VwGH vom 05.10.2017, Ro 2017/21/0009

VwGH vom 05.10.2017, Ro 2017/21/0009

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch die Vorsitzende Vizepräsidentin Dr.in Sporrer und die Hofräte Dr. Pelant, Dr. Sulzbacher und Dr. Pfiel sowie die Hofrätin Dr. Julcher als Richterinnen und Richter, unter Mitwirkung des Schriftführers Mag. Mitter, über die Revision des Y B in W, vertreten durch Dr. Reinhard Blaschon, Rechtsanwalt in 1090 Wien, Thurygasse 3/8, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichtes vom , W112 2145176-1/10E, betreffend Schubhaft (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl), zu Recht erkannt:

Spruch

Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.

Der Bund hat dem Revisionswerber Aufwendungen in der Höhe von EUR 1.106,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

1 Der Revisionswerber, nach eigenen Angaben ein Staatsangehöriger von Algerien, stellte nach seiner Einreise nach Österreich am einen Antrag auf internationalen Schutz. Mit Bescheid vom wies das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) diesen Antrag gemäß § 5 Abs. 1 AsylG 2005 zurück und ordnete gemäß § 61 Abs. 1 FPG die Außerlandesbringung des Revisionswerbers (nach Ungarn) an.

2 Mit Bescheid vom hob das BFA den genannten Bescheid vom wegen Ablaufs der für die Überstellung des Revisionswerbers nach Ungarn offenstehenden Frist gemäß § 68 Abs. 2 AVG von Amts wegen auf. Mit Bescheid vom wies es dann, nachdem dem Revisionswerber am eine Aufenthaltsberechtigungskarte nach § 51 AsylG 2005 ausgestellt worden war, den gestellten Antrag auf internationalen Schutz vollinhaltlich ab, sprach aus, dass ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 AsylG 2005 nicht erteilt werde und erließ gegen den Revisionswerber eine Rückkehrentscheidung sowie ein siebenjähriges Einreiseverbot. Außerdem stellte das BFA gemäß § 52 Abs. 9 FPG fest, dass die Abschiebung des Revisionswerbers gemäß § 46 FPG nach Algerien zulässig sei und dass er gemäß § 13 Abs. 2 Z 1 AsylG 2005 das Recht zum Aufenthalt im Bundesgebiet ab dem verloren habe; schließlich erkannte das BFA einer Beschwerde gegen diese Entscheidung noch gemäß § 18 Abs. 1 Z 2 BFA-VG die aufschiebende Wirkung ab.

3 Mittlerweile hatte das BFA mit Mandatsbescheid vom gegen den am selben Tag in 1020 Wien, Praterstern, aufgegriffenen Revisionswerber gemäß § 76 Abs. 2 Z 1 FPG wegen Vorliegens von Fluchtgefahr Schubhaft zum Zweck "der Sicherung einer asylrechtlichen Entscheidung im Hinblick auf Erlassung einer Rückkehrentscheidung" angeordnet. Der Revisionswerber erhob gegen diesen Bescheid und die darauf gegründete Anhaltung Beschwerde.

4 Mit dem nunmehr bekämpften Erkenntnis vom wies das Bundesverwaltungsgericht (BVwG) diese Beschwerde gemäß § 22a Abs. 1 BFA-VG iVm "§ 76 Abs. 1 FPG" als unbegründet ab (Spruchpunkt A I.), stellte gemäß § 22a Abs. 3 BFA-VG fest, dass zum Zeitpunkt der Entscheidung die für die Fortsetzung der Schubhaft maßgeblichen Voraussetzungen vorlägen (Spruchpunkt A II.) und traf diesem Ergebnis entsprechende Kostenentscheidungen (Spruchpunkte A III. und IV.). Außerdem sprach das BVwG aus, dass eine Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG zulässig sei. In seiner Begründung hielt das BVwG u.a. fest, dass eine Beschwerde gegen den den Antrag auf internationalen Schutz abweisenden Bescheid vom "noch nicht aktenkundig" sei.

5 Über die gegen dieses Erkenntnis erhobene Revision - Revisionsbeantwortungen wurden nicht erstattet, der Bundesminister für Inneres (BMI) und das BFA haben aber über Einladung des Verwaltungsgerichtshofes jeweils eine Stellungnahme abgegeben - hat der Verwaltungsgerichtshof erwogen:

6 1.1. Das BFA hat die über den Revisionswerber verhängte Schubhaft auf § 76 Abs. 2 Z 1 FPG gestützt. Dieser Schubhafttatbestand lautet wie folgt:

"Schubhaft

§ 76. (1) ...

