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VwGH vom 29.05.2018, Ro 2018/21/0005

VwGH vom 29.05.2018, Ro 2018/21/0005

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch die Vorsitzende Vizepräsidentin Dr.in Sporrer sowie die Hofräte Dr. Pelant, Dr. Sulzbacher und Dr. Pfiel sowie die Hofrätin Dr. Julcher als Richterinnen und Richter, unter Mitwirkung des Schriftführers Mag. Samonig, über die Revision des F A, zuletzt in W, vertreten durch die Lederer Rechtsanwalt GmbH in 1030 Wien, Strohgasse 14c, gegen das am mündlich verkündete und am schriftlich ausgefertigte Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichtes, W250 2175390-2/2E und W250 2175390- 3/11E, betreffend Schubhaft (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl), zu Recht erkannt:

Spruch

Das bekämpfte Erkenntnis wird im Umfang seiner Anfechtung (Spruchpunkt A 2.) wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.

Der Bund hat dem Revisionswerber Aufwendungen in der Höhe von EUR 1.106,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

1 Der Revisionswerber, ein aus dem Gaza-Streifen stammender staatenloser Palästinenser, reiste am von Italien kommend nach Österreich ein und wurde hier noch am selben Tag aufgegriffen sowie von einem Organwalter des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl (BFA) einvernommen. Spätestens im Zuge dieser Einvernahme stellte er einen Antrag auf internationalen Schutz. Außerdem gab er u.a. an, "vor weniger als einem Jahr" in Italien Asyl bekommen zu haben; aufgrund dessen sei ihm ein "permesso" für fünf Jahre ausgestellt worden, doch sei ihm dieses dann wegen eines "Problem(s) im Camp" "weggenommen" worden; er sei drei Monate in Haft gewesen und habe (zuletzt) einen Bescheid erhalten, wonach er Italien binnen sieben Tagen verlassen müsse.

2 Noch am verhängte das BFA über den Revisionswerber gemäß Art. 28 Abs. 1 und 2 Dublin III-VO iVm § 76 Abs. 2 Z 2 FPG Schubhaft zur Sicherung des Verfahrens über einen Antrag auf internationalen Schutz im Hinblick auf die Erlassung einer Anordnung zur Außerlandesbringung (nach Italien) sowie zur Sicherung der Abschiebung. In der Folge richtete es - angesichts eines EURODAC-Treffers in Bezug auf Italien () - ein Wiederaufnahmegesuch an Italien, das unbeantwortet blieb; mit Schreiben vom wurde Italien daraufhin vom Zuständigkeitsübergang aufgrund Fristablaufs in Kenntnis gesetzt.

3 Mit Bescheid vom wies das BFA hierauf den Antrag des Revisionswerbers auf internationalen Schutz gemäß § 5 Abs. 1 AsylG 2005 zurück, stellte fest, dass Italien zuständig sei und ordnete gemäß § 61 Abs. 1 Z 1 FPG die Außerlandesbringung des Revisionswerbers (nach Italien) an.

4 Die italienischen Behörden teilten in der Folge mit Note vom mit, dass dem Revisionswerber in Italien Asyl gewährt worden sei, weshalb seine Verbringung nach Italien nur im Rahmen von "Polizeiübereinkommen" in Betracht komme. Im Hinblick darauf hob das BFA mit Bescheid vom den Zurückweisungsbescheid vom gemäß § 68 Abs. 2 AVG auf; mit weiterem Bescheid vom selben Tag wies es den Antrag des Revisionswerbers auf internationalen Schutz nunmehr gemäß § 4a AsylG 2005 zurück, stellte fest, dass sich der Revisionswerber nach Italien zurückbegeben müsse und ordnete abermals seine Außerlandesbringung (nach Italien) an. Bereits davor, am , hatte das BFA neuerlich Schubhaft, nunmehr gestützt auf § 76 Abs. 2 Z 1 FPG, angeordnet.

5 Am sollte der Revisionswerber nach Italien überstellt werden. Am Flughafen Venedig wurde ihm jedoch die Einreise verweigert, sodass er gemeinsam mit den ihn begleitenden Exekutivbeamten nach Österreich zurückkehrte und wieder in das Polizeianhaltezentrum eingeliefert wurde.

