VwGH vom 20.06.2017, Ro 2016/01/0012

VwGH vom 20.06.2017, Ro 2016/01/0012

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Blaschek und die Hofräte Dr. Kleiser, Dr. Fasching, und Mag. Brandl sowie die Hofrätin Mag. Liebhart-Mutzl als Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag.a Strasser, über die Revision der Marktgemeinde M in O, vertreten durch Dr. Gernot Gasser und Dr. Sonja Schneeberger, Rechtsanwälte in 9900 Lienz, Beda-Weber-Gasse 1, gegen das Erkenntnis des Landesverwaltungsgerichts Tirol vom , Zlen. LVwG-2016/23/1277-16, LVwG-2016/23/1278-16, LVwG-2016/23/1279-16, betreffend Versagung der aufsichtsbehördlichen Genehmigung (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bezirkshauptmannschaft Lienz), zu Recht erkannt:

Spruch

Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.

Das Land Tirol hat der Revisionswerberin Aufwendungen in der Höhe von EUR 1.106,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

1 Mit Schriftsatz vom beantragte die revisionswerbende Gemeinde bei der belangten Behörde die aufsichtsbehördliche Genehmigung für drei Gemeinderatsbeschlüsse jeweils vom betreffend die Aufnahme von Bankdarlehen in der Höhe von EUR 600.000,--, EUR 100.000,-- und EUR 200.000,-- (Laufzeit jeweils 25 Jahre) für den Verwendungszweck "Abwasserentsorgung".

2 Mit - näher bezeichneten - Bescheiden jeweils vom hat die belangte Behörde diesen Gemeinderatsbeschlüssen gemäß § 103 Abs. 2 lit. b Tiroler Gemeindeordnung (TGO) die aufsichtsbehördliche Genehmigung versagt.

3 Die gegen diese Bescheide von der Revisionswerberin erhobene "verbundene" Beschwerde hat das Landesverwaltungsgericht mit dem angefochtenen Erkenntnis abgewiesen (1.); die Revision wurde für zulässig erklärt (2.).

4 Begründend führte das Verwaltungsgericht - unter Bezugnahme auf den Rechnungsabschluss der Revisionswerberin im Jahr 2015 - im Wesentlichen aus, dass sich aus der Gegenüberstellung von (bereinigten) fortlaufenden Einnahmen und Ausgaben zunächst ein Bruttoüberschuss in Höhe von EUR 1.134.400,-- ergebe, der das maximale finanzielle Investitionsvolumen bzw. den maximalen finanziellen Rahmen zur Abgeltung des jährlichen Schuldendienstes darstelle. Mit Stand habe die revisionswerbende Gemeinde insgesamt 90 Darlehen aufgenommen, die einen Gesamtschuldenstand von EUR 21.359.010,80 bzw. einen jährlichen Zinsendienst von EUR 1.320.100,-- verursachten. Nur bei elf Darlehen seien die festgelegten Annuitäten bezahlt worden; die Aufsichtsbehörde sei über die Aussetzung der Schuldentilgungen nicht informiert worden. Aus der Gegenüberstellung des erwähnten Zinsendienstes mit dem Bruttoüberschuss ergäbe sich ein jährlicher "negativer Nettoüberschuss" von EUR 181.700,--. Hinzu kämen ein negativer Kassenbestand infolge von Kontokorrentkrediten in Höhe von EUR 2.409.836,82 sowie offene Transferzahlungen an das Land Tirol in Höhe von EUR 1.027.331,56.

5 In den rechtlichen Erwägungen führte das Verwaltungsgericht aus, dass vor allem der finanziellen Leistungsfähigkeit der revisionswerbenden Gemeinde zentrale Bedeutung zukomme. Bei der aktuellen finanziellen Situation der revisionswerbenden Gemeinde bedeute jedes weitere Eingehen von finanziellen Verbindlichkeiten im Sinne des § 123 Abs. 2 TGO nicht nur eine unverhältnismäßig hohe Belastung der Gemeinde sondern bereits ein unverhältnismäßig hohes finanzielles Wagnis. Da unter Zugrundelegung der Ergebnisse des Rechnungsabschlusses für das Jahr 2015 eine gesicherte Finanzierung der mit den Gemeinderatsbeschlüssen vom geplanten Darlehensfinanzierungen nicht gewährleistet sei, sei von einer ungesicherten und daher spekulativen Finanzierung auszugehen. Die Ablehnung der aufsichtsbehördlichen Genehmigung durch die belangte Behörde sei daher zu Recht erfolgt.

