VwGH vom 12.10.2015, Ro 2015/22/0022
Spruch
Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Köhler, Hofrat Dr. Robl, Hofrätin Mag.a Merl und die Hofräte Dr. Mayr und Dr. Schwarz als Richter, im Beisein der Schriftführerin Mag.a Lechner, über die Revision der T W A M in Wien, vertreten durch Mag. Timo Gerersdorfer, Rechtsanwalt in 1100 Wien, Ettenreichgasse 9/10, gegen das Erkenntnis des Verwaltungsgerichts Wien vom , Zl. VGW- 151/080/21180/2014-21, betreffend Aufenthaltstitel (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Landeshauptmann von Wien),
1. den Beschluss gefasst:
Soweit sich die Revision gegen Spruchpunkt II. des angefochtenen Erkenntnisses richtet, wird sie zurückgewiesen.
2. zu Recht erkannt:
Spruchpunkt I. des angefochtenen Erkenntnisses wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.
Der Bund hat der Revisionswerberin Aufwendungen in der Höhe von EUR 1.106,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen. Das Mehrbegehren wird abgewiesen.
Begründung
Mit Bescheid des Landeshauptmannes von Wien vom wurde der Antrag der Revisionswerberin, einer jordanischen Staatsangehörigen, vom auf Erteilung eines Aufenthaltstitels "Rot-Weiß-Rot - Karte plus" gemäß § 46 Abs. 1 Z 2 Niederlassungs- und Aufenthaltsgesetz (NAG) wegen unzulässiger Inlandsantragstellung nach § 21 Abs. 1 NAG abgewiesen.
Die dagegen erhobene Beschwerde wurde mit dem angefochtenen Erkenntnis des Verwaltungsgerichtes abgewiesen (Spruchpunkt I.). Weiters wurden der Revisionswerberin die mit EUR 119,-- bestimmten Barauslagen für den zur mündlichen Verhandlung am beigezogenen nichtamtlichen Dolmetscher auferlegt (Spruchpunkt II.) und die ordentliche Revision gegen dieses Erkenntnis als zulässig erklärt (Spruchpunkt III.).
Begründend führte das Verwaltungsgericht im Wesentlichen aus, die Revisionswerberin sei im Besitz eines bis gültigen Reisepasses und am mit einem bis zum gültigen Visum D nach Österreich eingereist und danach in Österreich geblieben. Die Eltern der Revisionswerberin sowie drei volljährige Geschwister lebten in Wien; in Jordanien lebten noch Großeltern, Tanten und Onkel.
Die Revisionsweberin könne auf gute Deutschkenntnisse und einen arbeitsrechtlichen Vorvertrag für eine Tätigkeit als Verkäuferin in einem Möbelhandel verweisen. Sie leide seit ihrer Kindheit an Epilepsie mit "Grand Mal Anfällen", die mehrmals monatlich auftreten würden. Von einer Flugreise sei "aus ärztlicher Sicht zumindest bis zum Abschluss der Diagnostik und einer Anfallsfreiheit" abgeraten worden.
Seit sei die Revisionswerberin mit M.Y. verheiratet, der über einen bis gültigen Aufenthaltstitel "Rot-Weiß-Rot - Karte plus" gemäß § 41a Abs. 9 NAG verfüge. Mit Erkenntnis des Asylgerichtshofes vom sei der Asylantrag des Ehegatten abgewiesen sowie festgestellt worden, dass seine Ausweisung aus dem österreichischen Bundesgebiet gemäß Art. 8 EMRK auf Dauer unzulässig sei. M.Y. lebe seit 2005 in Österreich, sei staatenlos und stamme aus Ramallah. Von der Landespolizeidirektion Wien sei ihm ein bis gültiger Fremdenpass für staatenlose Personen ausgestellt worden, der auch für die Bundesrepublik Deutschland gültig sei. Der Ehegatte der Revisionswerberin leide seit seiner Jugend an einer "progressiven Augenerkrankung (Retinis pigmentosa und Makulaödem)".
In seiner rechtlichen Beurteilung führte das Verwaltungsgericht aus, im Hinblick auf den Zusatzantrag der Revisionswerberin gemäß § 21 Abs. 3 NAG sei zu prüfen gewesen, ob die von der Behörde zu Lasten der Revisionswerberin getroffene Abwägung gemäß § 11 Abs. 3 NAG rechtmäßig gewesen sei.
Bei der Revisionswerberin - so das Verwaltungsgericht weiter -
liege auf Grund ihrer Ehe mit einem in Österreich zum dauernden Aufenthalt berechtigten Fremden und der Tatsache, dass ihre Eltern und ihre Geschwister in Wien lebten, ein maßgebliches Familienleben vor, in das bei Verweigerung des Aufenthaltstitels eingegriffen würde.
