VwGH vom 08.05.2018, Ro 2017/08/0034

VwGH vom 08.05.2018, Ro 2017/08/0034

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Bachler und den Hofrat Dr. Strohmayer, die Hofrätin Dr. Julcher sowie die Hofräte Mag. Berger und Mag. Stickler als Richter, unter Mitwirkung des Schriftführers Mag. Sinai, über die Revision des Arbeitsmarktservice H in 3580 Horn, Pragerstraße 32, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichtes vom , Zl. W238 2155179-1/5E, betreffend Verlust der Notstandshilfe (mitbeteiligte Partei: R S in W), zu Recht erkannt:

Spruch

Die Revision wird als unbegründet abgewiesen.

Begründung

1 Das revisionswerbende Arbeitsmarktservice (im Folgenden: AMS) hat mit Bescheid vom bzw. mit Beschwerdevorentscheidung vom gemäß § 38 iVm § 10 AlVG ausgesprochen, dass der Mitbeteiligte den Anspruch auf Notstandshilfe für den Zeitraum vom bis verloren habe. Eine Nachsicht werde nicht erteilt. Der Mitbeteiligte habe eine Beschäftigung bei der S. GmbH nicht aufgenommen, weil ihm der Anfahrtsweg zu weit gewesen sei. Die Stelle sei jedoch zumutbar. Die Wegzeiten würden den Zumutbarkeitsbestimmungen entsprechen.

2 Mit dem in Revision gezogenen Erkenntnis hat das Verwaltungsgericht der Beschwerde gemäß § 28 Abs. 1 und 2 VwGG stattgegeben und die Beschwerdevorentscheidung ersatzlos behoben. Der (am geborene) Mitbeteiligte habe vom 1. Jänner bis Arbeitslosengeld bezogen. Seit beziehe er - unterbrochen durch Krankengeldbezüge sowie durch ein vollversichertes Dienstverhältnis vom 1. September bis - Notstandshilfe. Er habe den Beruf eines Bauspenglers erlernt und verfüge über Erfahrung in seinem erlernten Beruf. Er besitze einen Führerschein für die Klassen A, B, C und E, habe jedoch seit keinen eigenen Pkw. Auch seine Ehefrau besitze keinen Pkw. Der Mitbeteiligte begründe dies damit, dass er sich mit dem geringen Haushaltseinkommen keinen Pkw leisten könne. Der Mitbeteiligte sei verheiratet. Seine Ehefrau sei Hausfrau. Er habe keine Sorgepflichten. Seine Kinder würden nicht mehr in seinem Haushalt leben. In der zuletzt am geschlossenen Betreuungsvereinbarung sei festgehalten worden, dass er kein Fahrzeug besitze. Das Suchgebiet sei - auf Grund seines entlegenen Wohnortes - auf ganz Österreich "mit Quartier" ausgeweitet worden. Die österreichweite Vermittlung von Stellen habe der Mitbeteiligte am in einem Gespräch mit dem Leiter der Geschäftsstelle des AMS kritisiert.

3 Am sei dem Mitbeteiligten per Post eine Vollzeitstelle als Bauspengler bei der S. GmbH in R übermittelt worden. Das zugewiesene Stellenangebot habe wie folgt gelautet:

"Seit vielen Jahren sind wir im Spenglergewerbe tätig und unsere zahlreichen Kunden in Wien und Niederösterreich vertrauen bei ihrer Dachsanierung auf unsere langjährige Erfahrung.

Wir suchen zur Verstärkung unseres Teams eine/n Bauspengler/in Anforderungen:

  • Sie haben eine abgeschlossene Lehrausbildung als Bauspengler/in

  • Sie besitzen einschlägige Berufserfahrung

  • Sie sind selbständiges Arbeiten gewöhnt

  • Sie sind schwindelfrei

  • Sie verfügen über gute Deutschkenntnisse (...)

  • Sie besitzen den Führerschein B

  • Ein privater PKW zur Erreichung des Arbeitsortes ist von Vorteil - für Personen ohne PKW besteht die Möglichkeit einer Abholung vom Bahnhof K - danach stehen Firmen-PKW zur Verfügung.

