VwGH vom 15.11.2017, Ro 2017/08/0013
Betreff
Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Bachler und den Hofrat Dr. Strohmayer, die Hofrätin Dr. Julcher sowie die Hofräte Mag. Berger und Mag. Stickler als Richter, unter Mitwirkung des Schriftführers Mag. Honeder, über die Revision des Hauptverbandes der österreichischen Sozialversicherungsträger in Wien, vertreten durch die Preslmayr Rechtsanwälte OG in 1010 Wien, Universitätsring 12, gegen den Beschluss des Bundesverwaltungsgerichts vom , Zl. W118 2137445- 1/12E, betreffend Aufnahme in den Erstattungskodex (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Hauptverband der österreichischen Sozialversicherungsträger; mitbeteiligte Partei:
A GmbH in W, vertreten durch Dr. Georg Legat, Rechtsanwalt in 1040 Wien, Mayerhofgasse 1/Top 22), zu Recht erkannt:
Spruch
Der angefochtene Beschluss wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.
Ein Aufwandersatz findet nicht statt.
Begründung
1 Die mitbeteiligte Partei als vertriebsberechtigtes Unternehmen beantragte am die Aufnahme der Arzneispezialität "Brilique 60 mg Filmtabletten" (Wirkstoff Ticagrelor) in den gelben Bereich des Erstattungskodex. Sie stufte die Arzneispezialität pharmakologisch gemäß § 23 Abs. 2 Z 4 VO-EKO (neue Darreichungsform eines im Erstattungskodex angeführten Wirkstoffes oder einer im Erstattungskodex angeführten Wirkstoffkombination) und medizinisch-therapeutisch gemäß § 4 Abs. 2 Z 6 VO-EKO ein (wesentlicher zusätzlicher therapeutischer Nutzen für die Mehrzahl der Patienten/Patientinnen, welche für die Behandlung mit dem beantragten Mittel in Frage kommen). Die pharmakologische Einstufung wurde im Lauf des erstinstanzlichen Verfahrens auf jene nach § 23 Abs. 2 Z 2 VO-EKO korrigiert (gleicher Wirkstoff sowie gleiche oder praktisch gleiche Darreichungsform wie bereits eine oder mehrere im Erstattungskodex angeführte Arzneispezialitäten, jedoch in einer neuen Wirkstoffstärke). Folgende Verwendung wurde beantragt: "Zur Prävention atherothrombotischer Ereignisse bei erwachsenen PatientInnen in Kombination mit Acetylsalicylsäure (ASS, Erhaltungsdosis im Bereich von 75 - 150 mg pro Tag) mit einem Myokardinfarkt (MI) in der Vorgeschichte und einem hohen Risiko für die Entwicklung eines atherothrombotischen Ereignisses. Die Therapie kann ohne Unterbrechung als Anschlussbehandlung nach der einjährigen Anfangstherapie mit Ticagrelor 90 mg oder anderen Adenosindiphosphat-Rezeptorinhibitoren (P2Y12-Inhibitor) initiiert werden. Die Behandlung kann auch bis zu 2 Jahre nach dem MI oder innerhalb eines Jahres nach Beendigung einer vorherigen Behandlung mit einem ADP-Rezeptorinhibitor initiiert werden. Ticagrelor eignet sich für eine chef(kontroll)ärztliche Langzeitbewilligung für 6 Monate."