Die Epilepsie der Revisionswerberin bestehe bereits seit ihrer Kindheit und sei vor ihrer Einreise nach Österreich aufgetreten. Dass die Behandlung ihrer Erkrankung in ihrem Herkunftsland nicht möglich sei, habe die Revisionswerberin nicht behauptet. Betreffend ihr Vorbringen, auf Begleitung angewiesen zu sein beziehungsweise nicht reisen zu können, ergebe sich aus den vorgelegten medizinischen Unterlagen nicht, dass die Revisionswerberin auf Dauer nicht mehr reisefähig sei. Insoweit eine Flugreise - bis zu einer Behandlung und Stabilisierung des Zustandes - vorübergehend nicht möglich sei, könne dies eine zu erlassende aufenthaltsbeendende Maßnahme vorübergehend unzulässig machen und einen Aufschiebegrund darstellen, jedoch kein integrationsbegründendes Merkmal bilden.
Die Revisionswerberin habe eine Umgehung der Aufenthaltsbestimmung von Anfang an in Kauf genommen und es sei das Argument, die Revisionswerberin könne sich nach der Tradition als alleinstehende Frau nicht ohne ihre Familie in Jordanien aufhalten, nicht nachvollziehbar, weil sonstige Verwandte der Revisionswerberin, wie Großeltern, Onkeln und Tanten weiterhin in Jordanien leben würden. Das von der Revisionswerberin ins Treffen geführte Familienleben mit ihrem Ehegatten bestehe erst seit Juni 2013 und sei zu einem Zeitpunkt gegründet worden, als sich die Revisionswerberin und ihr Ehegatte "ihres unsicheren Aufenthaltsstatus bewusst gewesen sein mussten". Die Augenerkrankung des Ehegatten stelle für ihn kein unerwartetes Ereignis dar und er sei auch bisher in der Lage gewesen, ein weitgehend selbstbestimmtes Leben zu führen. Dass ihm dies nunmehr nur mit Hilfe der selbst erkrankten Revisionswerberin möglich sei, werde zwar behauptet, aber nicht konkret begründet und ergebe sich auch nicht aus den "Pflegegeldakten".
Die Revisionswerberin weise zwar durch den arbeitsrechtlichen Vorvertrag gewisse Integrationsbemühungen nach, jedoch erscheine zumindest zweifelhaft, ob sie im Hinblick auf ihren Gesundheitszustand einer "Vollbeschäftigung" in Österreich nachgehen könnte.
Die nicht angezweifelten gesundheitlichen Beeinträchtigungen sowohl der Revisionswerberin als auch des zusammenführenden Ehegatten stellten zwar berücksichtigungswürdige Gründe dar, jedoch handle es sich in beiden Fällen um langjährige, teils nicht heilbare Erkrankungen, mit denen die Beteiligten bereits in ihren Herkunftsländern und vor Begründung des erst relativ kurz bestehenden Familienlebens in Österreich konfrontiert gewesen seien.
Da der Ehegatte aus den palästinensischen Autonomiegebieten Israel/Westjordanland stamme, gehe das Verwaltungsgericht im Hinblick auf die geographische Nähe zwischen dem Heimatland der Revisionswerberin und dem Herkunftsland ihres Ehegatten nicht davon aus, dass das Zusammenleben der Eheleute in Jordanien beziehungsweise im Westjordanland auf unüberwindbare Hindernisse stoßen würde.
Die Integration und die Bindungen der Revisionswerberin bei einem nicht einmal dreijährigen Aufenthalt in Österreich, der unrechtmäßig gewesen sei, und einer etwas mehr als einjährigen Ehe, würden sich nicht als derart intensiv erweisen, dass ein Anspruch auf eine rasche beziehungsweise sofortige Familienzusammenführung zur Abwendung eines unzulässigen Eingriffes in ein durch Art. 8 EMRK geschütztes Privat- und Familienleben bestünde.
Zur Zulässigkeit einer ordentlichen Revision hielt das Verwaltungsgericht abschließend fest, dass zum Aufenthaltsstatus eines Zusammenführenden im Bundesgebiet aufgrund einer auf Dauer unzulässigen Ausweisung und zur Frage, "ob die Staatenlosigkeit das Aufenthaltsrecht (des Ehegatten der Revisionswerberin) aus humanitären Gründen sowie die unterschiedliche Staatsangehörigkeit der Eheleute es den Beteiligten bereits unzumutbar" machen würde, "das Familienleben im Ausland beziehungsweise im Heimatland eines der Ehepartner fortzusetzen", Rechtsprechung fehle.
Gegen dieses Erkenntnis richtet sich die vorliegende ordentliche Revision, über die der Verwaltungsgerichtshof erwogen hat:
Der Verwaltungsgerichtshof ist bei der Beurteilung der Zulässigkeit der Revision nicht an den Ausspruch des Verwaltungsgerichts gebunden (§ 34 Abs. 1a VwGG). Er kann daher auch eine Revision annehmen, die von einer anderen in der Revision angesprochenen grundsätzlichen Rechtsfrage abhängt (vgl. das hg. Erkenntnis vom , Ro 2014/03/0078).