  • Wir bieten eine Vollzeitbeschäftigung in einem gut geführten Familienunternehmen. Arbeitskleidung und Sicherheitsschuhe werden vom Dienstgeber bereit gestellt.

  • Wenn Sie die Anforderungen erfüllen, freuen wir uns auf Ihre

  • Bewerbung ...

  • Entgeltangaben des Unternehmens:

  • Das Mindestentgelt für die Stelle als Bauspengler/in beträgt 2098,00 EUR brutto pro Monat auf Basis Vollzeitbeschäftigung. Bereitschaft zur Überzahlung."

  • 4 Am habe die S. GmbH gemeldet, dass die Position vergeben worden sei. Der Mitbeteiligte habe sich um diese Stelle nicht beworben, weil er sie im Hinblick auf die Verkehrsverbindungen und die Erreichbarkeit innerhalb angemessener Zeit für unzumutbar erachtet habe. Er habe nach Erhalt der Stellenzuweisung keinen Kontakt mit dem AMS aufgenommen, weil er das Thema der langen Wegzeiten im Hinblick auf seine bereits deponierte Kritik als erledigt erachtet habe.

  • 5 Der Mitbeteiligte wohne in W, etwa 14 km von der tschechischen Grenze entfernt. Der Wohnort sei entlegen. Die regionale Arbeitsmarktsituation im näheren Umkreis seines Wohnortes sei schlecht. Die ihm zugewiesene Stelle befinde sich in R. Als Arbeitszeiten wären von Montag bis Freitag 6.30 bis 16.30 Uhr mit insgesamt einer Stunde Pause vorgesehen gewesen. Jeden zweiten Freitag hätte kein Dienstbetrieb stattgefunden. In den langen (Arbeits)Wochen hätte der Dienstbetrieb am Freitag ebenfalls um 16.30 Uhr geendet. Überstunden wären nur sehr selten und nur im geringen Ausmaß (ca. 30 Minuten) angefallen. Die Normalarbeitszeit der vom AMS zugewiesenen Stelle als Bauspengler betrage täglich 9 Stunden, wöchentlich 36 Stunden in den kurzen und 45 Stunden in den langen Wochen. Eine Unterkunft am Dienstort wäre dem Mitbeteiligten nicht zur Verfügung gestellt worden. Der im Inserat erwähnte Firmen-Pkw der S. GmbH sei ausschließlich für betriebliche Nutzung (Fahrten zwischen Baustellen und Betriebsstandort) vorgesehen. Die S. GmbH habe sicher gestellt, dass Arbeitnehmer, die über keinen privaten Pkw verfügten, rechtzeitig vor Dienstbeginn am Bahnhof K abgeholt und nach Dienstende wieder zum Bahnhof K zurückgebracht würden. Besonders günstige Arbeitsbedingungen habe die zugewiesene Stelle nicht aufgewiesen.

  • 6 Für den mit öffentlichen Verkehrsmitteln zurückzulegenden Weg des Mitbeteiligten vom Wohnort zum Betriebsstandort sei mit elf Gehminuten bis zur Bushaltestelle in W, einer Stunde 24 Minuten von W bis K (W ab 4.40 Uhr mit dem Bus bis Re, Zuganschluss mit Ankunft K um 6.04 Uhr), zwei Gehminuten vom Bahnhof K zum Abholdienst und weiteren 16 Minuten für die Fahrt mit dem Pkw von K bis zum Betriebsstandort in R, somit insgesamt mit 113 Minuten zu rechnen. Der Rückweg beginne mit Dienstende um 16.30 Uhr. Der nächste erreichbare Zug nach Re fahre in K um 17.20 Uhr ab. Der in Re anschließende Bus erreiche W um 18.38 Uhr. Anschließend folgten wieder 11 Gehminuten zum Wohnort. Für den Rückweg seien insgesamt 139 Minuten zu veranschlagen. Für den Hin- und Rückweg sei mit einer Wegzeit von insgesamt vier Stunden 12 Minuten zu rechnen.