(2) Die Schubhaft darf nur dann angeordnet werden, wenn

1. dies zur Sicherung des Verfahrens zur Erlassung einer

aufenthaltsbeendenden Maßnahme, zur Sicherung des Verfahrens über einen Antrag auf internationalen Schutz im Hinblick auf die Erlassung einer aufenthaltsbeendenden Maßnahme oder der Abschiebung notwendig ist und sofern jeweils Fluchtgefahr vorliegt und die Schubhaft verhältnismäßig ist, oder

2. ..."

7 1.2. Der vorliegende Fall erfordert grundsätzliche Klarstellungen des Verwaltungsgerichtshofes zur Auslegung dieses Schubhafttatbestandes. Bloße "Einzelfallbezogenheit", wie in den Stellungnahmen des BMI und des BFA vermeint wird, liegt daher nicht vor. Dazu kommt, dass die in der Stellungnahme des BMI angesprochene "nicht zu beanstandende Abwägungsentscheidung" des BVwG betreffend das Vorliegen von Fluchtgefahr, wie im Folgenden dargelegt werden wird, von vornherein auf einer falschen Prämisse beruht und insoweit nicht sinnvoll - und sei es auch nur im Rahmen einer Zulässigkeitsentscheidung - beurteilt werden kann. Die Revision ist daher unter dem Gesichtspunkt des Art. 133 Abs. 4 B-VG zulässig und auch berechtigt.

8 2.1. Der Revisionswerber war ab Erlassung des Bescheides des BFA vom , mit dem der ursprüngliche Zurückweisungsbescheid vom gemäß § 68 Abs. 2 AVG aufgehoben worden war, wieder Asylwerber. Er genoss damit zunächst faktischen Abschiebeschutz nach § 12 AsylG 2005 und durfte sohin weder zurückgewiesen, zurückgeschoben oder abgeschoben werden. Dieser faktische Abschiebeschutz kam dem Revisionswerber bis zur Erlassung des Abweisungsbescheides vom zu (im Hinblick darauf, dass einer Beschwerde gegen diesen Bescheid die aufschiebende Wirkung aberkannt worden war, war er nämlich sofort durchsetzbar, womit auch der faktische Abschiebeschutz endete; vgl. § 16 Abs. 4 erster Satz BFA-VG iVm § 12 Abs. 1 erster Satz AsylG 2005). Ungeachtet dessen, dass der im Sinn von § 2 Abs. 3 Z 1 AsylG 2005 straffällig gewordene Revisionswerber gemäß § 13 Abs. 2 Z 1 AsylG 2005 kein Aufenthaltsrecht hatte - was freilich vom BFA insoweit unbeachtet blieb, als dem Revisionswerber am eine Aufenthaltsberechtigungskarte nach § 51 AsylG 2005 ausgestellt wurde -, war sein Aufenthalt im Bundesgebiet infolge des faktischen Abschiebeschutzes somit gemäß § 12 Abs. 1 zweiter Satz AsylG 2005 zulässig, zumal auch ein Verlust des vorläufigen asylrechtlichen Aufenthaltsrechts nach dem zweiten Absatz des § 13 AsylG 2005 zufolge des dritten Absatzes der zuletzt genannten Bestimmung den faktischen Abschiebeschutz unberührt lässt.

9 Auch das Vorliegen einer durchsetzbaren Entscheidung sowie das daran anknüpfende Erlöschen des faktischen Abschiebeschutzes bewirkte indes noch nicht, dass der Revisionswerber sofort hätte außer Landes gebracht werden dürfen. Gemäß dem zweiten Satz des § 16 Abs. 4 BFA-VG ist mit der Durchführung der mit einer abweisenden Asylentscheidung, der keine aufschiebende Wirkung zukommt, verbundenen aufenthaltsbeendenden Maßnahme nämlich bis zum Ende der Rechtsmittelfrist, wird ein Rechtsmittel ergriffen bis zum Ablauf des siebenten Tages ab Einlangen der Beschwerdevorlage, zuzuwarten. Letzteres steht in normativem Zusammenhang mit § 18 Abs. 5 BFA-VG, wonach das BVwG bei Vorliegen der dort näher genannten Voraussetzungen einer Beschwerde, der die aufschiebende Wirkung vom BFA aberkannt wurde, binnen einer Woche ab Vorlage der Beschwerde die aufschiebende Wirkung zuzuerkennen hat.

