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VwGH vom 06.05.2020, Ro 2018/08/0015

VwGH vom 06.05.2020, Ro 2018/08/0015

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Bachler, den Hofrat Dr. Strohmayer, die Hofrätin Dr. Julcher sowie die Hofräte Mag. Berger und Mag. Stickler als Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Klima LL.M., über die Revision des Arbeitsmarktservice Wien Schönbrunner Straße, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom , W228 2146259-1/13E, betreffend Leistungen nach dem AlVG (mitbeteiligte Partei: O J in W, vertreten durch Dr. Thomas Majoros, Rechtsanwalt in 1010 Wien, Walfischgasse 12/3), zu Recht erkannt:

Spruch

Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhalts aufgehoben.

Begründung

1Die im Jahr 1992 geborene Mitbeteiligte ging von 5. April bis in Österreich einer arbeitslosenversicherungspflichtigen Beschäftigung nach. Am machte sie beim Arbeitsmarktservice Wien Schönbrunner Straße (im Folgenden: AMS) einen Anspruch auf Arbeitslosengeld geltend.

2Mit Bescheid vom sprach das AMS aus, der Antrag der Mitbeteiligten auf Zuerkennung von Arbeitslosengeld werde mangels Erfüllung der Anwartschaft abgewiesen. Die gegen diesen Bescheid erhobene Beschwerde der Mitbeteiligten wies das AMS mit Beschwerdevorentscheidung vom als unbegründet ab.

3Begründend führte das AMS aus, die Mitbeteiligte sei zuletzt in Österreich und davor in Griechenland beschäftigt gewesen. Durch ihre arbeitslosenversicherungspflichtige Beschäftigung in Österreich in der Dauer von drei Tagen erfülle die Mitbeteiligte die Anwartschaft nach § 14 AlVG nicht. Der griechische Versicherungsträger habe die in Griechenland erworbenen Versicherungszeiten der Mitbeteiligten bekannt gegeben; und zwar die Monate Mai 2013 bis Oktober 2013, April 2014 bis November 2014 und Mai 2015 bis Oktober 2015. Von bis und von bis habe die Mitbeteiligte in Griechenland Arbeitslosengeld bezogen. Nach Mitteilung des griechischen Versicherungsträgers habe sie dadurch den Anspruch auf Arbeitslosengeld erschöpft. Daher seien die in Griechenland erworbenen Versicherungszeiten nicht mehr für die Anwartschaft in Österreich zu berücksichtigen.

4Die Mitbeteiligte stellte einen Vorlageantrag. Sie machte geltend, unter Berücksichtigung der Zeiten, in denen sie in Griechenland beschäftigt gewesen sei, habe sie die Anwartschaft für die Inanspruchnahme von Arbeitslosengeld in Österreich erfüllt. Sie sei in Griechenland erwerbstätig gewesen und habe danach Arbeitslosengeld bezogen. Daran habe sich eine weitere Erwerbstätigkeit angeschlossen, wodurch sie eine weitere Anwartschaft in Griechenland erworben habe. Dass sie durch den folgenden zweiten Bezug den Anspruch in Griechenland erschöpft habe, führe nicht dazu, dass ihr Anspruch in Österreich konsumiert wäre. Der letzte Zeitraum des Bezuges von Leistungen in Griechenland habe nämlich lediglich 80 Tage betragen. Da die sich ergebende Bezugsdauer des österreichischen Arbeitslosengeldes von 140 Tagen (§ 18 Abs. 1 AlVG) länger sei, stehe im Sinn der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes (Hinweis auf ) eine weitere Leistung in der Dauer von 60 Tagen zu, die nicht im Sinn des Art. 10 der Verordnung (EG) 883/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit (in der Folge: Verordnung 883/2004) konsumiert sei.

