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VwGH vom 13.12.2018, Ro 2017/22/0002

VwGH vom 13.12.2018, Ro 2017/22/0002

Betreff

Senatspräsident Dr. Robl, die Hofrätin Mag.a Merl sowie die Hofräte Dr. Mayr, Dr. Schwarz und Mag. Berger als Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag.a Strasser, über die Revision des Bundesministers für Inneres gegen das Erkenntnis des Verwaltungsgerichtes Wien vom , VGW- 151/074/8148/2016-4, VGW-151/074/8147/2016, betreffend Aufenthaltstitel (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht:

Landeshauptmann von Wien; mitbeteiligte Parteien: 1. R Y, 2. A Y, beide in W und beide vertreten durch Edward W. Daigneault, Rechtsanwalt in 1160 Wien, Lerchenfelder Gürtel 45/11), zu Recht erkannt:

Spruch

Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.

Begründung

1 Die mitbeteiligten Parteien - beide sind russische Staatsangehörige, die erstmitbeteiligte Partei ist die Mutter und Sachwalterin der zweitmitbeteiligten Partei - haben am einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt. Mit Erkenntnis des Asylgerichtshofes vom wurde ausgesprochen, dass die Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung der mitbeteiligten Parteien in die Russische Föderation unzulässig sei, und es wurde ihnen jeweils eine befristete Aufenthaltsberechtigung gemäß § 8 Abs. 3 Asylgesetz 1997 für die Dauer von einem Jahr erteilt. In der Folge wurden die Aufenthaltsberechtigungen verlängert, zuletzt verfügten die mitbeteiligten Parteien über eine befristete Aufenthaltsberechtigung als subsidiär Schutzberechtigte gemäß § 8 Abs. 4 Asylgesetz 2005 (AsylG 2005) mit einer Gültigkeit bis zum .

2 Am stellten die mitbeteiligten Parteien jeweils einen Antrag auf Erteilung eines Aufenthaltstitels "Daueraufenthalt - EU" gestützt auf § 45 Abs. 12 Niederlassungs- und Aufenthaltsgesetz (NAG).

3 Mit den - im Wesentlichen inhaltsgleichen - Bescheiden vom wies der Landeshauptmann von Wien (belangte Behörde) diese Anträge gemäß § 11 Abs. 2 Z 4 in Verbindung mit Abs. 5 NAG ab.

Die belangte Behörde legte den Entscheidungen zugrunde, dass die mitbeteiligten Parteien (in jeweils näher genannter Höhe) Grundversorgung, Mindestsicherung und (für die Tochter) Pflegegeld beziehen würden. Da die Sozialhilfe kein Einkommensbestandteil sei, könne sie bei der Einkommensberechnung nicht berücksichtigt werden. Die mitbeteiligten Parteien seien bislang keiner Erwerbstätigkeit nachgegangen, die Tochter sei körperlich und geistig beeinträchtigt, die Mutter übernehme die Pflege und Betreuung. Im Hinblick darauf könne auch in naher Zukunft nicht von der Ausübung einer Erwerbstätigkeit ausgegangen werden, weshalb keine günstige Prognose hinsichtlich der Erzielung von ausreichenden Einkünften gestellt werden könne.

Eine Abwägung nach § 11 Abs. 3 NAG könne - so die belangte Behörde - im gegenständlichen Fall unterbleiben, weil die mitbeteiligten Parteien auf Grund ihrer gültigen Aufenthaltsberechtigung als subsidiär Schutzberechtigte ohnehin aufenthaltsberechtigt seien.

Da nicht ausgeschlossen werden könne, dass der Aufenthalt der mitbeteiligten Parteien zu einer finanziellen Belastung führen könnte, könne über die Anträge nicht positiv entschieden werden.

4 In den dagegen erhobenen Beschwerden wandten sich die mitbeteiligten Parteien - unter Verweis auf das Erkenntnis des Verfassungsgerichtshofes vom , G 106/12, G 17/13 - gegen die Maßgeblichkeit der Voraussetzungen des § 11 Abs. 5 NAG für Menschen mit Behinderung.

5 Auf Grund dieser Beschwerden hob das Verwaltungsgericht Wien mit dem angefochtenen Erkenntnis vom - nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung - die Bescheide der belangten Behörde vom auf und erteilte den mitbeteiligten Parteien jeweils den Aufenthaltstitel "Daueraufenthalt - EU". Die ordentliche Revision an den Verwaltungsgerichtshof nach Art. 133 Abs. 4 B-VG wurde für zulässig erklärt.