10 Ausgehend von der im angefochtenen Erkenntnis vom getroffenen Feststellung des BVwG, eine Beschwerde gegen den "Asylbescheid" vom sei "noch nicht aktenkundig", ergibt sich damit, dass der Revisionswerber vorderhand - und jedenfalls bis zum Zeitpunkt der Erlassung der hier gegenständlichen Entscheidung - nicht abgeschoben werden durfte. Das steht - wie im Folgenden dargelegt werden wird - mit unionsrechtlichen Vorgaben in Einklang.

11 2.2. Im Hinblick auf das offene Asylverfahren sind für die rechtliche Position des Revisionswerbers insbesondere die Regelungen der Richtlinie 2013/32/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom zu gemeinsamen Verfahren für die Zuerkennung und Aberkennung des internationalen Schutzes (Neufassung) (im Folgenden: Verfahrens-RL) maßgeblich. Deren Art. 9 und Art. 46 sehen - auszugsweise - vor:

"Artikel 9

Berechtigung zum Verbleib im Mitgliedstaat während der Prüfung des Antrags

(1) Antragsteller dürfen ausschließlich zum Zwecke des Verfahrens so lange im Mitgliedstaat verbleiben, bis die Asylbehörde auf der Grundlage der in Kapitel III genannten erstinstanzlichen Verfahren über den Antrag entschieden hat. Aus dieser Berechtigung zum Verbleib ergibt sich kein Anspruch auf einen Aufenthaltstitel.

...

Artikel 46

Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf

(1) Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass Antragsteller das Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf vor einem Gericht haben gegen

a) eine Entscheidung über ihren Antrag auf internationalen

Schutz ...

...

(5) Unbeschadet des Absatzes 6 gestatten die Mitgliedstaaten den Antragstellern den Verbleib im Hoheitsgebiet bis zum Ablauf der Frist für die Ausübung des Rechts der Antragsteller auf einen wirksamen Rechtsbehelf und, wenn ein solches Recht fristgemäß ausgeübt wurde, bis zur Entscheidung über den Rechtsbehelf.

(6) Im Fall einer Entscheidung,

a) einen Antrag ... nach Prüfung gemäß Artikel 31 Abs. 8 (das ist insbesondere im beschleunigten Verfahren) als unbegründet zu betrachten,

...

ist das Gericht befugt, entweder auf Antrag des Antragstellers oder von Amts wegen darüber zu entscheiden, ob der Antragsteller im Hoheitsgebiet des Mitgliedstaats verbleiben darf, wenn die Entscheidung zur Folge hat, das Recht des Antragstellers auf Verbleib in dem Mitgliedstaat zu beenden und wenn in diesen Fällen das Recht auf Verbleib in dem betreffenden Mitgliedstaat bis zur Entscheidung über den Rechtsbehelf im nationalen Recht nicht vorgesehen ist.

...

(8) Die Mitgliedstaaten gestatten dem Antragsteller, bis zur Entscheidung in dem Verfahren nach den Abs. 6 und 7 darüber, ob der Antragsteller im Hoheitsgebiet des Mitgliedstaats verbleiben darf, im Hoheitsgebiet zu verbleiben.

..."

12 2.3. Dass dem Revisionswerber - bis zur negativen "Asylentscheidung" vom - faktischer Abschiebeschutz zukam, ist somit am Boden des Art. 9 Abs. 1 der Verfahrens-RL geboten. Denn nach dieser Bestimmung dürfen Antragsteller ausschließlich zum Zweck des Verfahrens solange im Mitgliedstaat verbleiben, bis die Asylbehörde erstinstanzlich über den Antrag entschieden hat. Aber auch die dargestellte Regelung des § 16 Abs. 4 zweiter Satz BFA-VG folgt den Anforderungen der Verfahrens-RL, wie sie sich insgesamt aus deren Art. 46 Abs. 5, 6 und 8 ergeben, wenngleich im Detail wohl hinter diesen Anforderungen zurückbleibend. Aus den genannten Absätzen des Art. 46 Verfahrens-RL folgt nämlich, dass selbst dann, wenn einem Antragsteller für die Dauer eines Rechtsbehelfsverfahrens grundsätzlich kein Verbleib im Hoheitsgebiet des Mitgliedstaates gestattet ist, das überprüfende Gericht dennoch darüber zu entscheiden hat, ob er - gemeint: infolge der Umstände des Falles -

im Hoheitsgebietes des Mitgliedstaates verbleiben darf, und dass die Mitgliedstaaten dem Antragsteller bis zu dieser Entscheidung den Verbleib in ihrem Hoheitsgebiet gestatten.