2 Mit Bescheid vom wies der revisionswerbende Hauptverband der österreichischen Sozialversicherungsträger (im Folgenden: Hauptverband) den Antrag ab. In der Begründung ging er davon aus, dass als therapeutische Alternative zu Brilique 60 mg (Wirkstoff Ticagrelor) für die medizinisch-therapeutische Evaluation der Wirkstoff Clopidogrel - mit dem gleichen ATC-Code auf der 4. Ebene - heranzuziehen sei. Im Vergleich zu Clopidogrel sei ein wesentlicher zusätzlicher Nutzen für die Mehrzahl der PatientInnen durch die beantragte Arzneispezialität nicht nachgewiesen worden, wobei sich der Hauptverband (mangels direkter Vergleichsstudien) auf eine Posthoc-Subgruppenanalyse (der CHARISMA-Studie) zur Wirksamkeit von Clopidogrel (in Kombination mit ASS) im Vergleich zu Placebo sowie auf eine weitere Studie (DAPT-Studie) zur Wirksamkeit von Clopidogrel (in Kombination mit ASS) ab dem 12. Monat nach einem Myokardinfarkt stützte, in denen sich jeweils statistisch und klinisch relevante Reduktionen insbesondere der Infarkte zeigten. Weiters zog der Hauptverband eine Studie zur Wirksamkeit von Ticagrelor 60 mg (sowie Ticagrelor 90 mg) im Vergleich zu Placebo heran (wiederum jeweils in Kombination mit ASS), die für Ticagrelor 60 mg eine absolute jährliche Risikoreduktion für ein schweres kardiovaskuläres Ereignis von unter einem halben Prozent ergeben hatte (PEGASUS-Studie). Im indirekten Vergleich erscheine der PatientInnennutzen von Brilique 60 mg somit am ehesten als ähnlich zu Clopidogrel (Wirkstoffstärke 75 mg). Die beantragte Arzneispezialität sei daher (nur) eine weitere Therapieoption mit gleichem oder ähnlichem therapeutischen Nutzen für Patienten/Patientinnen im Sinn des § 24 Abs. 2 Z 2 VO-EKO. Ein wesentlicher therapeutischer Zusatznutzen - der aber für die Aufnahme in den gelben Bereich erforderlich wäre - liege nicht vor.
3 Die mitbeteiligte Partei erhob gegen diesen Bescheid Beschwerde, in der sie sich insbesondere gegen die Heranziehung von Clopidogrel als therapeutische Alternative wandte.
4 Mit dem angefochtenen Beschluss gab das Bundesverwaltungsgericht der Beschwerde statt, indem es den Bescheid des Hauptverbandes behob und die Sache zur Erlassung eines neuen Bescheides an diesen zurückverwies.
5 Das Bundesverwaltungsgericht gab unter der Überschrift "Feststellungen" zunächst den Inhalt des Antrags der mitbeteiligten Partei wieder. Sodann führte es aus, dass im grünen Bereich des Erstattungskodex die Arzneispezialität Plavix mit dem Wirkstoff Clopidogrel (ATC-Code B01AC04) gelistet sei, die vom Hauptverband als therapeutische Alternative betrachtet worden sei. Auf derselben 4. Ebene des ATC-Codes finde sich Ticagrelor, der Wirkstoff von Brilique (ATC-Code B01AC24).
6 Für die Beurteilung seien im vorliegenden Fall relevant:
1. die Fachinformation zu Clopidogrel (laut den vom Bundesverwaltungsgericht wörtlich wiedergegebenen Auszügen ist die optimale Behandlungsdauer für Patienten mit akutem Koronarsyndrom ohne ST-Strecken-Hebung ausdrücklich nicht formal festgeschrieben, es wird aber auf klinische Studiendaten hingewiesen, die eine Anwendung bis zu zwölf Monate belegten, wobei der maximale Nutzen nach drei Monaten gesehen worden sei; für Patienten mit akutem Koronarsyndrom mit ST-Strecken-Hebung wird in der Fachinformation erklärt, dass der Nutzen von Clopidogrel mit ASS über vier Wochen hinaus nicht untersucht worden sei); 2. EPAR (European Public Assessment Report der europäischen Arzneimittelagentur EMA) zu Brilique 60 mg (in dem vom Bundesverwaltungsgericht wörtlich wiedergegebenen Auszug heißt es, dass Studien zu Clopidogrel (CHARISMA, DAPT) nicht zu einer Änderung der Fachinformation geführt hätten, sodass dessen Verwendung auf ein Jahr nach dem akuten Koronarsyndrom beschränkt bleibe); 3. die Bewertung des deutschen Instituts für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen - IQWIG für den Gemeinsamen Bundesausschuss (nach den vom Bundesverwaltungsgericht wiedergegebenen "tragenden Gründen" zum Beschluss des Gemeinsamen Bundesausschusses vom kann Clopidogrel für das vorliegende Anwendungsgebiet von Ticagrelor in Kombination mit ASS nicht als Standardtherapie angesehen werden, weshalb auf Basis der vorhandenen Evidenz eine ASS-Monotherapie als zweckmäßige Vergleichstherapie bestimmt wurde); 4. die Bewertung durch das englische National Institute for Health and Clinical Excellence - NICE (ebenfalls mit dem Ergebnis, dass der Vergleich zwischen Ticagrelor und einer Therapie nur mit Aspirin am geeignetsten sei); 5. die Leitlinie "Arznei & Vernunft", die anführe, dass nach zwölf Monaten DAPT (duale Anti-Plättchentherapie) eine lebenslange Behandlung mit ASS 75 bis 100 mg täglich angezeigt, bei Unverträglichkeit eine Behandlung mit Clopidogrel 75 mg indiziert sei; 6. die Leitlinien der ESC (European Society of Cardiology), wonach die Gabe von P2Y12-Inhibitoren in Kombination mit Aspirin über ein Jahr hinaus nach sorgfältiger Beurteilung der zerebrovaskulären und Blutungsrisken in Betracht gezogen werden kann.