6 Nach den Feststellungen des Verwaltungsgerichtes erhielten die - im Bundesgebiet noch nie erwerbstätig gewesenen - mitbeteiligten Parteien als monatliche Dauerleistungen laut Bescheid des Magistrates der Stadt Wien jeweils EUR 625,- gemäß dem Wiener Mindestsicherungsgesetz und laut Bestätigung der Caritas jeweils EUR 335,- aus der Grundversorgung. Zudem erhalte die zweitmitbeteiligte Partei Pflegegeld der Stufe 2 in Höhe von EUR 284,30. Die Miete (für die gemeinsame Wohnung) betrage EUR 386,-.

Laut den vorliegenden ärztlichen Stellungnahmen sei die (sich im sechzigsten Lebensjahr befindliche) erstmitbeteiligte Partei dauernd invalid gemäß § 255 Abs. 3 ASVG und für den allgemeinen Arbeitsmarkt nicht mehr vermittelbar. Im Behindertenausweis der zweitmitbeteiligten Partei sei eine 80-prozentige Behinderung vermerkt. Laut vorliegender ärztlicher Stellungnahme sei die zweitmitbeteiligte Partei nicht imstande, sich selbst zu versorgen.

7 In seiner rechtlichen Beurteilung verwies das Verwaltungsgericht auf die Regelung des § 11 Abs. 5 letzter Satz NAG, der zufolge in Verfahren bei Erstanträgen soziale Leistungen, auf die ein Anspruch erst durch die Erteilung des Aufenthaltstitels entstehen würde, nicht zu berücksichtigen seien. Da die mitbeteiligten Parteien bereits derzeit Sozialhilfeleistungen beziehen würden, die ihnen auf Grund ihres anerkannten Status als subsidiär Schutzberechtigte zukommen würden, entstehe ein Anspruch auf soziale Leistungen nicht erst durch Erteilung des Aufenthaltstitels. Somit seien diese Leistungen "nach dem Wortlaut des § 11 Abs. 5 letzter Satz NAG e contrario zu berücksichtigen". Gegenständlich sei für jede der mitbeteiligten Parteien ein Richtsatz in Höhe von EUR 882,78 heranzuziehen. Das jeweilige Einkommen der mitbeteiligten Parteien erreiche diesen Richtsatz.

Die mitbeteiligten Parteien würden die Voraussetzungen des § 45 Abs. 12 NAG erfüllen. Die erstmitbeteiligte Partei könne Deutschkenntnisse auf dem Niveau B1 vorweisen, die zweitmitbeteiligte Partei könne auf Grund des festgestellten Grades der Behinderung und ihrer Unmündigkeit den entsprechenden Nachweis nicht erbringen. Es liege bei beiden eine aufrechte Krankenversicherung und eine ortsübliche Unterkunft vor. Die mitbeteiligten Parteien seien in den letzten fünf Jahren ununterbrochen auf Grund einer Aufenthaltsberechtigung als subsidiär Schutzberechtigte im Bundesgebiet aufhältig gewesen.

8 Die ordentliche Revision wurde zugelassen, weil Rechtsprechung zur vorliegenden Konstellation fehle, in der die Sozialhilfeleistungen bereits auf Grund des bestehenden Aufenthaltsstatus und nicht erst mit der Erteilung des beantragten Aufenthaltstitels zustünden.

9 Gegen dieses Erkenntnis richtet sich die vorliegende ordentliche Revision des Bundesministers für Inneres.

Nach Ansicht des Revisionswerbers sei das Vorhandensein ausreichender Unterhaltsmittel dann, wenn ein im Inland lebender Fremder bereits finanzielle Mittel lukriere, primär an den Vorgaben des § 11 Abs. 2 Z 4 in Verbindung mit Abs. 5 erster Satz NAG zu messen. § 11 Abs. 5 NAG stelle auf die fehlende Notwendigkeit von Sozialhilfeleistungen ab. Die Leistungsfähigkeit des bereits im Inland aufhältigen Fremden sei danach zu beurteilen, wie sie sich ohne den bereits erfolgten Zuzug darstellen würde. Der Revisionswerber erachtet den Umkehrschluss des Verwaltungsgerichtes, dem zufolge die von den mitbeteiligten Parteien bezogenen Sozialhilfeleistungen nicht "einkommensschädlich" seien, weil der Rechtsanspruch darauf nicht erst durch Erteilung des Aufenthaltstitels entstehen würde, sondern schon früher entstanden sei, als unzulässig.