13 2.4. Art. 9 Verfahrens-RL entspricht inhaltlich im Wesentlichen Art. 7 der vorangegangenen Richtlinie 2005/85/EG, Art. 46 Verfahrens-RL stellt eine Weiterentwicklung von deren Art. 39 dar. Unter Bezugnahme (auch) auf diese zuletzt genannten Bestimmungen hat der EuGH in seinem Urteil "Arslan" vom , C-534/11, insbesondere ausgesprochen, dass ein "Asylbewerber" das Recht hat, sich im Hoheitsgebiet des betreffenden Mitgliedstaats zumindest bis zur Ablehnung seines Antrags in erster Instanz aufzuhalten und somit nicht als "illegal aufhältig" im Sinne der Richtlinie 2008/115/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom über gemeinsame Normen und Verfahren in den Mitgliedstaaten zur Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger (im Folgenden: Rückführungs-RL) angesehen werden kann. Die Rückführungs-RL finde somit auf einen Drittstaatsangehörigen, der um internationalen Schutz ersucht hat, im Zeitraum zwischen der Antragstellung bis zum Erlass der erstinstanzlichen Entscheidung über diesen Antrag oder "gegebenenfalls" - nämlich, wenn iSd Art. 39 Abs. 3 lit. a der Richtlinie 2005/85/EG im nationalen Recht eine entsprechende Aufenthaltsgestattung vorgesehen war - bis zur Entscheidung über einen allfälligen Rechtsbehelf gegen diese Entscheidung keine Anwendung (siehe insbesondere Rn. 48 und 49 iVm Rn. 47 des genannten Urteils).

14 Diese Schlussfolgerungen des EuGH haben - woran kein Zweifel bestehen kann - auch vor dem Hintergrund der Verfahrens-RL Gültigkeit. Die Rückführungs-RL kommt daher einerseits in Bezug auf einen Asylwerber, der sich in einem erstinstanzlichen Verfahren befindet (jedenfalls soweit es sich nicht um einen Folgeantrag handelt), nicht zum Tragen. Andererseits gelangt sie aber auch während eines anhängigen Rechtsbehelfsverfahrens nach Maßgabe allfällig weiterer Gestattung des Verbleibs im Hoheitsgebiet des Mitgliedstaates (Art. 46 Abs. 5, 6 und 8 Verfahrens-RL) nicht zur Anwendung (siehe in diesem Sinn auch die Erläuterungen zum Abänderungsantrag betreffend ein FrÄG 2017, AA-213 25.GP 80, in denen generalisierend ausgeführt wird, die Rückführungs-RL sei auf Asylwerber nicht anwendbar).

15 Davon ausgehend ist unter unionsrechtlichem Blickwinkel für den vorliegenden Fall festzuhalten, dass die gegenständliche Schubhaft - anders als jene, die im grundsätzlichen Erkenntnis vom , Ro 2016/21/0021, zu beurteilen war - angesichts des Ergehens einer durchsetzbaren Entscheidung erst am nicht vor dem Hintergrund der Rückführungs-RL zu betrachten ist. Das bedeutet aber auch, dass die innerstaatliche Rechtslage, auf deren Basis die hier zu beurteilende Schubhaft verhängt wurde (§ 76 Abs. 2 Z 1 FPG), nicht an den Kautelen der Rückführungs-RL gemessen werden kann.

16 3.1. Anstelle der Rückführungs-RL ist im vorliegenden Fall die Richtlinie 2013/33/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom zur Festlegung von Normen für die Aufnahme von Personen, die internationalen Schutz beantragen (Neufassung) (im Folgenden: Aufnahme-RL) maßgeblich. Sie gilt gemäß ihrem Art. 3 Abs. 1 für alle Drittstaatsangehörigen und Staatenlosen, die (insbesondere) im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats internationalen Schutz beantragen, solange sie als Antragsteller im Hoheitsgebiet verbleiben dürfen und erfasst so jene Personen, denen nach Art. 9 sowie Art. 46 der Verfahrens-RL ein Aufenthalt gestattet ist.

17 Dementsprechend heißt es - noch weitergehend - in Art. 26 Abs. 1 zweiter Satz der Verfahrens-RL, dass sich "die Gründe für den Gewahrsam und die Gewahrsamsbedingungen und die Garantien für in Gewahrsam befindliche Antragsteller" nach der Aufnahme-RL bestimmen. Eine Bezugnahme auf die Rückführungs-RL scheidet also auch nach dieser Vorschrift aus.