7 Daran schließt die Feststellung an, dass die Anwendung von Clopidogrel/Plavix über zwölf Monate nach einem akuten Koronarsyndrom (ACS) nicht dem Stand der Wissenschaft entspreche. Demgegenüber könne nach Myokardinfarkt eine über ein Jahr hinausgehende duale Plättchenhemmung bei Risikopatientinnen und - patienten mit niedrig dosierter ASS in Kombination mit einem P2Y12- Inhibitor, wenn das Risiko für weitere Koronarereignisse hoch, das Blutungsrisiko aber nicht hoch sei, empfohlen werden.
8 Unter der Überschrift "Beweiswürdigung" führte das Bundesverwaltungsgericht die Internet-Fundstellen der sechs in den Feststellungen genannten Beurteilungsgrundlagen an. Beim EPAR zu Brilique 60 mg, den Bewertungen des NICE, der Beurteilung des IQWIG, der Fachinformation zu Plavix und den ESC-Richtlinien handle es sich um Bewertungen im Sinn des § 22 Abs. 3 Z 2 VO-EKO.
9 Zur zentralen Feststellung, dass die Anwendung von Clopidogrel/Plavix über zwölf Monate nach ACS nicht dem Stand der Wissenschaft entspreche, sei festzuhalten: Die angeführten Richtlinien, Gutachten und Empfehlungen gingen weitgehend übereinstimmend davon aus, dass nach Myokardinfarkt eine über ein Jahr hinausgehende duale Plättchenhemmung bei Risikopatientinnen und -patienten mit niedrig dosierter ASS in Kombination mit einem P2Y12-Inhibitor, wenn das Risiko für weitere Koronarereignisse hoch, das Blutungsrisiko aber nicht hoch sei, empfohlen werden könne. Für den Beginn der dualen Plättchenhemmung nach Myokardinfarkt würden Ticagrelor oder Prasugrel empfohlen, Clopidogrel nur, wenn Ticagrelor und Prasugrel kontraindiziert seien. Die Gründe lägen einerseits in den überlegenen klinischen Studien von Ticagrelor und Prasugrel gegenüber Clopidogrel und andererseits darin, dass Clopidogrel einige pharmakokinetische Nachteile habe. Es müsse erst im Körper zu einem aktiven Metaboliten umgewandelt werden, das Ansprechen sei interindividuell viel variabler als bei Ticagrelor oder Prasugrel, und es könne mehr pharmakokinetische Wechselwirkungen mit anderen Medikamenten geben. Für die duale Plättchenhemmung über ein Jahr hinaus sei bei den P2Y12-Inhibitoren für keinen der Wirkstoffe eine bevorzugende Empfehlung ausgesprochen worden. Die Gründe seien möglicherweise im Fehlen überzeugender klinischer Studiendaten für diesen späten Zeitraum nach Myokardinfarkt zu suchen. Ziel der (von der mitbeteiligten Partei vorgelegten) PEGASUS-Studie zum Einsatz von Brilique 60 mg sei es gewesen, zu dieser Frage zum ersten Mal aussagekräftige Daten zu liefern. Definitiv werde aber eine Behandlung mit Clopidogrel/Plavix über zwölf Monate nach Myokardinfarkt nicht empfohlen.
10 Im Abschnitt "rechtliche Beurteilung" erklärte das Bundesverwaltungsgericht zur strittigen Frage der therapeutischen Alternative, dass als solche nur Arzneispezialitäten in Frage kämen, die für die gleiche Patientengruppe sowie für dieselbe Indikation bereits im Erstattungskodex gelistet seien, wobei die Zulassung des Vergleichsprodukts grundsätzlich die beantragte Indikation umfassen müsse. Die pharmakologische Evaluation liege nicht im Ermessen des Hauptverbandes, sondern es handle sich um die Anwendung unbestimmter Gesetzesbegriffe.