6 Dem Vorbringen der revisionswerbenden Gemeinde, dass die Aufnahme der drei beantragten Darlehen zur Finanzierung von Abwasserbeseitigungsanlagen diene und derartige Projekte derart hoch gefördert seien, dass eine Belastung des Gemeindebudgets ausgeschlossen sei, sei zu entgegnen, dass bei einer Darlehensaufnahme nicht ein fiktiver Bestfall zu Grunde zu legen sei, sondern dass jede Darlehensaufnahme, auch wenn sie nur der Zwischenfinanzierung diene, eine reale Belastung im Haushalt der Gemeinde darstelle.

7 Zur Zulässigkeit der Revision führte das Verwaltungsgericht aus, dass zur Frage einer aufsichtsbehördlichen Genehmigung von Gemeinderatsbeschlüssen im Zusammenhang mit finanziellen Verbindlichkeiten, insbesondere zur Frage der Berechnung der finanziellen Leistungsfähigkeit einer Gemeinde, keine höchstgerichtliche Judikatur bestehe.

8 Gegen dieses Erkenntnis richtet sich die vorliegende - Rechtswidrigkeit des Inhaltes und Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften geltend machende - Revision. Die Tiroler Landesregierung erstattete eine Revisionsbeantwortung.

Der Verwaltungsgerichtshof hat erwogen:

9 Gemäß Art. 119a Abs. 8 B-VG können einzelne von der Gemeinde im eigenen Wirkungsbereich zu treffende Maßnahmen, durch die auch überörtliche Interessen in besonderem Maß berührt werden, insbesondere solche von finanzieller Bedeutung, durch die zuständige Gesetzgebung an eine Genehmigung der Aufsichtsbehörde gebunden werden. Als Grund für die Versagung der Genehmigung darf nur ein Tatbestand vorgesehen werden, der die Bevorzugung überörtlicher Interessen eindeutig rechtfertigt.

10 Gemäß Art. 119a Abs. 9 B-VG ist die Gemeinde Partei des aufsichtsbehördlichen Verfahrens und hat das Recht, Beschwerde beim Verwaltungsgericht (Art. 130 bis 132) zu erheben. Sie ist Partei des Verfahrens vor dem Verwaltungsgericht und hat das Recht, Revision beim Verwaltungsgerichtshof (Art. 133) und Beschwerde beim Verfassungsgerichtshof (Art. 144) zu erheben.

11 Die maßgeblichen Bestimmungen der Tiroler Gemeindeordnung 2001, LGBl. Nr. 36 idF LGBl. Nr. 81/2015 (TGO), lauten:

"§ 84

Aufnahme von Krediten und Kontokorrentkrediten

(1) Die Gemeinde darf Kredite nur für außerordentliche Erfordernisse aufnehmen, wenn und insoweit der hiefür erforderliche Aufwand nicht aus anderen Mitteln gedeckt werden kann und die Verzinsung und Tilgung des Kredites die Erfüllung der gesetzlichen und privatrechtlichen Verpflichtungen der Gemeinde nicht beeinträchtigen.

...

§ 114

Aufgaben der Gemeindeaufsicht

(1) Das Land Tirol übt gegenüber der Gemeinde bei der Besorgung der Angelegenheiten des eigenen Wirkungsbereiches der Gemeinde aus dem Bereich der Landesvollziehung das Aufsichtsrecht aus.

...

§ 115

Aufsichtsbehörden, Aufsichtsbeschwerden

(1) Die Aufsicht des Landes wird, soweit gesetzlich nicht anderes bestimmt ist, von der Bezirkshauptmannschaft ausgeübt.