5Das AMS gab im Zuge der Vorlage an das Bundesverwaltungsgericht eine weitere Stellungnahme ab, in der es ausführte, nach nochmaliger Überprüfung ergebe sich im Sinn der im Vorlageantrag angeführten Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes, dass die Mitbeteiligte die Anwartschaft unter Einbeziehung der griechischen Versicherungszeiten und Berücksichtigung der sich aus den Zeiten des Bezuges in Griechenland ergebenden Rahmenfristerstreckung erfülle. Daraus folge eine „fiktive“ Bezugsdauer von 140 Tagen (§ 18 Abs. 1 AlVG) in Österreich. Es sei jedoch im Sinn der von der Mitbeteiligten zitierten Entscheidung des Verwaltungsgerichtshofes die Antikumulierungsvorschrift nach Art. 10 Verordnung 883/2004 zu berücksichtigen. Durch den Arbeitslosengeldbezug in Griechenland von zunächst 156 Tagen und danach nochmals 80 Tagen sei der Anspruch daher erschöpft. Es stehe daher kein Arbeitslosengeld zu.

6Mit dem angefochtenen Erkenntnis gab das Bundesverwaltungsgericht der Beschwerde Folge und sprach aus, dass der Mitbeteiligten in den Zeiträumen von bis und von bis Arbeitslosengeld in Höhe von € 8,92 täglich zustehe.

7Das Bundesverwaltungsgericht führte nach Wiedergabe des Verfahrensganges begründend aus, die Mitbeteiligte sei zunächst von 11. Mai bis und von 19. April bis in Griechenland beschäftigt gewesen und habe dadurch in Griechenland Zeiten der Pflichtversicherung in der Arbeitslosenversicherung erworben. Von bis (156 Tage) habe sie in Griechenland Arbeitslosengeld bezogen. Darauf sei sie von bis erneut in Griechenland in einem der Pflichtversicherung in der Arbeitslosenversicherung unterliegenden Beschäftigungsverhältnis gestanden. Daran habe sich von bis (80 Tage) ein weiterer Zeitraum des Bezugs von Arbeitslosengeld durch die Mitbeteiligte in Griechenland angeschlossen.

8Es sei im Sinn der von den Parteien angeführten Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes (Hinweis auf ) zu prüfen, ob der Anspruch der Mitbeteiligten auf Arbeitslosengeld durch den Bezug in Griechenland konsumiert sei. Die Mitbeteiligte habe bereits durch ihre Beschäftigung in Griechenland in der Zeit bis „fiktiv“ eine Anwartschaft im Sinn des § 14 Abs. 1 zweiter Satz AlVG erworben, weil damals ihr 25. Lebensjahr noch nicht vollendet gewesen und sie mehr als 26 Wochen arbeitslosenversicherungspflichtig beschäftigt gewesen sei. Ihr nunmehr in Österreich gestellter Antrag vom führe „über Rahmenfristerstreckung zum Ziel“. Eine Anrechnung des ersten Bezuges einer Leistung aus der Arbeitslosenversicherung in Griechenland von bis würde eine „Diskriminierung“ gegenüber österreichischen Staatsbürgern „mit gleichem Versicherungsverlauf“ darstellen. Es sei daher - im Sinn des Vorbringens der Mitbeteiligten - „Arbeitslosengeld für den restlichen Bezugszeitraum von 60 Tagen zu gewähren“.

9Die Revision sei zulässig, weil dem Erkenntnis des Verwaltungsgerichtshofes vom , 98/08/0274, ein anderer Sachverhalt zu Grunde gelegen sei. Im vorliegenden Fall habe die Mitbeteiligte nämlich einen „neuen Anspruch“ erworben. Das Erkenntnis sei auch nicht zu Art. 10 der Verordnung 883/2004 ergangen, sondern habe eine Vorgängerbestimmung (gemeint Art. 12 Abs. 1 der Verordnung [EWG] 1408/71 des Rates vom zur Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheit auf Arbeitnehmer und deren Familien, die innerhalb der Gemeinschaft zu- und abwandern [in der Folge: Verordnung (EWG) 1408/71]) betroffen. Es liege daher zu der hier entscheidungswesentlichen Antikumulierungsvorschrift des Art. 10 der Verordnung 883/2004 keine Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes vor.

10Gegen dieses Erkenntnis richtet sich die vorliegende Revision des AMS. Die Mitbeteiligte hat eine Revisionsbeantwortung erstattet, in der sie die Abweisung der Revision beantragt.