18 Im 15. Erwägungsgrund der Aufnahme-RL ist Folgendes festgehalten:

"Die Inhaftnahme von Antragstellern sollte im Einklang mit dem Grundsatz erfolgen, wonach eine Person nicht allein deshalb in Haft genommen werden darf, weil sie um internationalen Schutz nachsucht, insbesondere sollte die Inhaftnahme im Einklang mit den völkerrechtlichen Verpflichtungen der Mitgliedstaaten und unter Beachtung von Artikel 31 des Genfer Abkommens erfolgen. Antragsteller dürfen nur in den in der Richtlinie eindeutig definierten Ausnahmefällen und im Einklang mit den Grundsätzen der Erforderlichkeit und der Verhältnismäßigkeit in Bezug auf die Art und Weise und den Zweck der Inhaftnahme in Haft genommen werden. Befindet sich ein Antragsteller in Haft, sollte er effektiven Zugang zu den erforderlichen Verfahrensgarantien haben und beispielsweise zur Einlegung eines Rechtsbehelfs bei einer nationalen Justizbehörde berechtigt sein."

19 In Art. 8 der Aufnahme-RL heißt es dann:

"Haft

(1) Die Mitgliedstaaten nehmen eine Person nicht allein deshalb in Haft, weil sie ein Antragsteller im Sinne der Richtlinie 2013/32/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom zu gemeinsamen Verfahren für die Zuerkennung und Aberkennung des internationalen Schutzes ist.

(2) In Fällen, in denen es erforderlich ist, dürfen die Mitgliedstaaten auf der Grundlage einer Einzelfallprüfung den Antragsteller in Haft nehmen, wenn sich weniger einschneidende Maßnahmen nicht wirksam anwenden lassen.

(3) Ein Antragsteller darf nur in Haft genommen werden,

a) um seine Identität oder Staatsangehörigkeit

festzustellen oder zu überprüfen;

b) um Beweise zu sichern, auf die sich sein Antrag auf

internationalen Schutz stützt und die ohne Haft unter Umständen

nicht zu erhalten wären, insbesondere wenn Fluchtgefahr des

Antragstellers besteht;

c) um im Rahmen eines Verfahrens über das Recht des

Antragstellers auf Einreise in das Hoheitsgebiet zu entscheiden;

d) wenn er sich aufgrund eines Rückkehrverfahrens gemäß der

Richtlinie 2008/115/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom über gemeinsame Normen und Verfahren in den Mitgliedstaaten zur Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger zur Vorbereitung seiner Rückführung und/oder Fortsetzung des Abschiebungsverfahrens in Haft befindet und der betreffende Mitgliedstaat auf der Grundlage objektiver Kriterien, einschließlich der Tatsache, dass der Antragsteller bereits Gelegenheit zum Zugang zum Asylverfahren hatte, belegen kann, dass berechtigte Gründe für die Annahme bestehen, dass er den Antrag auf internationalen Schutz nur beantragt, um die Vollstreckung der Rückkehrentscheidung zu verzögern oder zu vereiteln;

e) wenn dies aus Gründen der nationalen Sicherheit oder der

öffentlichen Ordnung erforderlich ist,

f) wenn dies mit Artikel 28 der Verordnung (EU) Nr. 604/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen in einem Mitgliedstaat gestellten Antrag auf internationalen Schutz zuständig ist, in Einklang steht.

Haftgründe werden im einzelstaatlichen Recht geregelt.

(4) Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass die einzelstaatlichen Rechtsvorschriften Bestimmungen für Alternativen zur Inhaftnahme enthalten wie zum Beispiel Meldeauflagen, die Hinterlegung einer finanziellen Sicherheit oder die Pflicht, sich an einem zugewiesenen Ort aufzuhalten."

20 Der letzte Satz des Art. 8 Abs. 3 der Aufnahme-RL normiert also, dass die Haftgründe im einzelstaatlichen Recht geregelt werden. Das bedeutet nichts anderes, als dass die Fälle, in denen nach Art. 8 der Aufnahme-RL Haft in Betracht kommt, einer Ausgestaltung im nationalen Recht eines jeden Mitgliedstaats bedürfen. Das Fehlen entsprechender Vorschriften im innerstaatlichen Recht bewirkt, dass Schubhaft nicht auf die in Art. 8 Abs. 3 Aufnahme-RL genannten Gründe gestützt werden darf (vgl. in diesem Sinn Rn. 28 und 47 des , "Al Chodor").

