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VwGH vom 05.11.2019, Ro 2019/01/0008

VwGH vom 05.11.2019, Ro 2019/01/0008

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Blaschek sowie die Hofräte Dr. Kleiser und Mag. Brandl als Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag.a Kienesberger, über die Revision des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl, gegen das am verkündete und am schriftlich ausgefertigte Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichtes, Zl. W114 2196274-1/10E, betreffend eine Angelegenheit nach dem AsylG 2005 (mitbeteiligte Partei: N H, in A, vertreten durch Mag. Susanne Singer, Rechtsanwältin in 4600 Wels, Ringstraße 9), zu Recht erkannt:

Spruch

Das Erkenntnis wird im angefochtenen Umfang, sohin hinsichtlich seines Spruchpunktes A III. und IV. (Unzulässigkeit einer Rückkehrentscheidung und Erteilung eines Aufenthaltstitels), wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.

Begründung

1 Der Mitbeteiligte, ein Staatsangehöriger Afghanistans, stellte am einen Antrag auf internationalen Schutz.

2 Mit Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl (BFA) vom wurde der Antrag sowohl hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten als auch hinsichtlich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten abgewiesen (Spruchpunkte I. und II.), kein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 AsylG 2005 erteilt (Spruchpunkt III.), eine Rückkehrentscheidung erlassen (Spruchpunkt IV.) und festgestellt, dass die Abschiebung des Mitbeteiligten nach Afghanistan zulässig sei (Spruchpunkt V.) sowie eine Frist für die freiwillige Ausreise festgelegt (Spruchpunkt VI.).

3 Mit dem am verkündeten und am schriftlich ausgefertigten Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts

(BVwG) wurde die gegen diesen Bescheid erhobene Beschwerde des Mitbeteiligten hinsichtlich der Spruchpunkte I. und II. als unbegründet abgewiesen (Spruchpunkte A I. und II.) sowie in Erledigung der Beschwerde die Spruchpunkte III. bis VI. des angefochtenen Bescheides aufgehoben und festgestellt, dass eine Rückkehrentscheidung gegen den Mitbeteiligten auf Dauer unzulässig sei (Spruchpunkt A III.) und dem Mitbeteiligten gemäß ein Aufenthaltstitel "Aufenthaltsberechtigung plus" erteilt (Spruchpunkt A IV.). Die Revision erklärte das BVwG gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG für zulässig (Spruchpunkt B).

4 Begründend führte das BVwG zur Person des Mitbeteiligten (unter anderem) aus, der Mitbeteiligte führe seit etwa eineinhalb Jahren eine Beziehung mit M. A., ohne mit ihr einen gemeinsamen Wohnsitz zu haben. Insbesondere die Wochenenden würden beide gemeinsam verbringen und in ihrer Freizeit ein Familienleben führen. M. A. habe auch den Wohnsitz des Mitbeteiligten in Österreich maßgeblich gestaltet. Der Mitbeteiligte beherrsche die deutsche Sprache auf B1-Niveau. Er habe für die Stadtgemeinde G und verschiedene Vereine und Organisationen freiwillig gemeinnützige Arbeit geleistet. Der Mitbeteiligte befinde sich ausgehend von einer ihm erteilten Beschäftigungsbewilligung vom seit im Lehrberuf Elektrotechnik als Lehrling in einem aufrechten Ausbildungsverhältnis und sei finanziell unabhängig. Er genieße das Vertrauen der Firmenleitung und seiner Arbeitskollegen. Sein Berufsschulzeugnis vom weise einen Notendurchschnitt von unter 1,43 aus. Der Mitbeteiligte habe einen Erste-Hilfe-Grundkurs absolviert und verfüge seit über einen Hubstaplerschein. Er sei strafrechtlich unbescholten.

5 In rechtlicher Hinsicht führte das BVwG hinsichtlich der Zulässigkeit einer Rückkehrentscheidung aus, es liege ein schützenswertes Familienleben des Mitbeteiligten in Österreich vor. Eine Rückkehrentscheidung würde in dessen Privatleben eingreifen. Dieser Eingriff stelle keine Maßnahme dar, die im Sinne des Art. 8 Abs. 2 EMRK notwendig sei. Zudem sei der Mitbeteiligte sowohl beruflich als auch sozial derart integriert, beherrsche weitgehend die deutsche Sprache und sei strafrechtlich unbescholten, dass bei einer Interessen- und Güterabwägung zu Gunsten eines Verbleibes des Mitbeteiligten in Österreich zu entscheiden sei. Die drohende Verletzung des Privatlebens beruhe auf Umstände, die ihrem Wesen nach nicht bloß vorübergehend, sondern auf Dauer seien. Eine Rückkehrentscheidung erweise sich daher als unverhältnismäßig im Sinne des Art. 8 Abs. 2 EMRK.