11 Im vorliegenden Fall werde die Aufnahme der Arzneispezialität Brilique 60 mg in den gelben Bereich des Erstattungskodex begehrt. In diesem Zusammenhang stelle sich die Frage, ob hinsichtlich der pharmakologischen Evaluation gemäß § 23 Abs. 2 VO-EKO zweckmäßige therapeutische Alternativen mit der gleichen oder praktisch gleichen Darreichungsform auf Basis der
4. Ebene des ATC-Codes vorlägen.
12 Die zugelassene Verwendung von Brilique 60 mg umfasse drei Behandlungsszenarien zur Prävention atherothrombotischer Ereignisse bei erwachsenen PatientInnen mit einem Myokardinfarkt in der Vorgeschichte und einem hohen Risiko für die Entwicklung eines atherothrombotischen Ereignisses: Anschlussbehandlung nach einer einjährigen Anfangstherapie mit Brilique 90 mg oder einem andern P2Y12-Inhibitor (zB Wechsel von Clopidogrel oder Prasugrel zu Brilique); Erstbehandlung bis zu zwei Jahre nach dem Myokardinfarkt; Wiederbehandlung innerhalb eines Jahres nach Beendigung einer vorherigen Behandlung mit einem P2Y12-Inhibitor - alle drei jeweils in Kombination mit ASS. Die Argumente gegen die Heranziehung von Arzneispezialitäten mit dem Wirkstoff Clopidogrel als therapeutische Alternative zu Brilique 60 mg in diesen drei Behandlungsszenarien seien bereits im Abschnitt "Feststellungen" beschrieben und in der Beweiswürdigung ausführlich erläutert worden.
13 Das Anwendungsgebiet und die bestimmte Verwendung einer Arzneispezialität würden von der Zulassungsbehörde definiert. Der Hauptverband könne im Erstattungskodex nur Einschränkungen in der bestimmten Verwendung festlegen, es stehe ihm aber nicht frei, Ausweitungen oder freie Interpretationen im Anwendungsgebiet vorzunehmen. Die Arzneispezialität Clopidogrel 75 mg (Plavix und diverse Generika) sei im Erstattungskodex im grünen Bereich gelistet, mit der Indikationsregel: "zur Hemmung der Thrombozytenaggregation, wenn ASS nicht ausreichend oder kontraindiziert ist". Im Übrigen gelte die Fachinformation. Es gebe keinen Hinweis in der Fachinformation von Clopidogrel auf ein "Switch-Szenario" nach einjähriger Behandlung mit einem anderen P2Y12-Inhibitor zu Clopidogrel. Ebenso wenig gebe es einen Hinweis auf die Erstbehandlung bis zu zwei Jahre nach dem Myokardinfarkt oder die Wiederbehandlung innerhalb eines Jahres nach vorheriger Behandlung mit einem P2Y12-Inhibitor. Folglich könne Clopidogrel derzeit nicht als umfassende therapeutische Alternative zur beantragten Arzneispezialität in der Sekundärprophylaxe nach einem akuten Koronarereignis über ein Jahr hinaus angesehen werden.
14 Alle in den Feststellungen angeführten Bewertungen sähen als eine über ein Jahr hinausgehende Sekundärprophylaxe nach akutem Koronarsyndrom die Monotherapie mit ASS an. Folglich könne als therapeutische Alternative zum zugelassenen Indikationsgebiet von Brilique 60 mg und dem Aufnahmeantrag von Brilique 60 mg nur die Monotherapie mit ASS, analog den Daten der PEGASUS-Studie, angesehen werden.
15 Zusammenfassend sei festzuhalten, dass die HEK in ihrer Empfehlung und dieser folgend der Hauptverband in seiner Entscheidung zu Unrecht davon ausgegangen seien, dass Clopidogrel/Plavix als therapeutische Alternative heranzuziehen sei.