  • 7 Der Bezirk H sei ein "Auspendlerbezirk". Im Jahr 2014 seien von den insgesamt 10010 dort wohnhaften Beschäftigten 4121 Beschäftigte, sohin 41,2 %, aus dem Bezirk ausgependelt. Ca. 1500 Personen seien nach Wien gependelt, weitere 76 Personen in den ehemaligen Bezirk W und 133 Personen in den Bezirk K. Auch die Gemeinde W mit ca. 1600 Einwohnern sei durch starkes Auspendeln geprägt. Nur 142 Beschäftigte pendelten in die Gemeinde ein, 450 (28,1 % der W Gesamtbevölkerung ) würden auspendeln (negativer Pendlersaldo von 308). Nach Wien betrage der Saldo Einpendler abzüglich Auspendler minus 101. Bezüglich der Gemeinden K, S, K und G betrage der Auspendlersaldo weitere minus 11. 36,4 % des negativen Pendlersaldos entfielen auf die Zielorte Wien und Gemeinden im nördlichen Nahebereich von Wien. W sei, wie der gesamte Bezirk H, ein Ort, an dem dort lebende Personen üblicherweise eine längere Wegzeit zum Arbeitsplatz zurückzulegen hätten. Die Strecke W-Wien sei mit öffentlichen Verkehrsmitteln in der pendlerrelevanten Hauptverkehrszeit in ca. einer Stunde und 40 Minuten bis zwei Stunden zurückzulegen. Die Strecke W-Wien werde mit dem Pkw in der pendlerrelevanten Hauptverkehrszeit bei einer durchschnittlichen Verkehrssituation in ca. einer Stunde 20 Minuten zurückgelegt. Die vom Mitbeteiligten zurückzulegende Wegzeit wäre mit jener, die Pendler aus W nach Wien - also jenem Zielort mit der höchsten negativen Pendlerbilanz in der relevanten Region - mit öffentlichen Verkehrsmitteln zu veranschlagen hätten, vergleichbar. Sie übersteige die Wegzeit von Pkw-Pendlern. Die Verfahrensparteien würden übereinstimmend von einer Gesamtdauer der Wegzeit (Hin- und Rückweg) von vier Stunden und 12 Minuten ausgehen.

  • 8 In rechtlicher Hinsicht führte das Verwaltungsgericht aus, gemäß § 9 Abs. 2 AlVG sei eine Beschäftigung u.a. dann zumutbar, wenn sie in angemessener Zeit erreichbar sei oder eine entsprechende Unterkunft am Arbeitsort zur Verfügung stehe. Die zumutbare tägliche Wegzeit für Hin- und Rückweg betrage jedenfalls eineinhalb Stunden, bei einer Vollzeitbeschäftigung jedenfalls 2 Stunden. Wesentlich darüber liegende Wegzeiten seien nur unter besonderen Umständen zumutbar, insbesondere dann, wenn am Wohnort lebende Personen üblicherweise eine längere Wegzeit zum Arbeitsplatz zurückzulegen hätten oder besonders günstige Arbeitsbedingungen geboten würden.

  • 9 Zur zumutbaren Wegzeit sei in den Erläuterungen zur Regierungsvorlage für die AlVG-Novelle BGBl. I Nr. 77/2004 (464 BlgNR 22. GP) u.a. Folgendes ausgeführt worden:

  • "Die bisher vorgesehene unterschiedliche Beurteilung der Zumutbarkeit einer Beschäftigung in Abhängigkeit von der Lage des Arbeitsplatzes innerhalb oder außerhalb des Wohn- oder Aufenthaltsortes führt vielfach zu unbilligen Ergebnissen und soll daher entfallen. Statt dessen soll die Erreichbarkeit des Arbeitsplatzes innerhalb einer angemessenen Zeit geprüft werden. Im Hinblick auf die unterschiedlichen regionalen und persönlichen Umstände soll von der starren Festlegung einer Grenze im Gesetz abgesehen werden. Die Beurteilung der Angemessenheit der Wegzeit soll unter Berücksichtigung des Verhältnisses zwischen der Wegzeit und der durchschnittlichen täglichen Normalarbeitszeit erfolgen. Als durchschnittliche tägliche Wegzeit soll die in der Regel täglich zurück zu legende Wegzeit gelten. Die Wegzeit (von der Wohnung zum Arbeitsplatz und zurück) soll im Allgemeinen ein Viertel der durchschnittlichen täglichen Normalarbeitszeit nicht wesentlich überschreiten. Bei unterschiedlicher Verteilung der Wochenarbeitszeit ist auf die durchschnittliche Arbeitszeit an den Beschäftigungstagen abzustellen. Wenn die Wegzeit, etwa auf Grund der Fahrpläne der öffentlichen Verkehrsmittel, geringfügig (zB eine Viertelstunde) über der Richtwertzeit liegt, wird die Angemessenheit noch nicht in Frage zu stellen sein. Da die Kollektivverträge zum Teil unterschiedliche, von der gesetzlichen Normalarbeitszeit abweichende, Normalarbeitszeiten vorsehen (zB 37,5 oder 38,5 Stunden) wird, um aufwändige Nachforschungen und Streitigkeiten zu vermeiden, im Sinne einer praktikablen Lösung klar gestellt, dass zwei Stunden Wegzeit täglich bei einer Vollzeitbeschäftigung immer zumutbar sind. Eine wesentlich längere Wegzeit, also zB drei Stunden bei einer täglichen Arbeitszeit von acht Stunden, soll nur bei Vorliegen besonderer Umstände zumutbar sein. Solche Umstände werden jedenfalls vorliegen, wenn bei Einhaltung der Richtwegzeit eine längere Arbeitslosigkeit unvermeidlich wäre. Das kann insbesondere der Fall sein, wenn die arbeitslose Person einen besonders entlegenen Wohnsitz hat, von dem aus ein geeigneter Arbeitsplatz nicht in kürzerer Zeit erreichbar ist, aber auch wenn auf Grund der regionalen Arbeitsmarktsituation kein näherer Arbeitsplatz gefunden werden kann. Einen Anhaltspunkt für die Angemessenheit einer Wegzeit bietet die von am Wohn- oder Aufenthaltsort lebenden Tagespendlern üblicher Weise zurück gelegte Fahrzeit. Eine längere Wegzeit ist auch zumutbar, wenn die größere Entfernung durch besonders günstige Arbeitsbedingungen aufgewogen wird. Bei Teilzeitarbeit ist jedenfalls eine Wegzeit von eineinhalb Stunden (hin und zurück) zumutbar, wenn die Wochenarbeitszeit mindestens 20 Stunden beträgt."