Die Erteilung einer "Aufenthaltsberechtigung plus" gemäß § 55 Abs. 1 AsylG 2005 begründete das BVwG mit dem aufrechten Lehrverhältnis verbunden mit dem Bezug der gesetzlich vorgesehenen Lehrlingsentschädigung, die die monatliche Geringfügigkeitsgrenze erreiche, sowie mit der Erfüllung der Voraussetzungen des Moduls 1 der Integrationsvereinbarung gemäß § 9 Integrationsgesetz.

Zur Zulässigkeit der Revision verwies das BVwG darauf, dass die Rechtsfrage, ob eine eingegangene partnerschaftliche Beziehung mit einer Frau, welche zum Aufenthalt in Österreich berechtigt sei, zu einer Aufenthaltsberechtigung führen könne, wenn darüber hinaus noch weitere Anhaltspunkte im Sinne des § 9 Abs. 2 BFA-VG vorliegen würden, sodass bei einer Interessenabwägung die positiven Gründe, die für einen Verbleib sprächen, überwiegen würden, in der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes "bislang nicht eindeutig entschieden" worden sei.

6 Gegen die Spruchpunkte A III. und A IV. des angefochtenen Erkenntnisses (Unzulässigkeit einer Rückkehrentscheidung und Erteilung eines Aufenthaltstitels) richtet sich die vorliegende Amtsrevision. Der Mitbeteiligte erstattete eine Revisionsbeantwortung.

Der Verwaltungsgerichtshof hat in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat erwogen:

7 Die Amtsrevision bringt zu ihrer Zulässigkeit gesondert vor, dass die einzelfallbezogene Beurteilung der Zulässigkeit eines Eingriffs in das Privat- und/oder Familienleben nach Art. 8 EMRK, die sowohl dem Ausspruch gemäß § 9 Abs. 3 BFA-VG als auch der Erteilung eines Aufenthaltstitels gemäß § 55 AsylG 2005 zugrunde liege, im Allgemeinen keine grundsätzliche Rechtsfrage darstelle, das BVwG jedoch bei seiner Interessenabwägung von näher dargelegter Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes abgewichen sei. Feststellungen für das Vorliegen einer "de facto Ehe" habe das BVwG nicht getroffen. Mangels gemeinsamen Wohnsitz und gemeinsamer Kinder könne die Beziehung des Mitbeteiligten nicht als "de facto Ehe" qualifiziert werden. Es liege daher kein Eingriff ins Familienleben iSd Art. 8 EMRK vor. Vielmehr sei die Beziehung zu seiner Partnerin als Privatleben zu werten. Das BVwG habe bei seiner Interessenabwägung dem Kriterium des § 9 Abs. 2 Z 8 BFA-VG nicht die ihm nach der Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes zukommende Bedeutung beigemessen. Nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes komme einer Aufenthaltsdauer von weniger als fünf Jahre für sich betrachtet noch keine maßgebliche Bedeutung für die durchzuführende Interessenabwägung zu. Eine außergewöhnliche Konstellation der Integration, aus der sich bei einer unter fünfjährigen Aufenthaltsdauer kein Überwiegen der öffentlichen Interessen an der Aufenthaltsbeendigung ergebe, liege konkret nicht vor. Die Umstände, dass ein Fremder perfekt Deutsch spreche, sozial vielfältig vernetzt und integriert sei, für seinen Lebensunterhalt selbst aufkomme und nie straffällig geworden sei, würden keine über das übliche Maß hinausgehenden Integrationsmerkmale darstellen. Auch einer Berufstätigkeit und Ausbildung komme für sich betrachtet keine wesentliche Bedeutung zu. Sämtliche der vom BVwG herangezogenen Aspekte seien während eines unsicheren Aufenthalts entstanden und daher in ihrem Gewicht gemindert. 8 Die Amtsrevision ist aus den darin gesondert dargelegten Gründen zulässig; sie ist auch begründet.

9 Nach ständiger Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ist eine unter Bedachtnahme auf die jeweiligen Umstände des Einzelfalls in Form einer Gesamtbetrachtung durchgeführte Interessenabwägung im Sinn des Art. 8 EMRK im Allgemeinen - wenn sie auf einer verfahrensrechtlich einwandfreien Grundlage erfolgte und in vertretbarer Weise im Rahmen der von der Rechtsprechung entwickelten Grundsätze vorgenommen wurde - nicht revisibel im Sinn des Art. 133 Abs. 4 B-VG (vgl. für viele , mwN).

10 Die durch das BVwG durchgeführte Interessenabwägung im Sinn des Art. 8 EMRK ist nur dann vom Verwaltungsgerichtshof aufzugreifen, wenn das BVwG die vom Verwaltungsgerichtshof aufgestellten Leitlinien bzw. Grundsätze nicht beachtet und somit seinen Anwendungsspielraum überschritten oder eine krasse bzw. unvertretbare Fehlbeurteilung des Einzelfalles vorgenommen hat (vgl. ).