16 Der Hauptverband habe es vor dem Hintergrund seiner verfehlten Rechtsansicht versäumt, Brilique 60 mg mit Placebo zu vergleichen. Diesen Vergleich werde der Hauptverband nach Behebung und Zurückverweisung im fortgesetzten Verfahren durchzuführen haben. Es liege im vorliegenden Fall weder im Interesse der Raschheit noch wäre es mit einer Kostenersparnis verbunden, wenn das Bundesverwaltungsgericht in der Sache selbst entschiede. Zu keinem anderen Ergebnis würde man gelangen, wenn man die pharmakologische Evaluation als vom Ermessen des Hauptverbandes umfasst sehen wollte. Diesbezüglich wäre gemäß § 28 Abs. 4 VwGVG davon auszugehen, dass der Hauptverband sein Ermessen nicht rechtmäßig geübt habe, und der Fall aus diesem Grund zurückzuverweisen.
17 Gemäß § 25a Abs. 1 VwGG sprach das Bundesverwaltungsgericht aus, dass die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG zulässig sei, weil es hinsichtlich der Kriterien für den Vergleich von Arzneispezialitäten im Rahmen der pharmakologischen und darauf aufbauend der medizinischtherapeutischen Evaluation noch an Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes fehle.
Gegen diesen Beschluss richtet sich die vorliegende Revision des Hauptverbandes, über die der Verwaltungsgerichtshof nach Erstattung einer Revisionsbeantwortung durch die mitbeteiligte Partei erwogen hat:
18 Der Hauptverband verweist hinsichtlich der Zulässigkeit der Revision zunächst auf die Begründung des Bundesverwaltungsgerichts, wonach es an Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes zu Kriterien für den Vergleich von Arzneispezialitäten im Rahmen der pharmakologischen und der darauf aufbauenden medizinisch-therapeutischen Evaluation fehle. Eine Rechtsfrage grundsätzlicher Bedeutung liege außerdem deshalb vor, weil es noch keine höchstgerichtliche Rechtsprechung zu der Frage gebe, ob dem Hauptverband bei Abwägung der Kriterien zur Festlegung der therapeutischen Alternativen Ermessen zukomme. Das Bundesverwaltungsgericht sei zu Unrecht davon ausgegangen, dass diese Abwägungsentscheidung nicht vom Ermessen des Hauptverbandes erfasst sei. Abgesehen davon habe das Bundesverwaltungsgericht die Abwägung aber auch in unvertretbarer Weise auf Grundlage völlig einseitig getroffener Feststellungen zu Ungunsten des Hauptverbandes vorgenommen.
19 Die Revision ist zulässig, weil es an Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes zur Reichweite des Ermessens des Hauptverbandes fehlt.
20 Der Verwaltungsgerichtshof hat bereits in seinem Erkenntnis vom , Ro 2015/08/0017, klargestellt, dass die Aufnahme oder Nichtaufnahme von Arzneispezialitäten in den Erstattungskodex eine Ermessensentscheidung des Hauptverbandes darstellt. Dies ergibt sich ausdrücklich aus § 351d Abs. 1 ASVG ("im Rahmen des ihm nach diesem Bundesgesetz eingeräumten Ermessens") und aus § 351h Abs. 5 ASVG, der hinsichtlich einer allfälligen Behebung und Zurückverweisung durch das Bundesverwaltungsgericht auf § 28 Abs. 4 VwGVG (und nicht auf § 28 Abs. 3 VwGVG) Bezug nimmt.
21 Der revisionswerbende Hauptverband ist nun der Ansicht, dass dieses Ermessen nicht nur bei der Endentscheidung über die Aufnahme oder Nichtaufnahme in den Erstattungskodex bestehe, sondern auch bei den einzelnen in der VO-EKO vorgesehenen Verfahrensschritten, also bei der pharmakologischen, der medizinisch-therapeutischen und der gesundheitsökonomischen Evaluation. In jedem dieser Abschnitte habe der Hauptverband bereits zahlreiche Kriterien zu gewichten und gegeneinander abzuwägen, die sodann in die nächstfolgende Stufe übertragen würden. Die insgesamt zu treffende Ermessensentscheidung setze sich aus mehreren Teilfragen zusammen, die im Rahmen der jeweiligen Evaluation zu beurteilen seien. Die Ermessensentscheidung des Hauptverbandes erfolge schrittweise bzw. "aufgeteilt" auf mehrere Bewertungen. Seien nach Durchführung der pharmakologischen und der medizinisch-therapeutischen Evaluation die entsprechenden Einstufungen durch den Hauptverband getroffen worden, könnten sich Konstellationen ergeben, in denen durch eng gefasste Vorgaben der VO-EKO der Entscheidungsspielraum bei der Bewertung der gesundheitsökonomischen Kriterien praktisch nicht mehr gegeben sei; dies sei etwa bei wirkstoffgleichen Nachfolgeprodukten der Fall. Die insgesamt zu treffende Ermessensentscheidung sei somit durch die Besonderheiten des Erstattungskodex-Verfahrens sinnvoll nur in jedem einzelnen Evaluationsschritt zu treffen, da sie im letzten Schritt der mehrstufigen Evaluation bereits unmöglich geworden sein könne.