10 Die mitbeteiligten Parteien erstatteten eine Revisionsbeantwortung, in der sie wiederum auf das Erkenntnis des Verfassungsgerichtshofes G 106/12, G 17/13 verweisen, in dem die Verfassungswidrigkeit des auch für behinderte Menschen geltenden Erfordernisses der Selbsterhaltungsfähigkeit im Staatsbürgerschaftsgesetz 1985 ausgesprochen worden sei. Den mitbeteiligten Parteien sei der beantragte Aufenthaltstitel "Daueraufenthalt - EU" schon deshalb zu Recht erteilt worden, um eine dem Art. 7 Abs. 1 B-VG widerstreitende Benachteiligung wegen einer Behinderung zu vermeiden.

Der Verwaltungsgerichtshof hat erwogen:

11 Die Revision erweist sich im Hinblick auf das in Rn. 9

dargestellte Vorbringen als zulässig.

12 Die relevanten Bestimmungen des Niederlassungs- und

Aufenthaltsgesetzes (NAG), BGBl. I Nr. 100/2005 in der Fassung BGBl. I Nr. 70/2015, lauten auszugsweise:

"Allgemeine Voraussetzungen für einen Aufenthaltstitel

§ 11. ...

(2) Aufenthaltstitel dürfen einem Fremden nur erteilt werden, wenn

...

4. der Aufenthalt des Fremden zu keiner finanziellen

Belastung einer Gebietskörperschaft führen könnte;

...

(3) Ein Aufenthaltstitel kann trotz Vorliegens eines Erteilungshindernisses gemäß Abs. 1 Z 3, 5 oder 6 sowie trotz Ermangelung einer Voraussetzung gemäß Abs. 2 Z 1 bis 6 erteilt werden, wenn dies zur Aufrechterhaltung des Privat- und Familienlebens im Sinne des Art. 8 der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (Europäische Menschenrechtskonvention - EMRK), BGBl. Nr. 210/1958, geboten ist. Bei der Beurteilung des Privat- und Familienlebens im Sinne des Art. 8 EMRK sind insbesondere zu berücksichtigen:

1. die Art und Dauer des bisherigen Aufenthalts und die

Frage, ob der bisherige Aufenthalt des Drittstaatsangehörigen

rechtswidrig war;

2. das tatsächliche Bestehen eines Familienlebens;

3. die Schutzwürdigkeit des Privatlebens;

4. der Grad der Integration;

5. die Bindungen zum Heimatstaat des Drittstaatsangehörigen;

6. die strafgerichtliche Unbescholtenheit;

7. Verstöße gegen die öffentliche Ordnung, insbesondere im

Bereich des Asyl-, Fremdenpolizei- und Einwanderungsrechts;

8. die Frage, ob das Privat- und Familienleben des

Drittstaatsangehörigen in einem Zeitpunkt entstand, in dem sich

die Beteiligten ihres unsicheren Aufenthaltsstatus bewusst waren;

9. die Frage, ob die Dauer des bisherigen Aufenthaltes des

Fremden in den Behörden zurechenbaren überlangen Verzögerungen begründet ist.

...

(5) Der Aufenthalt eines Fremden führt zu keiner finanziellen Belastung einer Gebietskörperschaft (Abs. 2 Z 4), wenn der Fremde feste und regelmäßige eigene Einkünfte hat, die ihm eine Lebensführung ohne Inanspruchnahme von Sozialhilfeleistungen der Gebietskörperschaften ermöglichen und der Höhe nach den Richtsätzen des § 293 des Allgemeinen Sozialversicherungsgesetzes (ASVG), BGBl. Nr. 189/1955, entsprechen. Feste und regelmäßige eigene Einkünfte werden durch regelmäßige Aufwendungen geschmälert, insbesondere durch Mietbelastungen, Kreditbelastungen, Pfändungen und Unterhaltszahlungen an Dritte nicht im gemeinsamen Haushalt lebende Personen. Dabei bleibt einmalig ein Betrag bis zu der in § 292 Abs. 3 zweiter Satz ASVG festgelegten Höhe unberücksichtigt und führt zu keiner Erhöhung der notwendigen Einkünfte im Sinne des ersten Satzes. Bei Nachweis der Unterhaltsmittel durch Unterhaltsansprüche (§ 2 Abs. 4 Z 3) oder durch eine Haftungserklärung (§ 2 Abs. 1 Z 15), ist zur Berechnung der Leistungsfähigkeit des Verpflichteten nur der das pfändungsfreie Existenzminimum gemäß § 291a der Exekutionsordnung (EO), RGBl. Nr. 79/1896, übersteigende Einkommensteil zu berücksichtigen. In Verfahren bei Erstanträgen sind soziale Leistungen nicht zu berücksichtigen, auf die ein Anspruch erst durch Erteilung des Aufenthaltstitels entstehen würde, insbesondere Sozialhilfeleistungen oder die Ausgleichszulage.