Die Revisionswerberin bringt vor, dass sie an schwerer Epilepsie leide, die ihr bei sonstiger Lebensgefahr Flugreisen verunmöglichte. Dazu stellte das Verwaltungsgericht unter Bezugnahme auf die von der Revisionswerberin vorgelegten medizinischen Unterlagen (u.a. einen nervenärztlichen und schmerztherapeutischen Befundbericht vom ) fest, dass sie "vorübergehend" nicht reisefähig sei und wertete dies als "kein integrationsbegründendes Merkmal".
Nach § 21 Abs. 3 Z 2 NAG kann die Behörde abweichend von Abs. 1 auf begründeten Antrag die Antragstellung im Inland zur Aufrechterhaltung des Privat- und Familienlebens im Sinn des Art. 8 EMRK (§ 11 Abs. 3 NAG) zulassen, wenn kein Erteilungshindernis gemäß § 11 Abs. 1 Z 1, 2 oder 4 NAG vorliegt und die Ausreise des Fremden aus dem Bundesgebiet zum Zweck der Antragstellung nachweislich nicht möglich oder nicht zumutbar ist. Bei der gemäß § 21 Abs. 3 Z 2 NAG vorzunehmenden Beurteilung nach Art. 8 EMRK ist unter Bedachtnahme auf alle Umstände des Einzelfalles eine gewichtende Abwägung des öffentlichen Interesses an der Versagung eines Aufenthaltstitels mit den gegenläufigen privaten und familiären Interessen, insbesondere unter Berücksichtigung der im § 11 Abs. 3 NAG genannten Kriterien in Form einer Gesamtbetrachtung vorzunehmen (vgl. das hg. Erkenntnis vom , 2013/22/0182, mwN). Eine Reiseunfähigkeit des Fremden bzw. seines Ehepartners ist in diese Abwägung einzubeziehen (vgl. das hg. Erkenntnis vom , 2009/21/0038).
Das Verwaltungsgericht stellte auf Grund der vorgelegten medizinischen Unterlagen im Rahmen des für die Beurteilung nach § 21 Abs. 3 NAG maßgeblichen Zeitpunktes der Erlassung der angefochtenen Entscheidung fest, dass der Revisionswerberin auf Grund ihres "derzeitigen" gesundheitlichen Zustandes die Ausreise nach Jordanien zum Zweck der Antragstellung unzumutbar sei. Vor dem Hintergrund, dass die Revisionswerberin gemäß dem fachärztlichen Befund vom bereits zu diesem Zeitpunkt nicht reisefähig war, ist die Berücksichtigung der Reiseunfähigkeit der Revisionswerberin als "bloß vorübergehende" im Rahmen der Abwägung nach § 21 Abs. 3 NAG unzureichend. Vielmehr hätte das Verwaltungsgericht Feststellungen zur konkreten Dauer der Reiseunfähigkeit der Revisionswerberin treffen müssen und diese in ihre Abwägung einzubeziehen gehabt. Einer in der Dauer nicht absehbaren Unmöglichkeit der Ausreise aus medizinischen Gründen wäre nämlich bei der Abwägung nach Art. 8 EMRK großes Gewicht beizumessen.
Spruchpunkt I. des angefochtenen Erkenntnisses war daher gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG bereits aus diesen Gründen wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufzuheben.
Zu Spruchunkt II. des angefochtenen Erkenntnisses führt die Revision aus, die Versagung des Aufenthaltstitels sei bereits im verwaltungsbehördlichen Verfahren rechtswidrig gewesen, sodass die Dolmetschkosten im gerichtlichen Verfahren durch die vor dem Verwaltungsgericht belangte Behörde verschuldet und von dieser zu tragen seien.
Damit zeigt die Revision keine Rechtsfrage grundsätzlicher Bedeutung auf, weil im gegenständlichen Fall die Verwaltungsbehörde nicht als Beteiligte im Sinne des § 76 Abs. 2 AVG verstanden werden kann (vgl. das hg. Erkenntnis vom , 2002/05/0658).
Die gegen Spruchpunkt II. gerichtete Revision war daher wegen Nichtvorliegen der Voraussetzungen des Art. 133 Abs. 4 B-VG mit Beschluss zurückzuweisen.
Die Kostenentscheidung beruht auf den §§ 47 ff VwGG iVm der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2014 BGBl. II Nr. 518/2013. Das auf Ersatz der Eingabegebühr gerichtete Mehrbegehren war abzuweisen, weil die Revisionswerberin im Rahmen der Verfahrenshilfe von der Entrichtung der Eingabegebühr befreit worden ist.
Wien, am