthauses (Sozialzentrum) verbunden. Die Bewohnerinnen und Bewohner der Wohngemeinschaft seien, abhängig von ihrer Einstufung, in manchen Bereichen noch relativ selbständig. Wenn die Pflege komplexer werde, müsse die Bewohnerin oder der Bewohner in ein Pflegeheim wechseln.
5Die Revisionswerberin sei in der Pflegestufe 3 eingestuft, und für sie sei eine Erwachsenenvertreterin bestellt. Sie brauche mehrmals täglich Unterstützung und Hilfe bei der Körperpflege, beim Anziehen der Thrombosestrümpfe und beim Herrichten und bei der Verabreichung der Medikamente. Sie müsse ein starkes Blutverdünnungsmittel nehmen, dessen Einnahme überwacht werden müsse. Die Revisionswerberin gehe alleine zur Ärztin, benötige aber viele Gespräche, was damit zu tun habe, dass sie im Hinblick auf ihre Krankheit etwas uneinsichtig sei. Die Revisionswerberin habe ein Gesamtmonatseinkommen von EUR 1.939,60 (Pension Österreich: EUR 1.392,77; Rente Deutschland: EUR 95,03; Pflegegeld: EUR 451,80). Sie habe Ersparnisse, die im Zeitpunkt der Erlassung des erstinstanzlichen Bescheides ca. EUR 100.000,-- betragen hätten. Diese hätten sich mittlerweile in dem Ausmaß, in dem sie zur Abdeckung der Heimkosten hätten herangezogen werden müssen, verringert. Der Aufenthalt in der betreuten Wohngruppe koste ca. EUR 3.292,-- im Monat.
6Rechtlich führte das LVwG aus, die Revisionswerberin sei in einer betreuten Wohngemeinschaft untergebracht, die keine stationäre Pflegeeinrichtung darstelle. Die betreute Wohngemeinschaft sei in der Nacht ohne Betreuung, da der Notfallknopf nur für Notfallleistungen und nicht auch für Pflegeleistungen vorgesehen sei. Schon deshalb könne es sich nicht um eine stationäre Pflegeeinrichtung handeln. Außerdem sei die betreute Wohngemeinschaft nicht darauf ausgerichtet, klassische Pflegeleistungen zu erbringen, sondern die Heimbewohner würden lediglich bei täglichen Verrichtungen (z.B. Waschen, Anziehen, Medikamenteneinnahme) unterstützt werden. Die Revisionswerberin müsse daher ihre Ersparnisse, soweit sie € 10.000,-- überstiegen, zur Abdeckung der Unterkunfts- und Verpflegungskosten einsetzen. Der einzusetzende Betrag reiche noch zur Abdeckung dieser Kosten aus, weshalb die Revisionswerberin nicht hilfsbedürftig sei. Die Abweisung des Antrags auf Mindestsicherung sei daher zu Recht erfolgt.
7Die Revision ließ das LVwG mit der Begründung zu, dass höchstgerichtliche Rechtsprechung zur Frage fehle, ob eine betreute Wohngemeinschaft, wie sie hier vorliege, als stationäre Pflegeeinrichtung im Sinne des § 330a ASVG anzusehen sei.
8Gegen dieses Erkenntnis richtet sich die vorliegende ordentliche Revision. Auf die Erstattung einer Revisionsbeantwortung wurde von der belangten Behörde verzichtet.
Der Verwaltungsgerichtshof hat erwogen:
9Die Revision erweist sich im Hinblick auf die vom Verwaltungsgericht aufgeworfene Rechtsfrage, auf die sich auch die Revision stützt, als zulässig. Sie ist jedoch nicht berechtigt.
10Die für den fraglichen Leistungszeitraum maßgeblichen Bestimmungen des Vorarlberger Mindestsicherungsgesetzes (im Folgenden: MSG), LGBl. Nr. 64/2010 idF LGBl. Nr. 37/2017 (hinsichtlich § 4 und 5) bzw. LGBl. Nr. 17/2018 (hinsichtlich § 8) lauten auszugsweise:
„§ 4
Arten der Mindestsicherung
(1) Mindestsicherung umfasst folgende Leistungen:
a)Sicherung des ausreichenden Lebensunterhaltes,
b)Sicherung des Wohnbedarfes,
c)Schutz bei Krankheit, Schwangerschaft und Entbindung,
d)Bestattungskosten und
e)Sonderleistungen (Hilfe in besonderen Lebenslagen, Sonderbedarfe).
[...]