...

Aufenthaltstitel ,Daueraufenthalt - EU'

§ 45. ...

...

(12) Asylberechtigten, die in den letzten fünf Jahren ununterbrochen über den Status des Asylberechtigten (§ 3 AsylG 2005) verfügten und subsidiär Schutzberechtigten, die in den letzten fünf Jahren ununterbrochen aufgrund einer Aufenthaltsberechtigung als subsidiär Schutzberechtigter (§ 8 Abs. 4 AsylG 2005) rechtmäßig aufhältig waren, kann ein Aufenthaltstitel ,Daueraufenthalt - EU' erteilt werden, wenn sie

  1. die Voraussetzungen des 1. Teiles erfüllen und

  2. das Modul 2 der Integrationsvereinbarung (§ 14b) erfüllt haben.

Der Zeitraum zwischen Einbringung des Antrages auf internationalen Schutz (§ 17 Abs. 2 AsylG 2005) und Zuerkennung des Status des Asylberechtigten oder des subsidiär Schutzberechtigten ist zur Hälfte, sofern dieser Zeitraum 18 Monate übersteigt zur Gänze, auf die Fünfjahresfrist anzurechnen."

13 § 8 Asylgesetz 2005 (AsylG 2005), BGBl. I Nr. 100 in der Fassung BGBl. I Nr. 68/2013, lautet auszugsweise:

"Status des subsidiär Schutzberechtigten

§ 8. (1) Der Status des subsidiär Schutzberechtigten

ist einem Fremden zuzuerkennen,

1. der in Österreich einen Antrag auf internationalen

Schutz gestellt hat, wenn dieser in Bezug auf die Zuerkennung des

Status des Asylberechtigten abgewiesen wird oder

2. dem der Status des Asylberechtigten aberkannt worden ist,

wenn eine Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung des Fremden in seinen Herkunftsstaat eine reale Gefahr einer Verletzung von Art. 2 EMRK, Art. 3 EMRK oder der Protokolle Nr. 6 oder Nr. 13 zur Konvention bedeuten würde oder für ihn als Zivilperson eine ernsthafte Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen Konfliktes mit sich bringen würde.

...

(4) Einem Fremden, dem der Status des subsidiär Schutzberechtigten zuerkannt wird, ist vom Bundesamt oder vom Bundesverwaltungsgericht gleichzeitig eine befristete Aufenthaltsberechtigung als subsidiär Schutzberechtigter zu erteilen. Die Aufenthaltsberechtigung gilt ein Jahr und wird im Falle des weiteren Vorliegens der Voraussetzungen über Antrag des Fremden vom Bundesamt für jeweils zwei weitere Jahre verlängert. Nach einem Antrag des Fremden besteht die Aufenthaltsberechtigung bis zur rechtskräftigen Entscheidung über die Verlängerung des Aufenthaltsrechts, wenn der Antrag auf Verlängerung vor Ablauf der Aufenthaltsberechtigung gestellt worden ist.

..."

14 Aus Anlass der vorliegenden Revision stellte der Verwaltungsgerichtshof mit Beschluss vom , A 2018/0002 (Ro 2017/22/0002-4), an den Verfassungsgerichtshof den Antrag, § 11 Abs. 2 Z 4 und Abs. 5 NAG (in näher zitierter Fassung) als verfassungswidrig aufzuheben sowie auszusprechen, dass § 11 Abs. 5 NAG (in einer anderen, ebenfalls näher zitierten Fassung) verfassungswidrig war.