11Der Verwaltungsgerichtshof hat erwogen:

12Die Revision ist im Sinn der Ausführungen des Bundesverwaltungsgerichtes, auf die auch die Revision zurückkommt, zulässig, weil keine Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes zu Art. 10 der Verordnung 883/2004 vorliegt. Die Revision ist im Ergebnis auch berechtigt.

13Die Art. 10 und 61 der Verordnung 883/2004 lauten samt Überschriften:

„Artikel 10

Verbot des Zusammentreffens von Leistungen

Sofern nichts anderes bestimmt ist, wird aufgrund dieser Verordnung ein Anspruch auf mehrere Leistungen gleicher Art aus derselben Pflichtversicherungszeit weder erworben noch aufrechterhalten.“

„Artikel 61

Besondere Vorschriften für die Zusammenrechnung von Versicherungszeiten, Beschäftigungszeiten und Zeiten einer selbstständigen Erwerbstätigkeit

(1) Der zuständige Träger eines Mitgliedstaats, nach dessen Rechtsvorschriften der Erwerb, die Aufrechterhaltung, das Wiederaufleben oder die Dauer des Leistungsanspruchs von der Zurücklegung von Versicherungszeiten, Beschäftigungszeiten oder Zeiten einer selbstständigen Erwerbstätigkeit abhängig ist, berücksichtigt, soweit erforderlich, die Versicherungszeiten, Beschäftigungszeiten oder Zeiten einer selbstständigen Erwerbstätigkeit, die nach den Rechtsvorschriften eines anderen Mitgliedstaats zurückgelegt wurden, als ob sie nach den für ihn geltenden Rechtsvorschriften zurückgelegt worden wären.

Ist jedoch nach den anzuwendenden Rechtsvorschriften der Leistungsanspruch von der Zurücklegung von Versicherungszeiten abhängig, so werden die nach den Rechtsvorschriften eines anderen Mitgliedstaats zurückgelegten Beschäftigungszeiten oder Zeiten einer selbstständigen Erwerbstätigkeit nicht berücksichtigt, es sei denn, sie hätten als Versicherungszeiten gegolten, wenn sie nach den anzuwendenden Rechtsvorschriften zurückgelegt worden wären.

(2) Außer in den Fällen des Artikels 65 Absatz 5 Buchstabe a) gilt Absatz 1 des vorliegenden Artikels nur unter der Voraussetzung, dass die betreffende Person unmittelbar zuvor nach den Rechtsvorschriften, nach denen die Leistungen beantragt werden, folgende Zeiten zurückgelegt hat:

-Versicherungszeiten, sofern diese Rechtsvorschriften Versicherungszeiten verlangen,

-Beschäftigungszeiten, sofern diese Rechtsvorschriften Beschäftigungszeiten verlangen,

-oder

-Zeiten einer selbstständigen Erwerbstätigkeit, sofern diese Rechtsvorschriften Zeiten einer selbstständigen Erwerbstätigkeit verlangen.“

14Artikel 12 Abs. 1 der Verordnung [EWG] 1408/71 lautete:

„Verbot des Zusammentreffens von Leistungen

(1) Ein Anspruch auf mehrere Leistungen gleicher Art aus derselben Pflichtversicherungszeit kann aufgrund dieser Verordnung weder erworben noch aufrechterhalten werden. Dies gilt jedoch nicht für Leistungen bei Invalidität, Alter, Tod (Renten) oder Berufskrankheit, die von den Trägern von zwei oder mehr Mitgliedstaaten gemäß Artikel41, Artikel 43 Absätze 2 und 3, Artikel 46, 50 und 51 oder Artikel 60 Absatz 1 Buchstabe b) festgestellt werden.“

15Gemäß Art. 11 Abs. 1 der Verordnung 883/2004 unterliegen Personen, für die die Verordnung 883/2004 gilt, stets nur den Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats (vgl. etwa ). Nach Art. 11 Abs. 3 lit. a der Verordnung (EG) 883/2004 sind dies (grundsätzlich) die Rechtsvorschriften des Mitgliedstaates, in dem die Person eine Beschäftigung ausübt. Der für Leistungen bei Arbeitslosigkeit zuständige Mitgliedstaat ist somit der Mitgliedstaat, in dem zuletzt eine Beschäftigung ausgeübt worden ist, sodass dieser Mitgliedstaat diese Leistungen zu gewähren hat. Von diesem Grundsatz sieht die Verordnung 883/2004 u.a. für Arbeitslose, die in einem anderen als dem zuständigen Mitgliedstaat (in einem anderen als dem Beschäftigungsmitgliedstaat) gewohnt haben, in ihrem Art. 65 Ausnahmen vor (vgl. , mit näheren Ausführungen zur Bestimmung des zuständigen Mitgliedsstaates und Hinweisen auf die Rechtsprechung des EuGH; siehe auch Rn. 27).