§ 5
Kernleistungen
(Lebensunterhalt, Wohnbedarf, Schutz bei Krankheit, Schwangerschaft und Entbindung sowie Bestattungskosten)
(1) Der ausreichende Lebensunterhalt umfasst den Aufwand für Nahrung, Bekleidung, Körperpflege, Hausrat, Energie und andere persönliche Bedürfnisse wie die angemessene soziale und kulturelle Teilhabe; weiters umfasst er den Aufwand für den Wohnbedarf (Abs. 2), soweit dieser einen mit Verordnung nach § 8 Abs. 8 zweiter Satz pauschalierten Höchstsatz für den Wohnbedarf übersteigt.
(2) Der Wohnbedarf umfasst den für die Gewährleistung einer angemessenen Wohnsituation erforderlichen regelmäßig wiederkehrenden Aufwand für Miete, allgemeine Betriebskosten und Abgaben.
(3) Bei Hilfsbedürftigen, die in einer stationären Einrichtung untergebracht sind, weil sie nur dort ihre Bedürfnisse nach Abs. 1 und 2 stillen können, umfassen der Lebensunterhalt und der Wohnbedarf jedenfalls auch den Aufwand für die dort anfallenden Unterkunfts- und Verpflegskosten.
[...]
§ 8
Form und Ausmaß der Mindestsicherung
(1) ... Das Ausmaß der Mindestsicherungsleistung ist im Einzelfall unter Berücksichtigung eines zumutbaren Einsatzes der eigenen Kräfte, insbesondere der eigenen Arbeitskraft, und Mittel zu bestimmen.
[...]
(3) Die eigenen Mittel, wozu das gesamte Vermögen und Einkommen gehört, dürfen bei der Bemessung der Mindestsicherung insoweit nicht berücksichtigt werden, als dies mit der Aufgabe der Mindestsicherung unvereinbar wäre oder für den Hilfsbedürftigen oder dessen Angehörige eine besondere Härte bedeuten würde. Kleinere Einkommen und Vermögen, insbesondere solche, die der Berufsausübung dienen, sind nicht zu berücksichtigen. Bei der Gewährung von Sonderleistungen (Hilfe in besonderen Lebenslagen) ist überdies darauf Bedacht zu nehmen, dass eine angemessene Lebensführung und die Aufrechterhaltung einer angemessenen Alterssicherung nicht wesentlich erschwert werden. Bei Personen, die in stationären Pflegeeinrichtungen untergebracht sind, ist das Vermögen überhaupt nicht zu berücksichtigen.
[...]“
11§ 9 der Vorarlberger Mindestsicherungsverordnung (im Folgenden: MSV), LGBl. Nr. 71/2010 idF LGBl. Nr. 105/2017, lautet auszugsweise:
„§ 9
Berücksichtigung von eigenen Mitteln sowie Leistungen Dritter
(1) Nach Maßgabe der Abs. 2 bis 6 sind bei der Ermittlung des Anspruchs auf Leistungen der Mindestsicherung
a)außerhalb von stationären Einrichtungen bei Bedarfsgemeinschaften die Einkünfte und das Vermögen sämtlicher einer Bedarfsgemeinschaft zugehörenden Personen sowie diesen zur Verfügung stehenden Leistungen Dritter,
b)außerhalb von stationären Einrichtungen in einer Wohngemeinschaft sowie in einer stationären Einrichtung die Einkünfte und das Vermögen der hilfsbedürftigen Person sowie die ihr zur Verfügung stehenden Leistungen Dritter,
c)in einer stationären Pflegeeinrichtung die Einkünfte der hilfsbedürftigen Person sowie die ihr zur Verfügung stehenden Leistungen Dritter zu berücksichtigen.
[... ]
(4) Bei der Ermittlung des Anspruchs gemäß Abs. 1 dürfen Vermögen nicht berücksichtigt werden, wenn durch deren Verwertung eine Notlage erst ausgelöst, verlängert oder deren Überwindung gefährdet werden könnte. Dies gilt für
[...]
d)Ersparnisse bis zum Betrag von Euro 4.200 im Rahmen der Deckung des Lebensunterhalts (§ 6 Abs. 1 und 2) oder Wohnbedarfs (§ 7) außerhalb einer stationären Einrichtung, dies jedoch nur dann, wenn es sich nicht um die Gewährung von Sonderbedarfen handelt,
[...]
h)einen Betrag bis Euro 10.000 im Rahmen der stationären Mindestsicherung; dieser Freibetrag gilt im Falle des Todes nur insoweit, als er zur Bestreitung der Todfallkosten verwendet wird,
i)Vermögen von Personen, die in einer stationären Pflegeeinrichtung untergebracht sind.