Der Verwaltungsgerichtshof begründete diesen Antrag - auf das Wesentlichste zusammengefasst - damit, dass die vom Verfassungsgerichtshof in seinem Erkenntnis vom , G 106/12, G 17/13 (VfSlg. 19.732/2013), im Zusammenhang mit der Aufhebung der Regelungen des § 10 Abs. 1 Z 7 und Abs. 5 Staatsbürgerschaftsgesetz 1985 (StbG) geäußerten Bedenken in Bezug auf Art. 7 Abs. 1 dritter Satz B-VG sowie das Sachlichkeitsgebot des BVG gegen alle Formen rassischer Diskriminierung aus näher dargelegten Erwägungen auf die angefochtenen Bestimmungen des § 11 Abs. 2 Z 4 und Abs. 5 NAG übertragbar seien.

15 Mit Erkenntnis vom , G 133/2018, hat der Verfassungsgerichtshof diesen Antrag - soweit er sich gegen § 11 Abs. 2 Z 4 NAG richtete - abgewiesen und im Übrigen zurückgewiesen.

In der Sache führte der Verfassungsgerichtshof begründend auszugsweise wie folgt aus:

"2.3.2. ... Die dem Erkenntnis VfSlg. 19.732/2013 zugrunde liegende Annahme ist auf die im vorliegenden Fall angefochtenen Rechtsvorschriften von vornherein nicht übertragbar, da das StbG und das NAG schon auf Grund ihrer Zielsetzungen und Regelungsbereiche derart unterschiedlich sind, dass bereits die Ausgangslagen nicht vergleichbar sind:

Während das StbG die Verleihung der Staatsbürgerschaft als erfolgreichen Abschluss eines Integrationsprozesses vorsieht, beziehen sich die angefochtenen Bestimmungen des NAG auf den erstmaligen Zuzug bzw. die erstmalige Erteilung eines Aufenthaltstitels für das österreichische Bundesgebiet. Dass es dem Gesetzgeber im Rahmen seines rechtspolitischen Gestaltungsspielraumes nicht verwehrt ist, verschiedene Voraussetzungen für den erstmaligen Zuzug bzw. die Erteilung von Aufenthaltstiteln und die Verleihung der Staatsbürgerschaft vorzusehen, liegt auf der Hand.

2.3.3. Wenn nun der Verwaltungsgerichtshof darüber hinaus die Auffassung vertritt, ¿dass budgetäre Gründe allein eine - wie dargelegt - schwer wiegende Benachteiligung behinderter Menschen, wie sie durch die angefochtenen Bestimmungen bewirkt wird' jedenfalls nicht rechtfertigen könnten und damit aus dem Blickwinkel seines Anlassfalles davon ausgeht, § 11 Abs. 2 Z 4 NAG und § 11 Abs. 5 NAG verstießen gegen Art. 7 Abs. 1 dritter Satz B-VG, ist ihm Folgendes entgegenzuhalten:

Wie der Verfassungsgerichtshof in seiner Entscheidung VfSlg. 19.732/2013 auch festgestellt hat, kommt dem Gesetzgeber bei der Regelung, welchen Personen in Österreich ein - im Fall des Aufenthaltstitels ¿Daueraufenthalt - EU' dauerhafter - Aufenthaltstitel zuerkannt werden soll, ein weiter rechtspolitischer Gestaltungsspielraum zu. Diesen rechtspolitischen Gestaltungsspielraum hat der Gesetzgeber mit der Festlegung der allgemeinen Erteilungsvoraussetzung der Selbsterhaltungsfähigkeit in § 11 Abs. 2 Z 4 iVm Abs. 5 NAG nicht überschritten. Es kann dem Gesetzgeber nicht entgegengetreten werden, wenn er zur Vermeidung von finanziellen Belastungen für die Gebietskörperschaften grundsätzlich an die Selbsterhaltungsfähigkeit anknüpft und hinsichtlich der in diesem Zusammenhang nachzuweisenden Einkünfte als Maßstab die Richtsätze des § 293 ASVG anlegt (vgl. bereits VfSlg. 18.269/2007).