6 Mit Bescheid vom hob das BFA hierauf nunmehr auch den Zurückweisungsbescheid nach § 4a AsylG 2005 vom gemäß § 68 Abs. 2 AVG auf. Mit weiterem Bescheid vom wurde der Antrag des Revisionswerbers auf internationalen Schutz nunmehr - wiederum - gemäß § 5 Abs. 1 AsylG 2005 als unzulässig zurückgewiesen, festgestellt, dass für die Prüfung des Antrages Italien zuständig sei und neuerlich die Außerlandesbringung des Revisionswerbers (nach Italien) angeordnet. In diesem Bescheid führte das BFA aus, dass die italienischen Behörden die Verweigerung der Übernahme des Revisionswerbers am (offenkundig gemeint:

aufgrund der mit Note vom angesprochenen "Polizeiübereinkommen") mit E-Mail vom damit begründet hätten,

"dass er am in unserem Land internationalen Schutz zugesprochen bekam. In weiterer Folge wurde ihm am von der zuständigen nationalen Asylkommission der Asylstatus aberkannt.... Daher wird in Berichtigung vorhergehender Informationen mitgeteilt, dass für den Betreffenden keine rechtlichen Gründe für eine Rückübernahme nach Italien bestehen ..."

Den italienischen Behörden sei jedoch - so das BFA weiter - mitgeteilt worden, dass "nach wie vor" davon auszugehen sei, dass Italien für das Asylverfahren des Revisionswerbers zuständig sei.

7 Gleichfalls noch am ordnete das BFA erneut, nunmehr wieder gestützt auf Art. 28 Dublin III-VO iVm § 76 Abs. 2 Z 2 FPG, die Schubhaft des Revisionswerbers zum Zweck der Sicherung des Verfahrens über einen Antrag auf internationalen Schutz im Hinblick auf die Erlassung einer Anordnung zur Außerlandesbringung (nach Italien) sowie zur Sicherung der Abschiebung des Revisionswerbers an.

8 Mit am mündlich verkündetem und am schriftlich ausgefertigtem Erkenntnis wies das Bundesverwaltungsgericht (BVwG) die gegen den letztgenannten Bescheid und gegen die fortdauernde Anhaltung in Schubhaft erhobene Beschwerde als unbegründet ab, stellte fest, dass zum Zeitpunkt der Entscheidung die für die Fortsetzung der Schubhaft maßgeblichen Voraussetzungen vorlägen und wies den Antrag des Revisionswerbers auf Kostenersatz ab (Spruchpunkt A 2.). Einem Antrag auf vorläufige Befreiung von den Gerichtsgebühren und anderen bundesgesetzlich geregelten staatlichen Gebühren gab es dagegen statt (Spruchpunkt A 1.). Außerdem erklärte das BVwG die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG für zulässig.

9 Über die gegen Spruchpunkt A 2. dieses Erkenntnisses erhobene (ordentliche) Revision hat der Verwaltungsgerichtshof - Revisionsbeantwortungen wurden nicht erstattet - erwogen:

10 Das BVwG hat die Revision zugelassen, weil Rechtsprechung zu der Frage fehle, ob die neuerliche Anordnung von Schubhaft nach einem gescheiterten Überstellungsversuch "nach den Bestimmungen der Dublin-III-VO (gemeint: Im Hinblick auf die dort angeordneten zeitlichen Grenzen von Schubhaft) zulässig" sei. Auch der Revisionswerber geht unter diesem Aspekt vom Vorliegen der Voraussetzungen des Art. 133 Abs. 4 B-VG aus.

11 Die Revision ist unter diesem Gesichtspunkt zulässig, sie ist auch berechtigt.

12 Zunächst ist darauf hinzuweisen, dass die gegenständliche Schubhaft auf der Überlegung beruht, der Revisionswerber könne nach der Dublin III-VO nach Italien überstellt werden. Träfe diese Annahme nicht zu, wäre die Schubhaft daher von vornherein rechtswidrig.

13 Ausgehend von der Überstellbarkeit des Revisionswerbers nach Italien nach der Dublin III-VO kam Schubhaft nur nach Maßgabe des Art. 28 der genannten Verordnung in Betracht. Die Absätze 3 und 4 dieses Artikels lauten wie folgt:

"Artikel 28

Haft

...

(3) Die Haft hat so kurz wie möglich zu sein und nicht länger zu sein, als bei angemessener Handlungsweise notwendig ist, um die erforderlichen Verwaltungsverfahren mit der gebotenen Sorgfalt durchzuführen, bis die Überstellung gemäß dieser Verordnung durchgeführt wird.