22 Damit ist der Hauptverband nicht im Recht. Die Einstufungen im Rahmen der pharmakologischen, medizinischtherapeutischen und gesundheitsökonomischen Evaluation sowie die Festlegung der therapeutischen Alternativen sind - wovon auch der Hauptverband selbst ausgeht - nur Schritte auf dem Weg zur letztendlich zu treffenden Entscheidung über die Aufnahme oder Nichtaufnahme in den Erstattungskodex. Sie betreffen die Ermittlung und rechtliche Aufbereitung der Entscheidungsgrundlagen und setzen entsprechende Tatsachenfeststellungen voraus, stellen aber selbst keine Entscheidungen dar, zu denen Ermessen eingeräumt werden könnte. Das gilt für die pharmakologische, die medizinischtherapeutische und die gesundheitsökonomische Evaluation gleichermaßen. Soweit dabei unrichtige Einstufungen oder Festlegungen vorgenommen werden, sind diese sowohl was die Tatsachenfeststellung als auch was die rechtliche Subsumtion betrifft im Beschwerdeverfahren einer Korrektur durch das Bundesverwaltungsgericht zugänglich. Nur für die Entscheidung, in die die Evaluationen schließlich münden, gilt, dass sie im Ermessen des Hauptverbandes steht und vom Bundesverwaltungsgericht nur dann abzuändern oder aufzuheben ist, wenn das Ermessen nicht im Sinne des Gesetzes geübt wurde. Die dabei zu beachtenden Kriterien sind im Wege der pharmakologischen, medizinischtherapeutischen und gesundheitsökonomischen Evaluation zu ermitteln und dann zu gewichten und abzuwägen. Dabei mag es Konstellationen geben, in denen - wie etwa im Fall der beantragten Aufnahme von Generika - auf Grund der engen Determinierung durch Gesetz und Verordnung letztlich kein Ermessensspielraum offen bleibt; in anderen Fällen kann es aber zum Beispiel im Ermessen des Hauptverbandes liegen, trotz Bejahung eines wesentlichen therapeutischen Zusatznutzens die Aufnahme in den Erstattungskodex zu versagen, weil der Grad des medizinisch-therapeutischen (Zusatz-)Nutzens im Verhältnis zu den Kosten für die Sozialversicherung letztlich doch als zu gering angesehen wird, etwa im Hinblick darauf, dass der Zusatznutzen in der unteren Bandbreite der "Wesentlichkeit" liegt, die Kosten aber außergewöhnlich hoch (wenn auch möglicherweise noch "sinnvoll und vertretbar" im Sinn des § 25 Abs. 2 Z 5 VO-EKO) sind. In diese Richtung können auch die Erläuterungen zur Regierungsvorlage 2167 BlgNR 24. GP 7 gedeutet werden, in denen es heißt, Ermessen des Hauptverbandes bestehe "insbesondere auf Grund der Bestimmungen der §§ 31 Abs. 3 Z 12 sowie 351c bis 351f ASVG im Hinblick auf die Beurteilung des zusätzlichen therapeutischen Nutzens von Arzneispezialitäten".