21 3.2. § 76 FPG soll zwar insbesondere auch der Umsetzung der Aufnahme-RL dienen (so ausdrücklich die ErläutRV zum FrÄG 2015, 582 ?lgNR 25. GP 21 ff, und darauf bezugnehmend das schon genannte Erkenntnis vom , Ro 2016/21/0021, Rz 17). Bei dieser Umsetzung besteht indes - wie sich auch aus dem oben zitierten 15. Erwägungsgrund der Aufnahme-RL ergibt - eine strenge Bindung an die Aufnahme-RL, zumal es dort heißt, "Antragsteller dürfen nur in den in der Richtlinie eindeutig definierten Ausnahmefällen (...) in Haft genommen werden".

22 Dieser Anforderung wird allerdings - sieht man von § 76 Abs. 6 FPG ab, worauf noch zurückzukommen sein wird - nur der "Dublin-Konstellationen" erfassende Schubhafttatbestand des § 76 Abs. 2 Z 2 (iVm Abs. 3) FPG gerecht, der insoweit Art. 8 Abs. 3 lit. f der Aufnahme-RL umsetzt. Der hier im Schubhaftbescheid herangezogene Tatbestand des § 76 Abs. 2 Z 1 FPG, der als Haftgrund im Ergebnis nur auf das Vorliegen von Fluchtgefahr abstellt, lässt sich hingegen auf keinen der in Art. 8 Abs. 3 der Aufnahme-RL abschließend normierten "Ausnahmefälle" zurückführen.

23 3.3. Insbesondere findet er, entgegen der in den Stellungnahmen des BMI und des BFA vertretenen Ansicht, auch in Art. 8 Abs. 3 lit. e der Aufnahme-RL keine inhaltliche Deckung.

24 Wie der EuGH in seinem in den genannten Stellungnahmen ohnehin angeführten Urteil einer großen Kammer vom , C-601/15 PPU, "J. N.", ausgeführt hat, stellt die nach dieser Bestimmung aus Gründen der nationalen Sicherheit oder der öffentlichen Ordnung zulässige Inhaftnahme eines Antragstellers ihrem Wesen nach eine Maßnahme dar, die die Öffentlichkeit vor der Gefahr, die das Verhalten einer solchen Person darstellen kann, zu schützen vermag (Rn. 55). Es geht bei diesem Haftgrund also um Gefahrenabwehr. Welche Gefahren gemeint sind, hat der EuGH dann unter Rn 65 ff. seines Urteils vom klargestellt. Es muss sich demnach - unter dem Blickwinkel "öffentliche Ordnung" - um eine tatsächliche, gegenwärtige und hinreichend erhebliche Gefahr handeln, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt. Eine solche Gefahr gilt es also abzuwenden; eine Haft, gestützt auf eine Umsetzung des Art. 8 Abs. 3 lit. e Aufnahme-RL, kommt demnach nur in Frage, wenn das individuelle Verhalten eines Antragstellers eine tatsächliche, gegenwärtige und hinreichend erhebliche Gefahr darstellt, die ein Grundinteresse der Gesellschaft (oder - was hier aber von vornherein nicht zur Debatte steht - die innere oder äußere Sicherheit des betreffenden Mitgliedstaates) berührt (Rn. 67).

25 Der EuGH hat in diesem Zusammenhang weiter festgehalten, dass die von ihm zu anderen Richtlinien vorgenommene Auslegung der Begriffe "nationale Sicherheit" und "öffentliche Ordnung" auch für die Aufnahme-RL gilt (Rn. 64). Er hat dabei insbesondere auf seine Urteile vom , C-554/13, "Zh. und O.", sowie vom , C-373/13, "H. T.", verwiesen. Das erstgenannte Urteil erging zur Auslegung von Art. 7 Abs. 4 der Rückführungs-RL. Darin wurde u.a. festgehalten, "dass die maßgeblichen Kriterien für die Bestimmung, ob eine Gefahr für die öffentliche Ordnung im Sinne von Art. 7 Abs. 4 der Richtlinie 2008/115 vorliegt, nicht im Wesentlichen die gleichen sind wie für die Beurteilung des Vorliegens einer Fluchtgefahr im Sinne dieser Bestimmung, da sich der Begriff der Fluchtgefahr von demjenigen der Gefahr für die öffentliche Ordnung unterscheidet" (Rn. 56). Im Urteil vom wiederum wurde unter Rn. 79 daran erinnert, dass der EuGH den in der Richtlinie 2004/38 (Freizügigkeitsrichtlinie), insbesondere in deren Art. 27 und 28, enthaltenen Begriff der öffentlichen Ordnung dahin ausgelegt hat, dass er jedenfalls voraussetzt, dass außer der sozialen Störung, die jeder Gesetzesverstoß darstellt, eine tatsächliche, gegenwärtige und hinreichend erhebliche Gefahr vorliegt, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt.