Wird eine Person nach diesem Artikel in Haft genommen, so darf die Frist für die Stellung eines Aufnahme- oder Wiederaufnahmegesuchs einen Monat ab der Stellung des Antrags nicht überschreiten. Der Mitgliedstaat, der das Verfahren gemäß dieser Verordnung durchführt, ersucht in derartigen Fällen um eine dringende Antwort. Diese Antwort erfolgt spätestens zwei Wochen nach Eingang des Gesuchs. Wird innerhalb der Frist von zwei Wochen keine Antwort erteilt, ist davon auszugehen, dass dem Aufnahmebzw. Wiederaufnahmegesuch stattgegeben wird, was die Verpflichtung nach sich zieht, die Person aufzunehmen und angemessene Vorkehrungen für die Ankunft zu treffen.

Befindet sich eine Person nach diesem Artikel in Haft, so erfolgt die Überstellung aus dem ersuchenden Mitgliedstaat in den zuständigen Mitgliedstaat, sobald diese praktisch durchführbar ist und spätestens innerhalb von sechs Wochen nach der stillschweigenden oder ausdrücklichen Annahme des Gesuchs auf Aufnahme oder Wiederaufnahme der betreffenden Person durch einen anderen Mitgliedstaat oder von dem Zeitpunkt an, ab dem der Rechtsbehelf oder die Überprüfung gemäß Artikel 27 Absatz 3 keine aufschiebende Wirkung mehr hat.

Hält der ersuchende Mitgliedstaat die Fristen für die Stellung eines Aufnahme- oder Wiederaufnahmegesuchs nicht ein oder findet die Überstellung nicht innerhalb des Zeitraums von sechs Wochen im Sinne des Unterabsatz 3 statt, wird die Person nicht länger in Haft gehalten. Die Artikel 21, 23, 24 und 29 gelten weiterhin entsprechend.

(4) Hinsichtlich der Haftbedingungen und der Garantien für in Haft befindliche Personen gelten zwecks Absicherung der Verfahren für die Überstellung in den zuständigen Mitgliedstaat die Artikel 9, 10 und 11 der Richtlinie 2013/33/EU."

Die in Art. 28 Abs. 4 der Dublin III-VO angesprochene Richtlinie 2013/33/EU (Aufnahmerichtlinie) enthält in ihrem Art. 8 Abs. 3 jene Gründe, aus denen ein Asylwerber in Haft genommen werden darf. Gemäß der lit. f dieses Absatzes ist das u. a. dann der Fall, wenn die Haftnahme mit Art. 28 der Dublin III-VO in Einklang steht. Art. 9 Abs. 1 der Aufnahmerichtlinie, auf den Art. 28 Abs. 4 der Dublin III-VO insbesondere verweist, sieht in seinem ersten Absatz Folgendes vor:

"Artikel 9

Garantien für in Haft befindliche Antragsteller

(1) Ein Antragsteller wird für den kürzest möglichen Zeitraum und nur so lange in Haft genommen, wie die in Artikel 8 Absatz 3 genannten Gründe gegeben sind.

Die Verwaltungsverfahren in Bezug auf die in Artikel 8 Absatz 3 genannten Gründe für die Inhaftnahme werden mit der gebotenen Sorgfalt durchgeführt. Verzögerungen in den Verwaltungsverfahren, die nicht dem Antragsteller zuzurechnen sind, rechtfertigen keine Fortdauer der Haft."

14 Art. 28 Abs. 3 Unterabs. 2 Dublin III-VO verkürzt für Personen, die nach Art. 28 Dublin III-VO in Haft genommen worden sind, die in Art. 21, 23 und 24 Dublin III-VO vorgesehenen Fristen für die Stellung eines Aufnahme- oder Wiederaufnahmegesuches auf einen Monat ab Stellung des Antrages auf internationalen Schutz und die in Art. 22 bzw. Art. 25 Dublin III-VO normierte Frist für die Antwort auf dieses Gesuch bzw. für den Eintritt der Zustimmungsfiktion durch Verschweigung auf zwei Wochen nach Eingang des Gesuchs. Art. 28 Abs. 3 Unterabs. 3 Dublin III-VO verkürzt in diesen Fällen die in Art. 29 Dublin III-VO vorgesehene Frist für die Überstellung in den zuständigen Mitgliedstaat auf sechs Wochen. Die sechswöchige Frist beginnt mit der stillschweigenden oder ausdrücklichen Annahme des Gesuchs auf Aufnahme oder Wiederaufnahme oder mit dem Zeitpunkt, ab dem der Rechtsbehelf oder die Überprüfung gemäß Art. 27 Abs. 3 Dublin III-VO keine aufschiebende Wirkung mehr hat.