...

§ 123

Genehmigungsvorbehalt

(1) Unbeschadet sonstiger gesetzlicher Bestimmungen bedürfen folgende Beschlüsse von Gemeindeorganen der Genehmigung der Aufsichtsbehörde:

a) die Aufnahme von Krediten, ...

...

(2) Die Genehmigung ist zu versagen, wenn durch den Beschluss

...

b) eine unverhältnismäßig hohe Belastung der Gemeinde oder

ein unverhältnismäßig hohes finanzielles Wagnis für die Gemeinde zu erwarten ist.

Bei der Beurteilung, ob Auswirkungen im Sinne der lit. b zu erwarten sind, sind insbesondere die Größe der Gemeinde, ihre finanzielle Leistungsfähigkeit sowie Art und Umfang der von ihr zu besorgenden Pflichtaufgaben zu berücksichtigen.

Unverhältnismäßigkeit liegt jedenfalls vor, wenn die Aufrechterhaltung oder Wiederherstellung des Haushaltsgleichgewichtes oder die ordnungsgemäße Erfüllung der der Gemeinde obliegenden Aufgaben bzw. ihrer privatrechtlichen Verpflichtungen gefährdet wäre.

(3) Liegt kein Grund nach Abs. 2 lit. a oder b vor, so ist die Genehmigung zu erteilen. Sie ist befristet, unter Bedingungen oder mit Auflagen zu erteilen, soweit dies zur Vermeidung von Auswirkungen im Sinne des Abs. 2 erforderlich ist.

..."

12 Die Revision ist zulässig. Sie ist auch berechtigt. 13 Das Verwaltungsgericht hat die Versagung der

aufsichtsbehördlichen Genehmigung der gegenständlichen Kreditaufnahmen auf den Tatbestand des § 123 Abs. 2 lit. b TGO gestützt. Es hat dabei angenommen, dass eine gesicherte "Finanzierung" - womit offenkundig eine gesicherte Kreditbedienung gemeint ist - der geplanten Darlehensfinanzierungen infolge der prekären Finanzsituation der Revisionswerberin nicht gewährleistet sei, weshalb die beabsichtigte Kreditfinanzierung eine ungesicherte und spekulative Finanzierung darstelle. Bereits aus diesem Grund - so die erkennbare Auffassung des Verwaltungsgerichts - sei von einem unverhältnismäßig hohen Wagnis für die Revisionswerberin im Sinne des § 123 Abs. 2 lit. b TGO auszugehen.

14 Diese Begründung ist unzulänglich, weil das Verwaltungsgericht die Rechtslage verkannt hat.

15 Ob der Versagungstatbestand der "unverhältnismäßig hohen Belastung der Gemeinde" oder des "unverhältnismäßig hohen finanziellen Wagnisses für die Gemeinde" im Sinne des § 123 Abs. 2 lit. b TGO erfüllt ist, hat die Aufsichtsbehörde (bzw. das Verwaltungsgericht) nach den im zweiten und dritten Satz dieser Bestimmung demonstrativ aufgezählten Parametern zu beurteilen.

16 Nach Satz zwei leg. cit. sind insbesondere die Größe der Gemeinde, ihre finanzielle Leistungsfähigkeit sowie Art und Umfang der von ihr zu besorgenden Pflichtaufgaben zu berücksichtigen. Erforderlich ist demnach eine Gesamtbetrachtung der wirtschaftlichen Situation der Gemeinde, in die jedenfalls die (demonstrativ) genannten Kriterien einzufließen haben.

17 Satz drei leg. cit. stellt eine (unwiderlegliche) gesetzliche Vermutung für die geforderte "Unverhältnismäßigkeit" einer hohen Belastung oder eines hohen finanziellen Wagnisses für die Gemeinde und somit für das Vorliegen des Versagungstatbestandes auf. Die aufsichtsbehördliche Genehmigung ist demnach nach § 123 Abs. 2 lit. b TGO jedenfalls zu versagen, wenn durch den genehmigungspflichtigen Beschluss der Gemeinde (hier: der Kreditaufnahmen) die Aufrechterhaltung oder Wiederherstellung des Haushaltsgleichgewichtes oder die ordnungsgemäße Erfüllung der der Gemeinde gesetzlich obliegenden Aufgaben bzw. ihrer privatrechtlichen Verpflichtungen gefährdet würden.