11 Dies ist aus folgenden Erwägungen vorliegend der Fall:

12 Der Verwaltungsgerichtshof hat sich mit den von der Amtsrevision angesprochenen Rechtsfrage der Interessenabwägung im Sinne des Art. 8 EMRK insbesondere in Bezug auf die Tätigkeit als Lehrling während eines laufenden Asylverfahrens bereits in seinem Erkenntnis vom , Ro 2019/01/0003, umfassend auseinandergesetzt und in dieser Entscheidung zusammengefasst ausgeführt, dass die Berücksichtigung einer Lehre beziehungsweise einer Berufsausübung als öffentliches Interesse zugunsten des Fremden unzulässig ist und es maßgeblich relativierend ist, wenn integrationsbegründende Schritte in einem Zeitraum gesetzt wurden, in dem sich der Fremde seines unsicheren Aufenthaltsstatus bewusst sein musste. Auf die nähere Begründung dieser Entscheidung wird gemäß § 43 Abs. 2 zweiter Satz VwGG verwiesen.

13 Auch zeigt die Amtsrevision im Zusammenhang mit dem etwa erst dreieinhalbjährigen Aufenthalt des Mitbeteiligten im Bundesgebiet zutreffend auf, dass gegenständlich jedenfalls noch nicht von einer solchen Verdichtung seiner persönlichen Interessen auszugehen ist, dass bereits von "außergewöhnlichen Umständen" im Sinne der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes gesprochen werden könnte und ihm schon deshalb unter dem Gesichtspunkt des Art. 8 EMRK ein dauernder Aufenthalt in Österreich ermöglicht werden müsste (vgl. dazu etwa VwGH jeweils vom , Ra 2019/18/0049, und Ra 2019/18/0058, sowie ).

14 Daran vermag die Beurteilung der ca. eineinhalb Jahre bestehenden Beziehung des Mitbeteiligten zu der in Österreich aufenthaltsberechtigten M. A. durch das BVwG als ein schützenswertes Familienleben im Sinne des Art. 8 Abs. 2 EMRK nichts zu ändern.

15 Nach der ständigen Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte (EGMR) ist das nach Art. 8 EMRK geschützte Familienleben nicht auf durch Heirat rechtlich formalisierte Bindungen beschränkt, sondern umfasst auch andere faktische Familienbindungen, bei denen die Partner außerhalb des Ehestandes zusammenleben. Zur Frage, ob eine nichteheliche Lebensgemeinschaft ein Familienleben im Sinne des Art. 8 EMRK begründet, stellt der EGMR auf das Bestehen enger persönlicher Bindungen ab, die sich in einer Reihe von Umständen - etwa dem Zusammenleben, der Länge der Beziehung oder der Geburt gemeinsamer Kinder - äußern können (vgl. , Rn. 11, mwN).

16 Die Amtsrevision zeigt zutreffend auf, dass allein die Feststellungen über die Beziehung des Mitbeteiligten zu M. A. nicht ausreichen, um vom Vorliegen einer der dargestellten Judikatur des EGMR entsprechenden engen und dauerhaften persönlichen Bindung zu M. A. im Sinne einer faktischen Familienbindung ausgehen zu können. Die Feststellungen zum gemeinsamen Familienleben beschränken sich darauf, dass der Mitbeteiligte mit M. A. die Freizeit insbesondere am Wochenende verbringe, M. A. im Besonderen auch seinen Wohnsitz in Österreich "maßgeblich gestaltet" habe und beide in ihrer Freizeit ein Familienleben" führen würden. Ein gemeinsamer Wohnsitz besteht nicht. Ebenso traf das Verwaltungsgericht keine Feststellungen über das Vorliegen einer Wirtschaftsgemeinschaft.

17 Indem das BVwG daher insgesamt fallbezogen das öffentliche Interesse an einem geordneten Fremdenwesen gegenüber den festgestellten privaten Interessen des Mitbeteiligten nicht den Leitlinien der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes entsprechend gewichtet hat (wobei auch die Berücksichtigung einer Lehre in einem Mangelberuf als öffentliches Interesse zugunsten des Fremden nicht in Betracht kommt, vgl. hierzu nochmals ), die Annahme einer faktischen Familienbindung zu der in Österreich aufenthaltsberechtigten M. A. auf nicht ausreichende Feststellungen stützte und gänzlich außer Acht ließ, dass der Mitbeteiligte sämtliche Integrationsschritte in Bewusstsein seines unsicheren Aufenthaltsstatus setzte, hat das BVwG die vom Verwaltungsgerichtshof aufgestellten Leitlinien bzw. Grundsätze nicht beachtet und damit seinen Anwendungsspielraum überschritten.

18 Das angefochtene Erkenntnis war somit bereits deshalb im angefochtenen Umfang gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufzuheben.

Wien, am

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ECLI:
ECLI:AT:VWGH:2019:RO2019010008.J00

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