[...]“
12§ 330a ASVG, BGBl. Nr. 189/1955 idF BGBl. I Nr. 125/2017, lautet:
„Verbot des Pflegeregresses
§ 330a. (Verfassungsbestimmung) Ein Zugriff auf das Vermögen von in stationären Pflegeeinrichtungen aufgenommenen Personen, deren Angehörigen, Erben/Erbinnen und Geschenknehmer/inne/n im Rahmen der Sozialhilfe zur Abdeckung der Pflegekosten ist unzulässig.“
13Wie sich aus § 8 Abs. 3 letzter Satz MSG iVm § 9 Abs. 4 lit. i MSV ergibt, darf Vermögen von Personen, die in einer stationären Pflegeeinrichtung untergebracht sind, bei der Ermittlung des Mindestsicherungsanspruchs nicht berücksichtigt werden. Nach den Erläuterungen (EBRV 119/2017 - Teil B, 30.GP, 1f) zur MSG-Novelle LGBl. Nr. 17/2018 sollte mit dieser die Verfassungsbestimmung zum Verbot des Pflegeregresses umgesetzt werden.
14Die Frage, ob die Revisionswerberin ihr Vermögen zur Deckung der Unterkunfts- und Verpflegskosten für die Einrichtung, in der sie untergebracht ist, einzusetzen hat, hängt somit davon ab, ob es sich hierbei um eine „stationäre Pflegeeinrichtung“ handelt.
15Der Verwaltungsgerichtshof hat bereits ausgesprochen, dass zum einen der Begriff der „stationären Pflegeeinrichtung“ iSd § 330a ASVG schon nach seinem Wortlaut nicht auf Pflegeheime für betagte oder kranke Personen beschränkt ist und zum anderen von einer Aufnahme in einer solchen Einrichtung nur gesprochen werden kann, wenn die davon betroffenen Personen dort dauernd (Tag und Nacht) untergebracht sind und Pflege- und Betreuungsleistungen erhalten (vgl. ).
16Weiters hat der Verwaltungsgerichtshof bereits klargestellt, dass von einer „stationären Pflegeeinrichtung“ im Sinn des § 330a ASVG auch dann ausgegangen werden kann, wenn den dort untergebrachten Personen Pflegepersonal in der Nacht lediglich über eine bestehende Rufbereitschaft zur Verfügung steht (vgl. ).
17Nach den Feststellungen des LVwG sind die Bewohnerinnen und Bewohner der Wohngemeinschaft in der Nacht von 20.00 Uhr bis 07.30 Uhr ohne Betreuung. Sie sind mit einem Notfallschalter mit der Nachtschicht des Sozialzentrums verbunden. Diese als „Notfallschalter“ bezeichnete Möglichkeit der Verständigung der Nachtschicht des Sozialzentrums dient nach den Ausführungen des LVwG nicht dazu, bei Bedarf Pflegeleistungen zu erbringen, sondern Notfallmaßnahmen vorzunehmen oder in die Wege zu leiten. In diesem Fall handelt es sich daher gerade nicht um eine bestehende Rufbereitschaft von Pflegepersonal. Es besteht daher für die Bewohnerinnen und Bewohner dieser betreuten Wohngemeinschaft nicht die Möglichkeit, durchgehend, also bei Tag und auch bei Nacht, Pflege- und Betreuungsleistungen zu erhalten.
18Fehlt - wie hier - die Möglichkeit, in der Nacht Pflegeleistungen erhalten zu können, liegt keine „stationäre Pflegeeinrichtung“ vor, weil das schon begrifflich erforderliche Element der „Pflege“ nicht durchgehend zur Verfügung steht.
19Wenn das Verwaltungsgericht daher davon ausgeht, dass es sich bei der betreuten Wohngemeinschaft schon aufgrund der fehlenden durchgehenden Präsenz von Pflegepersonal nicht um eine stationäre Pflegeeinrichtung im Sinne des § 330a ASVG handelt, ist dieser Beurteilung nicht entgegenzutreten. Dementsprechend kam nicht das Verbot des Vermögenszugriffs nach § 8 Abs. 3 letzter Satz MSG iVm § 9 Abs. 4 lit. i MSV zur Anwendung, sondern § 9 Abs. 4 lit. h MSV, wonach der Revisionswerberin im Rahmen der stationären Mindestsicherung ein Freibetrag bis EUR 10.000,-- zu verbleiben hat (vgl. zur Unterscheidung zwischen stationären Einrichtungen und stationären Pflegeeinrichtungen auch § 9 Abs. 1 lit. b und c MSV).
20Die Revision war daher gemäß § 42 Abs. 1 VwGG als unbegründet abzuweisen.
Wien, am
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ECLI: | ECLI:AT:VWGH:2020:RO2019100032.J00 |
Schlagworte: | Anzuwendendes Recht Maßgebende Rechtslage VwRallg2 Auslegung Anwendung der Auslegungsmethoden Bindung an den Wortlaut des Gesetzes VwRallg3/2/1 Auslegung Anwendung der Auslegungsmethoden Verhältnis der wörtlichen Auslegung zur teleologischen und historischen Auslegung Bedeutung der Gesetzesmaterialien VwRallg3/2/2 |
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