  • 10 Der Verwaltungsgerichtshof sei vor diesem Hintergrund in seinem Erkenntnis vom , 2008/08/0062, davon ausgegangen, dass bei einer Vollzeitbeschäftigung eine wesentlich über dem als tunlich angesehenen Viertel der durchschnittlichen täglichen Normalarbeitszeiten liegende tägliche Wegzeit iSd § 9 Abs. 2 AlVG, die nur unter besonderen Umständen zumutbar sei, erst bei einer Überschreitung um etwa 50 % anzunehmen sei. Diese Grenze werde hier deutlich überschritten. Da weder der Mitbeteiligte noch seine Ehefrau über einen Pkw verfügten, sei er auf die Benützung öffentlicher Verkehrsmittel angewiesen. Für den Hin- und Rückweg von seinem Wohnort bis zum Dienstort wären insgesamt vier Stunden und 12 Minuten zu veranschlagen. Die tägliche Normalarbeitszeit der zugewiesenen Stelle betrage neun Stunden. Der Mitbeteiligte hätte bei Annahme der ihm angebotenen Beschäftigung Wegzeiten in Kauf nehmen müssen, die wesentlich über den zulässigen Richtwegzeiten nach § 9 Abs. 2 AlVG lägen. Es sei zu prüfen, ob besondere Umstände vorlägen, auf Grund derer die festgestellten Wegzeiten ausnahmsweise zumutbar wären, beispielsweise dann, wenn am Wohnort lebende Personen üblicherweise eine längere Wegzeit zum Arbeitsplatz zurückzulegen hätten oder besonders günstige Arbeitsbedingungen geboten würden. Angesichts der schlechten regionalen Arbeitsmarktsituation am Wohnort des Mitbeteiligten bzw. im näheren Umkreis, der abgeschiedenen Lage seines Wohnorts sowie des Umstandes, dass Tagespendler von diesem Ort aus üblicherweise längere Wegzeiten zurücklegen müssten, sei davon auszugehen, dass besondere Umstände iSd § 9 Abs. 2 AlVG gegeben seien, unter denen wesentlich über den Richtwegzeiten liegende Wegzeiten grundsätzlich zumutbar erschienen. Die deutlich über 50 % hinausgehende Überschreitung der Richtwegzeit (Wegzeit von insgesamt 4 Stunden und 12 Minuten bei einer täglichen Normalarbeitszeit von 9 Stunden) sei indes nicht mehr zumutbar. Zwar sehe das Gesetz bei einer wesentlichen Überschreitung der Richtwegzeiten keine absolute Obergrenze vor, bei deren Erreichen jedenfalls von einer unangemessenen Wegzeit auszugehen wäre. Eine solche Grenze sei dem Gesetzeszweck jedoch immanent. § 9 Abs. 2 AlVG ziele darauf ab, dass Arbeitslosen eine Beschäftigung nur dann zumutbar sein soll, wenn eine Erreichung des Arbeitsplatzes innerhalb einer angemessenen Zeit gegeben sei. Eine tägliche Wegzeit von vier Stunden und 12 Minuten würde nicht nur die im Gesetz vorgesehene Richtwegzeit bei Vollbeschäftigung von zwei Stunden um mehr als das Doppelte überschreiten und etwa die Dauer eines halben Arbeitstages umfassen, sondern im Fall des Mitbeteiligten dazu führen, dass dieser an Arbeitstagen von 04.29 Uhr (Verlassen des Wohnortes) bis 18.49 Uhr (Rückkehr zum Wohnort) insgesamt 14,5 Stunden in Anspruch genommen würde. Die zugewiesene Stelle sei nicht innerhalb angemessener Zeit erreichbar. Daran ändere die lange Abwesenheit des Mitbeteiligten vom Arbeitsmarkt sowie sein Alter nichts, zumal eine Vermittlung des Mitbeteiligten - sollte für ihn tatsächlich keine in angemessener Zeit erreichbare Beschäftigung zu finden sein - auch für Stellen in Betracht zu ziehen wäre, bei denen eine entsprechende Unterkunft am Dienstort zur Verfügung stehe. Die Beschäftigung sei objektiv unzumutbar gewesen. Ein Tatbestand des § 10 Abs. 1 Z 1 AlVG sei nicht verwirklicht worden.

  • 11 (Dass dem Mitbeteiligten die Benützung eines Kraftfahrzeuges möglich und zumutbar wäre, wird im angefochtenen Erkenntnis, das erkennbar davon ausgeht, dass der Mitbeteiligte auf die Benützung öffentlicher Verkehrsmittel angewiesen sei, nicht festgestellt.)

  • 12 Die Revision sei gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG zulässig, weil Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes zu der Frage fehle, in welchen Fallkonstellationen bei Vorliegen besonderer Umstände iSd § 9 Abs. 2 AlVG eine wesentliche Überschreitung der Richtwegzeit dennoch nicht mehr zumutbar sei bzw. wo eine - vom Verwaltungsgericht als systemimmanent angenommene - (absolute) Obergrenze der Wegzeit angenommen werden könne.

  • 13 Gegen dieses Erkenntnis richtet sich die ordentliche Revision.