16Zwischen den Parteien des vorliegenden Verfahrens ist nicht strittig, dass die Mitbeteiligte zuletzt in Österreich arbeitslosenversicherungspflichtig beschäftigt und wohnhaft war. Davon ausgehend sind die Parteien und das Bundesverwaltungsgericht zutreffend davon ausgegangen, dass Österreich nach Art. 11 Abs. 3 lit. a, 61 Abs. 2 der Verordnung 883/2004 der für Leistungen bei Arbeitslosigkeit zuständige Mitgliedstaat ist (vgl. ). Im Sinn des Art. 61 Abs. 2 der Verordnung 883/2004 ist daher auch der Anwendungsbereich der Zusammenrechnung von Versicherungszeiten, Beschäftigungszeiten und Zeiten einer selbstständigen Erwerbstätigkeit eröffnet (vgl. zu den Modalitäten der Feststellung der in anderen Mitgliedsstaaten zurückgelegten Zeiten auch die Art. 54, 12 und 13 der Verordnung [EG] 987/2009).

17Voraussetzung des Erwerbs eines Anspruches auf Arbeitslosengeld ist unter anderem gemäß § 7 Abs. 1 Z 2 AlVG die Erfüllung der Anwartschaft. Diese ist nach § 14 Abs. 1 AlVG bei der erstmaligen Inanspruchnahme von Arbeitslosengeld erfüllt, wenn der Arbeitslose in den letzten 24 Monaten vor Geltendmachung des Anspruches (Rahmenfrist) insgesamt 52 Wochen im Inland arbeitslosenversicherungspflichtig beschäftigt war. Handelt es sich jedoch um einen Arbeitslosen, der das Arbeitslosengeld vor Vollendung des 25. Lebensjahres beantragt, ist die Anwartschaft auf Arbeitslosengeld auch dann erfüllt, wenn der Arbeitslose in den letzten zwölf Monaten vor Geltendmachung des Anspruches (Rahmenfrist) insgesamt 26 Wochen im Inland arbeitslosenversicherungspflichtig beschäftigt war. Nach § 14 Abs. 2 AlVG ist bei jeder weiteren Inanspruchnahme des Arbeitslosengeldes die Anwartschaft erfüllt, wenn der Arbeitslose in den letzten 12 Monaten vor Geltendmachung des Anspruches (Rahmenfrist) insgesamt 28 Wochen im Inland arbeitslosenversicherungspflichtig beschäftigt war. Die Anwartschaft ist im Falle einer weiteren Inanspruchnahme auch dann erfüllt, wenn der Arbeitslose die Anwartschaft gemäß § 14 Abs. 1 erster Satz AlVG erfüllt.

18In seiner Rechtsprechung zu Art. 12 der Verordnung (EWG) 1408/71 hat der EuGH festgehalten, dass eine ungerechtfertigte Kumulierung - entsprechend dem Wortlaut der Bestimmung - dann vorliegt, wenn ein Anspruch auf mehrere Leistungen gleicher Art aus derselben Pflichtversicherungszeit erhoben wird. Leistungen der sozialen Sicherheit sind unabhängig von den besonderen Eigenheiten der Rechtsvorschriften der verschiedenen Mitgliedstaaten als Leistungen gleicher Art zu betrachten, wenn ihr Sinn und Zweck sowie ihre Berechnungsgrundlage und die Voraussetzungen für ihre Gewährung übereinstimmen. Dagegen sind rein formale Merkmale nicht als wesentliche Tatbestandsmerkmale für die Einstufung der Leistungen anzusehen. Eine Sichtweise, wonach die Berechnungsgrundlagen und die Voraussetzungen für die Leistungsgewährung völlig gleich sein müssten, würde angesichts der zahlreichen Unterschiede zwischen den nationalen Systemen der sozialen Sicherheit dazu führen, dass die Anwendung des in Art. 12 der Verordnung (EWG) 1408/71 enthaltenen Kumulierungsverbots erheblich eingeschränkt würde. Dies widerspräche dem Sinn dieses Verbots, nicht gerechtfertigte Kumulierungen von Sozialleistungen zu verhindern (vgl. Wiering, C-347/12, Rn. 53 ff).