23 Weil die Einstufungen und Festlegungen im Rahmen der pharmakologischen, medizinisch-therapeutischen und gesundheitsökonomischen Evaluation nach dem Gesagten nur Begründungselemente darstellen, hat ein dem Hauptverband dabei unterlaufener Fehler nicht zwingend zur Aufhebung oder Abänderung des Bescheides zu führen; vielmehr ist die Beschwerde - allenfalls nach Verfahrensergänzung bzw. nach abweichender Beurteilung der genannten Evaluationsschritte - abzuweisen, wenn das nunmehr in der Sache entscheidende Verwaltungsgericht im Ergebnis die Auffassung des Hauptverbandes teilt. Ist nicht mit Abweisung (und auch nicht mit Zurückweisung) der Beschwerde vorzugehen, so hat das Bundesverwaltungsgericht gemäß § 28 Abs. 4 VwGVG - der maßgeblich ist, weil es insgesamt um die Kontrolle einer Ermessensentscheidung geht - (nur dann) ein abänderndes Erkenntnis zu erlassen, wenn im Sinn des § 28 Abs. 2 VwGVG der maßgebliche Sachverhalt feststeht oder die Feststellung des maßgeblichen Sachverhalts durch das Verwaltungsgericht selbst im Interesse der Raschheit gelegen oder mit einer erheblichen Kostenersparnis verbunden ist; andernfalls hat das Bundesverwaltungsgericht den Bescheid zu beheben und die Sache an den Hauptverband zurückzuverweisen, wobei es berechtigt ist, dem Hauptverband - etwa auch hinsichtlich der vorzunehmenden Einstufungen - seine rechtliche Beurteilung zu überbinden.
24 Im vorliegenden Fall war das Bundesverwaltungsgericht also nicht von vornherein gehindert, in die Festlegung der therapeutischen Alternative durch den Hauptverband auf Basis der Stellungnahme der HEK auch ohne dabei unterlaufene "Ermessensüberschreitung" durch Behebung und Zurückverweisung einzugreifen.
25 Die dem angefochtenen Beschluss konkret zugrunde liegende Beurteilung des Bundesverwaltungsgerichts, dass der Hauptverband die therapeutische Alternative unrichtig festgelegt hätte, erweist sich allerdings als nicht haltbar.
26 Gemäß § 22 Abs. 1 VO-EKO ist beim Vergleich der beantragten Arzneispezialität mit den verfügbaren therapeutischen Alternativen von der häufigsten Indikation, der medizinisch zweckmäßigsten Dosierung und der hauptsächlich betroffenen Gruppe von Patientinnen und Patienten auszugehen. Die Festlegung der therapeutischen Alternativen ist eines der Ziele der pharmakologischen Evaluation gemäß § 23 VO-EKO. Nach § 23 Abs. 1 Z 2 VO-EKO sind dabei, soweit zweckmäßig, therapeutische Alternativen mit der gleichen oder praktisch gleichen Darreichungsform auf Basis der 4. Ebene des ATC-Codes festzulegen.
27 Im vorliegenden Fall hat der Hauptverband als therapeutische Alternative eine - im grünen Bereich des Erstattungskodex enthaltene - Arzneispezialität festgelegt, deren ATC-Code bis zur 4. Ebene jenem der beantragten Arzneispezialität gleicht. Dies entspricht grundsätzlich den Vorgaben des § 23 Abs. 1 Z 2 VO-EKO. Das Bundesverwaltungsgericht sah demgegenüber offenbar einen Fall, in dem diese Festlegung auf Basis der
4. Ebene des ATC-Codes nicht zweckmäßig ist.
28 Diese Beurteilung ist jedoch nicht nachvollziehbar. 29 Das Bundesverwaltungsgericht stützt sich dabei auf
folgende Aussagen: "Die Anwendung von Clopidogrel/Plavix über zwölf Monate nach ACS entspricht nicht dem Stand der Wissenschaft. Demgegenüber kann nach Myokardinfarkt eine über ein Jahr hinausgehende duale Plättchenhemmung bei Risikopatienten und - patientinnen mit niedrig dosierter Acetylsalicylsäure (ASS) in Kombination mit einem P2Y12-Inhibitor, wenn das Risiko für weitere Koronarereignisse hoch ist, das Blutungsrisiko aber nicht hoch ist, empfohlen werden." Diese Aussagen sind jedoch widersprüchlich: Clopidogrel ist nämlich (ebenso wie der Wirkstoff der beantragten Arzneispezialität) ein P2Y12-Inhibitor; die beiden Sätze, dass einerseits die Anwendung von Clopidogrel nicht dem Stand der Wissenschaft entspreche, und andererseits die Anwendung von P2Y12-Inhibitoren empfohlen werde, können