26 Aus all dem folgt, dass das Vorliegen der in § 76 Abs. 2 Z 1 FPG angesprochenen Fluchtgefahr per se, anders als in den Stellungnahmen des BMI und des BFA vertreten, nicht als ein solcher Gesichtspunkt der öffentlichen Ordnung zu verstehen ist, der von Art. 8 Abs. 3 lit. e der Aufnahme-RL erfasst wird. Einerseits ist schon allgemein nicht zu sehen, dass die (bloße) Gefahr, ein Antragsteller könnte sich dem Verfahren oder der Abschiebung durch Flucht entziehen, ein Grundinteresse der Gesellschaft (im Sinn eines gebotenen Schutzes seiner Bürger vor Gefahren) berührt. Andererseits ergibt sich das aber auch ganz konkret aus der Bezugnahme des EuGH auf die Freizügigkeitsrichtlinie - Fluchtgefahr als solche kommt in deren Anwendungsbereich schon von vornherein nicht als maßgeblicher Gesichtspunkt der öffentlichen Ordnung in Betracht - und aus der wiedergegebenen Rn. 56 seines Urteils vom , "Zh. und O.", wonach sich der Begriff "Fluchtgefahr" von jenem der "Gefahr für die öffentliche Ordnung" unterscheidet. Dass abgesehen davon "Fluchtgefahr" als solche nicht in den Tatbeständen des Art. 8 Abs. 3 der Aufnahme-RL "unterzubringen" ist, zeigt im Übrigen dessen lit. b, in dem Fluchtgefahr zwar ausdrücklich erwähnt, aber "lediglich" als kumulatives Kriterium angesprochen wird (ebenso wie in einem neuen Art. 8 Abs. 3 lit. c laut Vorschlag der Europäischen Kommission, COM(2016) 465 final, wozu ergänzend anzumerken ist, dass "Fluchtgefahr" allein nur im Rahmen eines neuen Art. 7 Abs. 2 lit. d dieses Vorschlags - in Bezug auf die Möglichkeit der Mitgliedstaaten, für Antragsteller einen Aufenthaltsort festzulegen - für ausreichend erachtet wird).

27 Vor dem Hintergrund der klaren Aussagen des EuGH zum Verständnis des Begriffs der öffentlichen Ordnung in Art. 8 Abs. 3 lit. e der Aufnahme-RL insbesondere in seinem Urteil "J. N." - weshalb die Einholung einer Vorabentscheidung zu dieser Frage nicht erforderlich ist - erübrigen sich weitere Überlegungen. Der Vollständigkeit halber sei aber ergänzend angemerkt, dass auch der Hinweis des BMI auf die Entstehungsgeschichte der Aufnahme-RL nicht zu dem von ihm vertretenen Ergebnis führen könnte.

28 Richtig ist nur, dass in einem der Aufnahme-RL vorangehenden Vorschlag der Europäischen Kommission, KOM(2008) 815 final, auf UNHCR-Richtlinien über anzuwendende Kriterien und Standards betreffend die Haft von Asylsuchenden Bezug genommen wurde. Es handelt sich aber um deren Fassung aus dem Jahr 1999, und in dieser werden (Richtlinie 3 Punkt IV.) im Zusammenhang mit der öffentlichen Ordnung nur "Vorstrafen oder Zugehörigkeit zu verbrecherischen Kreisen" erwähnt. Dass auch "Fluchtgefahr" einen Gesichtspunkt darstelle, der Haft eines Antragstellers zum Schutz der öffentlichen Ordnung rechtfertigen könnte, findet sich dagegen erst in den "Haft-Richtlinien" Fassung 2012 und war mithin nicht von erkennbarem Einfluss auf die Textierung der Aufnahme-RL. Dass dann einer Stellungnahme des UNHCR zum Kommissionsvorschlag aus 2011, Art. 8 Abs. 3 der Aufnahme-RL betreffend, im Zuge der Beschlussfassung der Aufnahme-RL nicht gefolgt wurde, ist noch ergänzend anzumerken. Das entzieht dann aber auch dem Argument des BFA, die Auslegung dieser Bestimmung der Aufnahme-RL habe auf Basis der (aktuellen) UNHCR-Position zu erfolgen, den Boden.