Festzuhalten ist in diesem Zusammenhang auch, dass für den Nachweis der Lebensführung ohne Inanspruchnahme von Sozialhilfeleistungen nach § 11 Abs. 2 Z 4 iVm Abs. 5 NAG auch ein Sparguthaben ab einer gewissen Höhe als hinreichend angesehen werden kann und zudem die Beurteilung anhand einer Zukunftsprognose erfolgt. Dies ist vor dem Hintergrund der Dauer der zu verleihenden Rechtsposition verständlich, da das NAG - mit Ausnahme des Aufenthaltstitels ¿Daueraufenthalt - EU' - nur befristete Rechtspositionen mit der Möglichkeit der Neubewertung der finanziellen Situation in einem allfälligen Verlängerungsverfahren verleiht (vgl. ). Die Behörde hat im Rahmen der Zukunftsprognose vorausschauend einzuschätzen, ob der Lebensunterhalt des Fremden für die Dauer des beantragten Aufenthaltstitels gesichert sein wird (Peyrl/Czech, § 11 NAG, in: Abermann/Czech/Kind/Peyrl, Kommentar zum Niederlassungs- und Aufenthaltsgesetz, 2016, Rz 24).

2.3.4. Im Übrigen ist gemäß § 11 Abs. 3 NAG trotz Nichterfüllung der Voraussetzung der Selbsterhaltungsfähigkeit der Aufenthaltstitel zu erteilen, wenn dies auf Grund des Art. 8 EMRK geboten ist. Auch eine Behinderung kann einen Umstand darstellen, der gemäß § 11 Abs. 3 NAG als Aspekt des Privat- und Familienlebens zu berücksichtigen ist (vgl. ; zur Judikatur des EGMR Oswald, Das Bleiberecht, 2012, 281).

2.3.5. Vor diesem Hintergrund kann der Verfassungsgerichtshof nicht finden, dass die angefochtenen Bestimmungen gegen das Verbot der Diskriminierung behinderter Menschen gemäß Art. 7 Abs. 1 dritter Satz B-VG verstoßen.

...

Die angefochtenen Bestimmungen verstoßen aus den unter 2.3. angeführten Erwägungen auch nicht gegen das aus dem Bundesverfassungsgesetz zur Durchführung des internationalen Übereinkommens über die Beseitigung aller Formen rassischer Diskriminierung, BGBl. 390/1973, abzuleitende Sachlichkeitsgebot."

16 Der Verfassungsgerichtshof hat somit eine Übertragbarkeit der im Erkenntnis VfSlg. 19.732/2013 geäußerten Bedenken im Hinblick auf die unterschiedlichen Zielsetzungen und Regelungsbereiche des Staatsbürgerschaftsgesetzes 1985 einerseits und des Niederlassungs- und Aufenthaltsgesetzes andererseits abgelehnt. Zudem hat er darauf hingewiesen, dass nach § 11 Abs. 3 NAG der Aufenthaltstitel trotz Nichterfüllung der Voraussetzung der Selbsterhaltungsfähigkeit zu erteilen ist, wenn dies auf Grund des Art. 8 EMRK geboten ist, und dass eine Behinderung einen im Rahmen der Interessenabwägung nach § 11 Abs. 3 NAG als Aspekt des Privat- und Familienlebens zu berücksichtigenden Umstand darstellen kann.

17 Das Verwaltungsgericht begründete das Vorliegen der Erteilungsvoraussetzung des § 11 Abs. 2 Z 4 NAG (und damit die Aufhebung der angefochtenen Bescheide der belangten Behörde) mit einem Umkehrschluss aus § 11 Abs. 5 letzter Satz NAG, dem zufolge in einer Konstellation wie der hier vorliegenden - in der ein Anspruch der mitbeteiligten Parteien auf die von ihnen bezogenen Sozialhilfeleistungen nicht erst durch Erteilung des beantragten Aufenthaltstitels entstehen würde, sondern unabhängig davon bereits derzeit auf Grund ihres Status als subsidiär Schutzberechtigte bestehe - die bereits bezogenen Sozialhilfeleistungen als eigene Einkünfte zu berücksichtigen seien.

18 Diese Auffassung vermag der Verwaltungsgerichtshof aus nachstehenden Gründen nicht zu teilen:

19 Vorauszuschicken ist, dass bei einer Berücksichtigung der von den mitbeteiligten Parteien bezogenen Sozialhilfeleistungen (in der vom Verwaltungsgericht festgestellten und im Revisionsverfahren nicht in Zweifel gezogenen Höhe - siehe Rn. 6) die Voraussetzung des § 11 Abs. 2 Z 4 NAG erfüllt wäre. Demgegenüber würden bei einer Außerachtlassung auch nur der (jedenfalls als Sozialhilfeleistung einer Gebietskörperschaft anzusehenden) Leistungen nach dem Wiener Mindestsicherungsgesetz die Einkünfte der mitbeteiligten Parteien den Richtsatz nach § 293 Abs. 1 lit. a sublit. bb ASVG (vorliegend in der Höhe von EUR 882,78) nicht erreichen.