Der Verwaltungsgerichtshof hat nach Durchführung des Vorverfahrens durch das Verwaltungsgericht - eine Revisionsbeantwortung wurde nicht erstattet - erwogen:

14 Das revisionswerbende Arbeitsmarktservice (in der Folge: AMS) bringt zur Zulassung der Revision vor, eine wesentlich längere Wegzeit als zwei Stunden täglich bei einer Vollzeitbeschäftigung sei zumutbar, wenn besondere Umstände vorlägen, wie etwa dann, wenn bei Einhaltung der Richtzeit eine längere Arbeitslosigkeit unvermeidlich sei. Bei Überschreitung um etwa 50 % des Viertels der durchschnittlichen täglichen Normalarbeitszeit sei das Vorliegen besonderer Umstände zu prüfen, welche sodann die wesentlich längere Wegzeit zumutbar machen würden. Weder das Gesetz noch die in der Entscheidung zitierten Erkenntnisse würden bei wesentlicher Überschreitung der Richtwegzeiten eine absolute Obergrenze vorsehen, bei deren Erreichen jedenfalls von einer unangemessenen Wegzeit auszugehen wäre.

15 In seiner weiteren Revisionsbegründung bringt das AMS vor, es lägen besondere Umstände vor, welche eine wesentliche Überschreitung der nach § 9 Abs. 2 AlVG jedenfalls zumutbaren Wegzeit rechtfertigen würden. Die Arbeitslosigkeit des am xx 1965 geborenen Mitbeteiligten bestehe bereits seit dem und könnte sich bis zum Erreichen des gesetzlichen Pensionsalters im Jahr 2030 erstrecken. Sein Wohnort sei besonders entlegen. Von diesem entlegenen Wohnort aus müssten Pendler eine längere Wegzeit zurücklegen, damit die Arbeitslosigkeit beendet werden könne. Es bestehe eine schlechte regionale Arbeitsmarktsituation. Es könne kein näher gelegener Arbeitsplatz gefunden werden. 450 von 1600 Einwohnern aus der Gemeinde W würden auspendeln. In Anbetracht einer durchschnittlichen täglichen Normalarbeitszeit des Mitbeteiligten von neun Stunden wäre ein Viertel, sohin eine Wegzeit von zwei Stunden und 25 Minuten jedenfalls zumutbar. In Anbetracht der dargelegten besonderen Umstände sei auch die tatsächliche Wegzeit von vier Stunden und 12 Minuten täglich (sohin eine Überschreitung des genannten Wertes um 74 %) zulässig. Würden die festgestellten Wegzeiten als unzumutbar angesehen, wäre eine längere Arbeitslosigkeit des Mitbeteiligten unvermeidlich. Die Auslegung des Verwaltungsgerichtes würde dazu führen, dass die Arbeitslosigkeit von Personen in abgelegenen Pendlergebieten vielfach (jedenfalls ohne eigenen Pkw) nur mehr beendet werden könnte, wenn diese freiwillig eine unzumutbare Wegzeit in Kauf nehmen würden.

16 Das AMS nimmt hingegen nicht auf die Gründe Bezug, weshalb der Mitbeteiligte nicht - wie in Pendlerregionen üblich - auf ein KFZ oder eine Fahrgemeinschaft zurückgreifen konnte.

17 Die Revision ist aus den vom Verwaltungsgericht und von dem revisionswerbenden AMS genannten Gründen zulässig, sie ist jedoch nicht berechtigt.

18 § 9 Abs. 2 AlVG in der im vorliegenden Fall maßgeblichen Fassung BGBl. I Nr. 104/2007 lautet:

"Eine Beschäftigung ist zumutbar, wenn sie den körperlichen Fähigkeiten der arbeitslosen Person angemessen ist, ihre Gesundheit und Sittlichkeit nicht gefährdet, angemessen entlohnt ist, in einem nicht von Streik oder Aussperrung betroffenen Betrieb erfolgen soll, in angemessener Zeit erreichbar ist oder eine entsprechende Unterkunft am Arbeitsort zur Verfügung steht sowie gesetzliche Betreuungsverpflichtungen eingehalten werden können. Als angemessene Entlohnung gilt grundsätzlich eine zumindest den jeweils anzuwendenden Normen der kollektiven Rechtsgestaltung entsprechende Entlohnung. Die zumutbare tägliche Wegzeit für Hin- und Rückweg beträgt jedenfalls eineinhalb Stunden und bei einer Vollzeitbeschäftigung jedenfalls zwei Stunden. Wesentlich darüber liegende Wegzeiten sind nur unter besonderen Umständen, insbesondere wenn am Wohnort lebende Personen üblicher Weise eine längere Wegzeit zum Arbeitsplatz zurückzulegen haben oder besonders günstige Arbeitsbedingungen geboten werden, zumutbar."