19Der Verwaltungsgerichtshof hat in seinem Erkenntnis vom , 2007/08/0144, zu Art. 12 Abs. 1 erster Satz der Verordnung (EWG) 1408/71 ausgesprochen, dass - wie schon aus dem klaren Wortlaut der Bestimmung folgt - die Berücksichtigung einer in einem anderen Mitgliedstaat erworbenen Zeit der Pflichtversicherung, durch die in diesem Mitgliedsstaat bereits ein Anspruch auf eine Leistungen bei Arbeitslosigkeit begründet wurde, zum Erwerb einer neuen Anwartschaft nach dem AlVG nicht in Betracht kommt.

20Die Bestimmung des Art. 10 der Verordnung 883/2004 entspricht Art. 12 Abs. 1 erster Satz der Verordnung (EWG) 1408/71. Es ist daher nicht zweifelhaft, dass die insoweit ergangene Rechtsprechung übertragen werden kann (vgl. in diesem Sinn Spiegel in Spiegel [Hrsg.], Zwischenstaatliches Sozialversicherungsrecht [57. Lfg.], Art. 10 VO 883/2004, Rz 1; Schuler in Fuchs [Hrsg.], Europäisches Sozialrecht, Art. 10, Rn. 1). Die Bestimmung gilt insbesondere weiterhin auch für Leistungen bei Arbeitslosigkeit.

21Im vorliegenden Fall hat die Mitbeteiligte nach den Feststellungen des Bundesverwaltungsgerichtes in Griechenland von bis und von bis eine Leistung bei Arbeitslosigkeit bezogen. Nicht zweifelhaft ist somit, dass eine Leistung gleicher Art im Sinn des Art. 10 der Verordnung 883/2004 in Bezug auf das österreichische Arbeitslosengeld vorlag, die unstrittig erschöpft war. Nicht strittig ist auch, dass die Gewährung dieser Leistung - entsprechend der Mitteilung des griechischen Versicherungsträgers - auf den von der Mitbeteiligten in den Monaten Mai 2013 bis Oktober 2013, April 2014 bis November 2014 und Mai 2015 bis Oktober 2015 in Griechenland erworbenen Zeiten der Pflichtversicherung beruhte.

22Daraus folgt aber, dass nach Art. 10 der Verordnung 883/2004 eine Berücksichtigung der in Griechenland erworbenen Zeiten der Pflichtversicherung durch die Mitbeteiligte im Sinn der dargestellten und auf die nunmehrige Rechtslage zu übertragenden Rechtsprechung für den Erwerb einer neuen Anwartschaft nach dem AlVG in Österreich nicht in Betracht kommt. Durch die nachfolgende arbeitslosenversicherungspflichtige Beschäftigung der Mitbeteiligten in Österreich in der Dauer von drei Tagen wird die Anwartschaft nach § 14 AlVG nicht erfüllt. Damit steht der Mitbeteiligten nach § 7 Abs. 1 Z 2, 14 AlVG kein Anspruch auf Leistungen aus der Arbeitslosenversicherung zu.

23Soweit das Bundesverwaltungsgericht ausführt, eine Verweigerung der Gewährung von Arbeitslosengeld würde eine „Diskriminierung“ der Mitbeteiligten gegenüber österreichischen Staatsbürgern „mit gleichem Versicherungsverlauf“ darstellen, argumentiert das Verwaltungsgericht erkennbar damit, dass von einer österreichischen Staatsbürgerin, die die Zeiten der arbeitslosenversicherungspflichtigen Beschäftigung und des Bezugs von Leistungen in Österreich - statt Griechenland - zurückgelegt hätte, ein Anspruch erworben worden wäre.