15 An diese verkürzten Fristen nach Art. 28 Abs. 3 Dublin III-VO knüpft Art. 28 Abs. 3 Unterabs. 4 Dublin III-VO an, indem er anordnet, dass die Haft bei Überschreiten der Fristen nicht aufrechterhalten werden darf (, Rn. 12 und 14).

16 Insoweit enthält die Dublin III-VO also zeitliche Grenzen für Schubhaft. Eine weitere Grenze ergibt sich - unabhängig von der Einhaltung der in Art. 28 Abs. 3 Dublin III-VO festgelegten Fristen - aber aus Art. 28 Abs. 4 der Verordnung iVm Art. 9 Abs. 1 der Aufnahmerichtlinie. Demnach rechtfertigen Verzögerungen in den Verwaltungsverfahren, die nicht dem Antragsteller zuzurechnen sind, keine Fortdauer von Schubhaft, sodass also dem Dublin-Regime unterliegende Personen im Fall derartiger, die Unverhältnismäßigkeit der Anhaltung bewirkender Verzögerungen nicht weiter in Schubhaft belassen werden dürfen.

17 Im vorliegenden Fall ist es, weil Italien innerhalb von zwei Wochen ab Stellung des österreichischen Wiederaufnahmegesuches keine Antwort erteilt hat, mit Ablauf des zur stillschweigenden Annahme dieses Gesuchs gekommen. Zu diesem Zeitpunkt befand sich der Revisionswerber bereits in Schubhaft, weshalb (siehe Amayry, C- 60/16, Rn. 39) die sechswöchige Überstellungs- bzw. Haftfrist nach Art. 28 Abs. 3 Unterabs. 3 und 4 Dublin III-VO mit zu laufen begonnen hatte. Innerhalb dieser sechswöchigen Frist - mit Bescheid vom - wurde dann zwar der vom Revisionswerber gestellte Antrag auf internationalen Schutz gemäß § 5 AsylG 2005 zurückgewiesen. Mit Bescheid vom hat das BFA diesen Zurückweisungsbescheid, die Basis für eine Überstellung des Revisionswerbers nach Italien gemäß der Dublin III-VO, gemäß § 68 Abs. 2 AVG aber wieder aufgehoben. Erst am ist das BFA zur Anwendung der Dublin III-VO "zurückgekehrt", und zwar einerseits durch Erlassung eines neuen Bescheides nach § 5 AsylG 2005 samt Anordnung der Außerlandsbringung des Revisionswerbers nach Italien und andererseits durch nochmalige Verhängung von Schubhaft nach Art. 28 Dublin III-VO. Dabei hat sich das BFA zur Begründung der italienischen Zuständigkeit - nach wie vor - auf die mit eingetretene "Zuständigkeit infolge Verfristung" berufen. Damit diente die Schubhaft des Revisionswerbers der Sache nach retrospektiv betrachtet durchgehend - zumal sich die Tatsachengrundlage ungeachtet der irreführenden italienischen Auskunft vom in Wahrheit nicht geändert hatte - der Effektuierung der schon ab in die Wege leitbaren Überstellung des Revisionswerbers nach Italien gemäß der Dublin III-VO. Jedenfalls im Hinblick auf die Kassation des ersten Zurückweisungsbescheides nach § 5 AsylG 2005 vom , der am "wiederholt" werden musste, liegen dann aber maßgebliche ins Gewicht fallende "Verzögerungen in den Verwaltungsverfahren" vor, die "nicht dem Antragsteller zuzurechnen" sind und die die Haft insgesamt als unverhältnismäßig erscheinen lassen. Eine Haftverlängerung - und sei es auch im Wege eines wiederholten Schubhaftbescheides - war somit in der vorliegenden Konstellation schon deshalb nicht zulässig, ohne dass die Auswirkungen des dargestellten Verfahrensganges auf die mit zu laufen begonnen habende sechswöchige Überstellungsfrist näher untersucht werden müssten.

18 Das hat das BVwG verkannt, weshalb das bekämpfte Erkenntnis im Umfang seiner Anfechtung (Spruchpunkt A 2.) gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufzuheben war. Von einer Befassung des EuGH konnte im Sinn der acte-claire-Doktrin abgesehen werden.

19 Der Spruch über den Aufwandersatz gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG iVm der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2014.

Wien, am

Zusatzinformationen


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ECLI:
ECLI:AT:VWGH:2018:RO2018210005.J00
Schlagworte:
Rechtsgrundsätze Fristen VwRallg6/5 Gemeinschaftsrecht Verordnung EURallg5

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