19 Der Gesetzgeber sieht in § 9 Abs. 2 AlVG bei einer Vollzeitbeschäftigung eine Wegzeit von "jedenfalls zwei Stunden" als zumutbar an. Dies entspricht einem Viertel einer täglichen Normalarbeitszeit von acht Stunden pro Arbeitstag (§ 3 Abs. 1 AZG). Darüber hinausgehende (durchschnittliche) tägliche Normalarbeitszeiten sind zwar möglich. So kann z.B. der Kollektivvertag gemäß § 4 Abs. 1 AZG eine tägliche Normalarbeitszeit von bis zu zehn Stunden zulassen. Daraus kann aber in Anbetracht des eindeutigen Wortlautes des § 9 Abs. 2 AlVG nicht der Schluss gezogen werden, dass im Fall einer Normalarbeitszeit von zehn Stunden eine Wegzeit von einem Viertel dieser individuellen Normalarbeitszeit (sohin zweieinhalb Stunden) im Sinn der genannten Gesetzesstelle "jedenfalls" zumutbar wäre. Die in § 9 Abs. 2 AlVG genannte Grenze bei Vollzeitarbeit ist unabhängig von der tatsächlich vorliegenden durchschnittlichen täglichen Arbeitszeit maßgeblich. Dies erscheint auch im Hinblick darauf sachgerecht, dass eine längere Normalarbeitszeit die an dem betreffenden Tag zur Verfügung stehende Freizeit reduziert. Dieser Effekt soll nicht durch als zumutbar erachtete längere Wegzeiten verstärkt werden.

20 Bei einer Vollzeitbeschäftigung liegt eine Wegzeit erst dann "wesentlich" über der in § 9 Abs. 2 AlVG genannten Grenze von "jedenfalls zwei Stunden" - und sie ist daher erst dann "nur unter besonderen Umständen" zumutbar -, wenn diese Grenze um etwa 50 % überschritten wird (). Ab einer Wegzeit von drei Stunden täglich bedürfte es einer näheren Prüfung, ob derartige besondere Umstände vorliegen, auf Grund derer die festgestellten Wegzeiten ausnahmsweise zumutbar sind (, betreffend eine tägliche Wegzeit von drei Stunden und 23 Minuten).

21 Die vorliegende Wegzeit von vier Stunden und zwölf Minuten, die die im Fall der Vollzeitbeschäftigung "jedenfalls zumutbare" Wegzeit von zwei Stunden um 110 % überschreitet, hat jedoch ein Ausmaß, das selbst dann nicht mehr zumutbar ist, wenn Umstände der in § 9 Abs. 2 AlVG genannten Art vorliegen sollten. Bei Erreichung des Doppelten des nach dem dritten Satz des § 9 Abs. 2 AlVG "jedenfalls Zumutbaren" erscheint der Begriff "wesentlich darüber liegender Wegzeiten" im vierten Satz des § 9 Abs. 2 AlVG ausgeschöpft: Bei einer Wegzeit von mehr als dem Doppelten von zwei Stunden bei Vollzeitarbeit könnte - von ganz außergewöhnlichen Konstellationen abgesehen, die aber hier nicht vorliegen (vgl. zu so einem Fall ) - nicht mehr bloß von einem "darüber Liegen" in Bezug auf die genannte Grenze gesprochen werden (vgl. zu § 9 Abs. 2 idF BGBl. I Nr. 77/2004 ).

22 Die Revision war daher gemäß § 42 Abs. 1 VwGG als unbegründet abzuweisen.

Wien, am

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ECLI:
ECLI:AT:VWGH:2018:RO2017080034.J00

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