daher nicht gleichzeitig stimmen (es sei denn, das BVwG geht von einer Clopidogrel-Monotherapie aus, was aber als Vergleichstherapie ohnedies nie in Betracht gezogen wurde). Sollte das Bundesverwaltungsgericht hingegen meinen, dass die Anwendung aller anderen P2Y12-Inhibitoren mit Ausnahme von Clopidogrel empfohlen werden könne, so lässt sich dies durch die vom Bundesverwaltungsgericht angeführten Beweisergebnisse nicht stützen. Die vom Bundesverwaltungsgericht zitierten Leitlinien des ESC enthalten unterschiedslos für alle P2Y12-Inhibitoren die Empfehlung, dass sie in Kombination mit Aspirin über ein Jahr hinaus in Betracht gezogen werden können ("may be considered"), nachdem eine sorgfältige Beurteilung der zerebrovaskulären Risiken und Blutungsrisiken erfolgt ist. In diesem Sinn erklärt auch das Bundesverwaltungsgericht in der "Beweiswürdigung", dass für die duale Plättchenhemmung über ein Jahr hinaus bei den P2Y12- Inhibitoren für keinen der Wirkstoffe eine bevorzugende Empfehlung ausgesprochen worden sei. Wie es auf dieser Basis zu der Aussage gelangt, dass (nur) die Anwendung von Clopidogrel/Plavix über zwölf Monate nach ACS nicht dem Stand der Wissenschaft entspreche, ist unerfindlich. Die "Beweiswürdigung" enthält zwar auch die Aussage: "Definitiv wird aber eine Behandlung mit Clopidogrel/Plavix über zwölf Monate nach Myokardinfarkt hinaus nicht empfohlen." Was damit gemeint sein könnte, ist jedoch ebenfalls unklar. Die Empfehlungslage ist hinsichtlich des Zeitraums jenseits von zwölf Monaten nach ACS für Clopidrogel nicht anders als für Ticagrelor, und es gibt auch für beide Wirkstoffe in Kombination mit ASS Studien, die jeweils - zumindest statistisch signifikante - positive Wirkungen zeigen und vom Hauptverband in der medizinisch-therapeutischen Evaluation auch herangezogen wurden.
30 Es trifft zwar zu, dass eine Arzneispezialität im Allgemeinen dann nicht als therapeutische Alternative in Betracht kommt, wenn sie für die beabsichtigte Verwendung nicht zugelassen ist. Dies konnte für Arzneispezialitäten mit dem Wirkstoff Clopidogrel aber nicht festgestellt werden. Vielmehr ergibt sich aus der vom Bundesverwaltungsgericht zitierten Fachinformation (auf die die Verschreibungsregel verweist), dass die Dauer der Kombinationstherapie mit ASS nicht formal festgeschrieben ist bzw. dass der Nutzen dieser Therapie über vier Wochen hinaus nicht untersucht worden sei. Eine Einschränkung der zulässigen Anwendungsdauer folgt daraus nicht.
31 Soweit das Bundesverwaltungsgericht darauf verweist, dass Fachgremien in anderen Ländern (Deutschland, England) einen Vergleich mit der ASS-Monotherapie als angemessen erachtet hätten, vermag dies eine tragfähige eigene Beurteilung vor dem Hintergrund der von ihm anzuwendenden österreichischen Rechtsvorschriften nicht zu ersetzen. Im Übrigen ist das wörtliche auszugsweise Zitieren aus - zum Teil englischsprachigen - (Fach-)Texten für sich genommen generell ohne Begründungswert, solange daraus nicht konkret und nachvollziehbar eigene Aussagen abgeleitet werden.
32 Die Ablehnung der Heranziehung einer auf Basis der
4. Ebene des ATC-Codes vergleichbaren Arzneispezialität durch das Bundesverwaltungsgericht ist also erfolgt, ohne schlüssig darzulegen, dass diese in der VO-EKO als Regelfall vorgesehene Festlegung nicht zweckmäßig wäre. Das Bundesverwaltungsgericht vermochte demnach nicht zu begründen, dass die Wahl der therapeutischen Alternative durch den Hauptverband unrichtig und in weiterer Folge die letztlich getroffene Ermessensentscheidung nicht im Sinne des Gesetzes war.
33 Ausgehend davon war es zu der vorgenommenen Behebung und Zurückverweisung nicht berechtigt.
34 Der angefochtene Beschluss war daher gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufzuheben.
35 Ein Kostenersatz findet nicht statt, weil der Hauptverband selbst Rechtsträger im Sinn des § 47 Abs. 5 VwGG ist.
Wien, am