20 Nach § 11 Abs. 5 erster Satz NAG führt der Aufenthalt eines Fremden dann zu keiner finanziellen Belastung einer Gebietskörperschaft im Sinn des § 11 Abs. 2 Z 4 NAG, wenn der Fremde feste und regelmäßige eigene Einkünfte hat, die ihm eine Lebensführung ohne Inanspruchnahme von Sozialhilfeleistungen der Gebietskörperschaften ermöglichen. Die Zielsetzung dieser Erteilungsvoraussetzung besteht nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes darin, dass nur in solchen Fällen ein Aufenthaltstitel erteilt werde, in denen eine Unterstützung durch Sozialhilfeträger nicht notwendig sein werde (siehe ). Da die mitbeteiligten Parteien für ihre Lebensführung jedenfalls auf die Inanspruchnahme von Sozialhilfeleistungen in Form der Mindestsicherung angewiesen sind, ist die Voraussetzung des § 11 Abs. 2 Z 4 NAG - gemessen allein an der Vorgabe des § 11 Abs. 5 erster Satz NAG - nicht erfüllt.

21 Nach der vom Verwaltungsgericht begründend herangezogenen Bestimmung des § 11 Abs. 5 letzter Satz NAG sind in Verfahren bei Erstanträgen soziale Leistungen, auf die ein Anspruch erst durch Erteilung des Aufenthaltstitels entstehen würde, nicht zu berücksichtigen. In den Erläuterungen zur betreffenden Novelle BGBl. I Nr. 111/2010 (RV 981 BlgNR 24. GP, 160) wurde diese Neuerung wie folgt begründet:

"Der neu angefügte Satz in § 11 Abs. 5 bestimmt, dass sich Fremde bei erstmaligem Zuzug nach Österreich nicht auf soziale Leistungen berufen dürfen, auf die ein Anspruch erst durch Erteilung des Aufenthaltstitels entstehen würde. Für die Beurteilung der Frage, ob der Aufenthalt eines Fremden zu einer finanziellen Belastung einer Gebietskörperschaft führt, ist daher im Hinblick auf die Berücksichtigung öffentlicher Mittel in Verfahren bei Erstanträgen jene finanzielle Situation des Fremden maßgebend, wie sie sich vor Zuzug des Fremden nach Österreich darstellt. Daraus folgt, dass ein Fremder bei Erstantragsstellung nachweislich im Stande sein muss, seinen Lebensunterhalt in Österreich auch ohne Inanspruchnahme öffentlicher Gelder bestreiten zu können und sich somit nicht auf den zukünftigen Erhalt von Leistungen der öffentlichen Hand (wie zB. Ausgleichszulage, Kinderbetreuungsgeld oder Familienbeihilfe) berufen darf."

22 Wie sich den Erläuterungen entnehmen lässt, stellt die Regelung zwar auf den typischen Fall der Erstantragstellung ab, bei dem der Fremde erst nach der Erteilung des Aufenthaltstitels nach Österreich zieht. Allerdings wird in allgemeiner Form ausdrücklich von der Bestreitung des Lebensunterhaltes "ohne Inanspruchnahme öffentlicher Gelder" gesprochen.

23 Der Verwaltungsgerichtshof hat in dem vom Revisionswerber begründend ins Treffen geführten Erkenntnis vom , Ro 2014/22/0047, (auch wenn diesem insofern eine etwas abweichende Konstellation zugrunde lag, als dort der Bezug der höheren Ausgleichszulage nicht auf einem rechtmäßigen Inlandsaufenthalt des dortigen Revisionswerbers beruhte) unter Bezugnahme auf die zitierten Erläuterungen zum Ausdruck gebracht, dass die Leistungsfähigkeit (dort der Zusammenführenden) nach der finanziellen Situation ohne den Zuzug des Fremden zu beurteilen sei.