24Das Bundesverwaltungsgericht übersieht mit diesen Ausführungen, dass nach Art. 4 der Verordnung 883/2004 eine Gleichbehandlung nur vorgesehen ist, sofern in dieser Verordnung nichts anderes bestimmt ist. Hinsichtlich der Zusammenrechnung bzw. Berücksichtigung von im Ausland zurückgelegten Zeiten der Pflichtversicherung enthält die Verordnung 883/2004 eigene Anordnungen, die dem Gleichbehandlungsgebot nach Art. 4 der Verordnung 883/2004 vorgehen (vgl. Adanez-Vega, C-372/02, Rn. 56 ff).

25Dem Erkenntnis des Verwaltungsgerichtshofes vom , 98/08/0274, auf das sich sowohl die Parteien als auch das Bundesverwaltungsgericht berufen, lag dagegen eine Konstellation aufeinanderfolgender Leistungszuständigkeiten, wie sie ausnahmsweise bei vollarbeitslosen „Nicht-Grenzgängern“ nach Art. 65 Abs. 2 dritter Satz iVm. Abs. 5 der Verordnung 883/2004 (vormals Art. 71 Abs. 1 lit. b sublitt. ii der Verordnung [EWG] 1408/71) auftreten kann, zugrunde.

26Gemäß Art. 1 lit. f der Verordnung 883/2004 ist ein „Grenzgänger“ eine Person, die in einem Mitgliedstaat eine Beschäftigung oder eine selbstständige Erwerbstätigkeit ausübt und in einem anderen Mitgliedstaat wohnt, in den sie in der Regel täglich, mindestens jedoch einmal wöchentlich zurückkehrt. Eine Person, die in einem Mitgliedstaat eine Beschäftigung ausübt und in einem anderen Mitgliedstaat wohnt, in den sie nicht mindestens einmal wöchentlich zurückkehrt, wird in der Terminologie des Art. 65 der Verordnung 883/2004 dagegen als „kein Grenzgänger“, „unechter Grenzgänger“ oder „Nicht-Grenzgänger“ bezeichnet (vgl. , mwN und näheren Ausführungen zum Begriff des Wohnortes nach Art. 1 lit. j der Verordnung 883/2004).

27Ein solcher vollarbeitsloser Nicht-Grenzgänger, der (zunächst) nicht in den Wohnmitgliedstaat zurückkehrt und sich gemäß Art. 65 Abs. 2 dritter Satz der Verordnung 883/2004 der Arbeitsverwaltung des letzten Mitgliedstaats, in dem er beschäftigt war, zur Verfügung stellt, erhält von dem - damit zuständigen (Art. 11 Abs. 3 lit. a der Verordnung 883/2004) - Beschäftigungsmitgliedstaat Leistungen. Kehrt er später - somit nachdem er bereits Leistungen vom Beschäftigungsmitgliedstaat erhalten hat - in seinen Wohnmitgliedsstaat zurück, erhält er gemäß Art. 65 Abs. 5 lit. b iVm. lit. a der Verordnung 883/2004 zunächst (weiterhin) vom Beschäftigungsmitgliedstaat Leistungen nach Art. 64 der Verordnung 883/2004 (Leistungsexport, wie wenn sich eine vollarbeitslose Person zur Arbeitsuche in einen anderen Mitgliedstaat begeben würde). Steht diese Leistung nicht bzw. nicht mehr zu (vgl. zur Dauer des Leistungsexportes Art. 64 Abs. 1 lit. c der Verordnung 883/2004), hat jedoch der Wohnmitgliedstaat - nach den weiteren Regelungen der Art. 61 und 62 der Verordnung 883/2004 - im Sinn des Art. 65 Abs. 5 lit. a der Verordnung 883/2004 Leistungen nach seinen Rechtsvorschriften, als ob diese Rechtsvorschriften für den Arbeitslosen während seiner letzten Beschäftigung oder selbstständigen Erwerbstätigkeit gegolten hätten, zu erbringen (vgl. nochmals VwGH Ra 2016/08/0047, mit näheren Ausführungen zu den rechtlichen Grundlagen sowie zum Begriff der „Rückkehr).