18 Im Revisionsfall hat das Verwaltungsgericht die Versagung der aufsichtsbehördlichen Genehmigung lediglich auf die (mangelnde) finanzielle Leistungsfähigkeit der Revisionswerberin gestützt. Die "finanzielle Leistungsfähigkeit" einer Gemeinde ist indes nur ein für die Frage der Verweigerung der aufsichtsbehördlichen Genehmigung nach § 123 Abs. 2 lit. b TGO maßgebliches Kriterium.

19 Wenngleich die Annahme einer (äußerst) prekären Finanzsituation der Revisionswerberin durch das Verwaltungsgericht fallbezogen nicht zu beanstanden ist und einer eingeschränkten finanziellen Leistungsfähigkeit einer Gemeinde im Rahmen der vorzunehmenden Gesamtbeurteilung auch zulässigerweise entsprechend hohes Gewicht eingeräumt werden kann, behaftet die Aufsichtsbehörde bzw. das Verwaltungsgericht die Versagung einer Genehmigung dennoch mit Rechtswidrigkeit, wenn - wie hier - eine Auseinandersetzung mit den übrigen nach § 123 Abs. 2 lit. b zweiter Satz TGO erforderlichen Kriterien bzw. der Frage der "Unverhältnismäßigkeit" im Sinne des dritten Satzes leg. cit. unterbleibt.

20 Fallbezogen hätte insbesondere eine nähere Auseinandersetzung mit dem Vorbringen der Revisionswerberin, wonach die Rückzahlung der gegenständlichen Darlehen durch Förderungen des Bundes abgedeckt sei, zu erfolgen gehabt. Die Auffassung des Verwaltungsgerichts, dass jede Darlehensaufnahme, auch wenn sie nur der Zwischenfinanzierung diene, eine reale Belastung im Gemeindehaushalt darstelle, greift zu kurz. Sollten nämlich tatsächlich Fördermittel lukriert werden können, wäre - unter Berücksichtigung von Höhe, Abwicklungsmodalitäten, Zeitrahmen etc. der Förderung - gesondert zu begründen, weshalb die gegenständlichen Darlehensaufnahmen eine "unverhältnismäßig" hohe finanzielle Belastung bzw. ein "unverhältnismäßiges" finanzielles Wagnis bedeuten.

Soweit die Tiroler Landesregierung versucht, in der Revisionsbeantwortung näher darzulegen, dass der Schuldendienst der Revisionswerberin durch zukünftige Förderungen nach dem Umweltförderungsgesetz (UFG) nur teilweise gedeckt sei und zur vollständigen Darlehensrückzahlung zusätzliche fortlaufende Einnahmen der Gemeinde erforderlich seien, ist darauf zu verweisen, dass in der Revisionsbeantwortung nachgetragene Überlegungen nicht geeignet sind, eine fehlende Begründung der verwaltungsgerichtlichen Entscheidung zu ersetzen (vgl. etwa das hg. Erkenntnis vom , Ra 2015/05/0032, mwN).

21 Darüber hinaus wären - worauf die Revision zutreffend hinweist - auch Erwägungen zu der Frage, inwieweit durch die Versagung der beantragten Darlehen der (notwendige) Ausbau der Ortskanalisation und sohin allenfalls die Wahrnehmung einer Pflichtaufgabe (Abwasserentsorgung) der revisionswerbenden Gemeinde gefährdet sein könnte, anzustellen gewesen.

22 Das Verwaltungsgericht hat nach dem Gesagten das angefochtene Erkenntnis mit sekundären Feststellungsmängeln behaftet, weshalb es gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG wegen inhaltlicher Rechtswidrigkeit aufzuheben war.

23 Die Entscheidung über den Aufwandersatz gründet auf den §§ 47 ff VwGG iVm der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2014.

Wien, am