29 3.4. Es bleibt damit festzuhalten, dass § 76 Abs. 2 Z 1 FPG, auch unter Bedachtnahme auf die Überlegungen des BMI und des BFA, nicht als Umsetzung eines Schubhaftgrundes nach Art. 8 Abs. 3 der Aufnahme-RL gedeutet werden kann. Das macht eine auf diese innerstaatliche Bestimmung gestützte Schubhaft in Bezug auf der Aufnahme-RL unterfallende Asylwerber rechtswidrig. Dass sich auch sonst - und sei es auch aus verfassungsrechtlichen Gründen - keine Vorschrift findet, die die Fälle des Art. 8 Abs. 3 lit. a, b, c und e der Aufnahme-RL im Rahmen innerstaatlicher Haftgründe umsetzt, sei zusätzlich betont. Demzufolge kann Schubhaft gegen Asylwerber außerhalb von "Dublin-Konstellationen" aber nur verhängt werden, wenn der Fall - was hier aber zu verneinen ist (siehe zusammenfassend oben Rz 15) - ausnahmsweise bzw. schon der Rückführungs-RL unterliegt.

30 3.5. Nicht die Verhängung, sondern die Aufrechterhaltung einer schon in Vollzug gesetzten Schubhaft behandelt § 76 Abs. 6 FPG. Ohne auf Einzelheiten einzugehen, ist zu diesem Absatz der Vollständigkeit halber anzumerken, dass insoweit Art. 8 Abs. 3 lit. d der Aufnahme-RL abgebildet wird. Eine Fortsetzung von Schubhaft gegenüber Asylwerbern nach Maßgabe der in § 76 Abs. 6 FPG näher normierten Voraussetzungen erscheint daher grundsätzlich auch im Anwendungsbereich der Aufnahme-RL unbedenklich. Umgekehrt legt die Bindung der Aufrechterhaltung einer - offenkundig rite wegen Fluchtgefahr verhängten - Schubhaft bei nachträglicher Asylantragstellung an die in § 76 Abs. 6 im Wesentlichen in Übereinstimmung mit Art. 8 Abs. 3 lit. d der Aufnahme-RL normierten weiteren Voraussetzungen (insbesondere das Vorliegen einer Umgehungsabsicht) schon innerstaatlich die Deutung nahe, dass Fluchtgefahr als solche, ohne Hinzutreten weiterer Gesichtspunkte, Schubhaft gegenüber Asylwerbern (außerhalb von "Dublin-Konstellationen"; siehe dazu das hg. Erkenntnis vom , Ro 2017/21/0004, 0013, Rz 21 f.) nicht zu rechtfertigen vermag.

31 3.6. Jedenfalls vor dem aufgezeigten unionsrechtlichen Hintergrund kommt aber die Verhängung von Schubhaft nach § 76 Abs. 2 Z 1 FPG, der - wie erwähnt - ohne entsprechende Deckung in der Aufnahme-RL nur auf Fluchtgefahr als Haftgrund abstellt, gegenüber einem Asylwerber, der wie der Revisionswerber zunächst faktischen Abschiebeschutz genießt und dem gegenüber dann die Fristen des § 16 Abs. 4 zweiter Satz BFA-VG noch nicht abgelaufen sind, nicht in Betracht. Das macht die gegenständliche, auf § 76 Abs. 2 Z 1 FPG gestützte Schubhaft rechtswidrig. Zwar mag das Vorliegen von Fluchtgefahr im Sinn des § 76 Abs. 3 FPG beim Revisionswerber zu bejahen sein. Darauf kommt es im Rahmen des hier gegenständlichen Revisionsverfahrens aber nach dem Gesagten angesichts der keinen Zweifel offenlassenden klaren unionsrechtlichen Regelungen und deren Konsequenzen - insbesondere auch in Anbetracht der Urteile "Arslan" und "J. N." -

nicht an.

32 4. Das angefochtene Erkenntnis war daher gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufzuheben.

33 Von der Durchführung der beantragten Verhandlung konnte gemäß § 39 Abs. 2 Z 5 VwGG abgesehen werden.

34 Der Spruch über den Aufwandersatz gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG iVm der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2014. Wien, am

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Anzuwendendes Recht Maßgebende Rechtslage VwRallg2 Rechtsgrundsätze Fristen VwRallg6/5 Besondere Rechtsgebiete Auslegung Anwendung der Auslegungsmethoden Verhältnis der wörtlichen Auslegung zur teleologischen und historischen Auslegung Bedeutung der Gesetzesmaterialien VwRallg3/2/2 Gemeinschaftsrecht Richtlinie richtlinienkonforme Auslegung des innerstaatlichen Rechts EURallg4/3

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