28In einer solchen Konstellation hat der Wohnmitgliedsstaat, in den ein „Nicht-Grenzgänger“ zurückkehrt, somit im Gefolge der zunächst vom Beschäftigungsstaat aufgrund der dort zurückgelegten Versicherungszeiten (allenfalls Beschäftigungszeiten oder Zeiten einer selbstständigen Erwerbstätigkeit) erbrachten Leistung, Leistungen bei Arbeitslosigkeit zu erbringen. In Fällen, in denen Österreich als Wohnmitgliedstaat nach Rückkehr eines Nicht-Grenzgängers zur Erbringung der Leistung zuständig wird, steht nach diesen Bestimmungen daher bei Erschöpfung des Anspruches auf Arbeitslosengeld und Vorliegen der übrigen Voraussetzungen gemäß § 33 Abs. 1 AlVG - insbesondere Erfüllung der Anwartschaft - Notstandshilfe zu (vgl. ; , Ra 2016/08/0050).

29Der Knoch, C-102/91, eine solche aufeinanderfolgende Leistungszuständigkeit zwischen dem Beschäftigungsstaat und dem Wohnmitgliedstaat bei einem Nicht-Grenzgänger - wie sie nunmehr der dargestellten Rechtslage nach der Verordnung 883/2004 entspricht - bereits zu Art. 71 Abs. 1 lit. b sublitt. ii der Verordnung (EWG) 1408/71 judiziert und ausgeführt, dass der insoweit zuständig gewordene Wohnmitgliedsstaat gemäß Art. 12 Abs. 1 erster Satz der Verordnung (EWG) 1408/71 zur Berechnung des Anspruches nach seinen Rechtsvorschriften Versicherungszeiten zu berücksichtigen habe, die nach den Rechtsvorschriften zurückgelegt wurden, die für den Arbeitslosen zuletzt galten. Art. 65 Abs. 5 lit. b iVm. lit. a der Verordnung 883/2004 stellt daher insoweit eine Umsetzung der Rechtsprechung des EuGH dar (vgl. Spiegel in Spiegel [Hrsg.], Zwischenstaatliches Sozialversicherungsrecht [58. Lfg.], Art. 65 VO 883/2004, Rn. 11). Weiters hat der EuGH in diesem Urteil ausgeführt, der Träger des Wohnmitgliedsstaates müsse in dieser Konstellation von der nach seinen Rechtsvorschriften erworbenen Dauer des Anspruchs auf Leistungen bei Arbeitslosigkeit die Tage abziehen, für die bereits Leistungen nach den Rechtsvorschriften des Beschäftigungsstaates bezogen worden seien.

30Mit dem von den Parteien und dem Bundesverwaltungsgericht zitierten Erkenntnis des Verwaltungsgerichtshofes 98/08/0274 wurde diese Judikatur des EuGH hinsichtlich eines nach Österreich zurückgekehrten Nicht-Grenzgängers zur Verordnung (EWG) 1408/71 zur Anwendung gebracht und - infolge Erschöpfung des Anspruches auf Arbeitslosengeld durch die vom Beschäftigungsstaat erbrachten Leistungen - die Voraussetzungen eines Anspruches auf Notstandshilfe als erfüllt erachtet.

31Im vorliegenden Fall wurde eine solche Konstellation, in der es zu aufeinanderfolgenden Leistungszuständigkeiten zwischen dem Beschäftigungsstaat und dem Wohnmitgliedstaat eines Nicht-Grenzgängers kommt, vom Bundesverwaltungsgericht jedoch nicht festgestellt und von den Parteien auch nicht behauptet. Es hat daher dabei zu bleiben, dass (nach Erschöpfung des Anspruches in Griechenland) der Erwerb eines (neuen) Anspruches auf Leistungen bei Arbeitslosigkeit in Österreich - als Beschäftigungs- und Wohnmitgliedstaat der Mitbeteiligten - aus den dargestellten Gründen unter Berücksichtigung der Antikumulierungsvorschrift des Art. 10 der Verordnung 883/2004 an der Nichterfüllung der Anwartschaft scheitert.

32Das angefochtene Erkenntnis war daher gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG wegen Rechtswidrigkeit seines Inhalts aufzuheben.

Wien, am

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ECLI:
ECLI:AT:VWGH:2020:RO2018080015.J00

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