24 Zudem ist für die Klärung des Verhältnisses zwischen dem ersten und dem letzten Satz des § 11 Abs. 5 NAG zu beachten, dass der später angefügte letzte Satz des § 11 Abs. 5 NAG eine Sonderregelung explizit nur für Verfahren über Erstanträge trifft. In Verfahren über Verlängerungsanträge richtet sich die Erfüllung der Voraussetzung des § 11 Abs. 2 Z 4 NAG in einer Konstellation wie der vorliegenden (in der den Regelungen in § 11 Abs. 5 zweiter bis vierter Satz NAG keine entscheidungserhebliche Bedeutung zukommt) daher allein nach den Vorgaben des § 11 Abs. 5 erster Satz NAG. Die zitierten Erläuterungen sowie das Abstellen auf die (vom ersten Satz des § 11 Abs. 5 NAG nicht erfassten) sozialen Leistungen der Ausgleichszulage, des Kinderbetreuungsgeldes oder der Familienbeihilfe deuten aber gerade nicht darauf hin, dass durch § 11 Abs. 5 letzter Satz NAG für Verfahren über Erstanträge eine - was den Nachweis von Einkünften durch den Bezug von Sozialhilfeleistungen betrifft - großzügigere Regelung als bei Verfahren über Verlängerungsanträge getroffen werden sollte.

25 Zudem ist diesbezüglich die Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes zur Rechtslage vor der Novelle BGBl. I Nr. 111/2010 zu beachten, der zufolge dann, wenn nach der Erteilung des Aufenthaltstitels ein Anspruch auf Ausgleichszulage (die keine Sozialhilfeleistung der Gebietskörperschaft im Sinn des § 11 Abs. 5 erster Satz NAG sei) bestanden habe, dies bei der Errechnung der zur Verfügung stehenden Unterhaltsmittel zu berücksichtigen sei (siehe , mwN). Der neu angefügte letzte Satz des § 11 Abs. 5 NAG stellt insofern eine Reaktion auf diese Rechtsprechung dar, als derartige soziale Leistungen bei Erstanträgen nunmehr nicht zu berücksichtigen sind (vgl. auch , sowie - zur Familienbeihilfe - , 2012/22/0017).

26 Somit kann - ungeachtet dessen, dass in § 11 Abs. 5 letzter Satz NAG unter den dort bezogenen sozialen Leistungen auch die (im ersten Satz dieser Bestimmung angesprochenen) "Sozialhilfeleistungen" genannt werden - aus dieser Bestimmung nicht der Umkehrschluss gezogen werden, dass Sozialhilfeleistungen, auf die bereits vor der Erteilung des beantragten Aufenthaltstitels (auf Grund anderer Bestimmungen) ein Rechtsanspruch bestand, in Verfahren über Erstanträge als eigene Einkünfte zu berücksichtigen seien. Für diese Sichtweise sprechen nicht zuletzt auch die Ausführungen des Verfassungsgerichtshofes im Erkenntnis G 106/12, G 17/13, wo es heißt, es sei "schon wegen Vorschriften wie § 11 Abs. 5 NAG" nicht möglich, Sozialhilfeleistungen der Gebietskörperschaften als "eigene Einkünfte" im Sinn des § 10 Abs. 5 StbG zu verstehen (Rn. 25).

27 Da somit die vom Verwaltungsgericht zu § 11 Abs. 5 letzter Satz NAG vertretene Auffassung nicht zu Recht besteht, war das angefochtene Erkenntnis wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG aufzuheben. Anzumerken ist, dass der behördlichen Ansicht, § 11 Abs. 3 NAG sei wegen der bestehenden Aufenthaltsberechtigung nicht anzuwenden, eine rechtliche Grundlage mangelt. Das nationale Recht sieht nämlich nicht vor, im Fall der Bejahung eines Anspruchs nach Art. 8 EMRK einen anderen als den beantragten Aufenthaltstitel zu erteilen.

Wien, am

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ECLI:
ECLI:AT:VWGH:2018:RO2017220002.J00.1
Schlagworte:
Anzuwendendes Recht Maßgebende Rechtslage VwRallg2 Besondere Rechtsgebiete Auslegung Anwendung der Auslegungsmethoden Verhältnis der wörtlichen Auslegung zur teleologischen und historischen Auslegung Bedeutung der Gesetzesmaterialien VwRallg3/2/2 Individuelle Normen und Parteienrechte Rechtsanspruch Antragsrecht Anfechtungsrecht VwRallg9/2

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