VwGH vom 17.03.2016, Ro 2015/22/0016

VwGH vom 17.03.2016, Ro 2015/22/0016

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Robl, Hofrätin Mag.a Merl sowie die Hofräte Dr. Mayr, Dr. Schwarz und Mag. Berger als Richter, im Beisein der Schriftführerin Mag.a Lechner, über die Revision der J F, vertreten durch Mag. Josef Phillip Bischof und Mag. Andreas Lepschi, Rechtsanwälte in 1090 Wien, Währinger Straße 26/1/3, gegen das Erkenntnis des Verwaltungsgerichtes Wien vom , VGW- 151/023/30732/2014-13, betreffend Aufenthaltstitel (belangte Behörde des Verfahrens vor dem Verwaltungsgericht: Landeshauptmann von Wien), zu Recht erkannt:

Spruch

Spruchpunkt I des angefochtenen Erkenntnisses wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.

Der Bund hat der Revisionswerberin Aufwendungen in der Höhe von EUR 1.346,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

1 Mit Spruchpunkt I des angefochtenen Erkenntnisses vom wies das Verwaltungsgericht Wien den Antrag der Revisionswerberin, einer chinesischen Staatsangehörigen, vom auf Erteilung eines Aufenthaltstitels "Rot-Weiß-Rot - Karte plus" gemäß § 41a Abs. 9 Niederlassungs- und Aufenthaltsgesetz (NAG) ab. In Spruchpunkt II wurde der Revisionswerberin der Ersatz bestimmter Dolmetscherkosten auferlegt.

Das Verwaltungsgericht stellte fest, dass die Revisionswerberin am illegal in das Bundesgebiet eingereist sei und in der Folge einen Asylantrag gestellt habe. Dieser Antrag sei mit Bescheid des Unabhängigen Bundesasylsenates vom abgewiesen worden, die Behandlung der dagegen erhobenen Beschwerde sei - nach Zuerkennung der aufschiebenden Wirkung - vom Verwaltungsgerichtshof abgelehnt worden. Die Revisionswerberin habe seit mit einem österreichischen Staatsbürger zusammengelebt, am habe sie diesen geehelicht, am sei der Ehemann verstorben. Die Revisionswerberin sei am in ihre Heimat gereist, habe dort einen Erstantrag auf Erteilung eines Aufenthaltstitels gestellt und sei nach Ausstellung eines Visums am wieder in das Bundesgebiet eingereist. Sie habe über vier Jahre hinweg als Saisonarbeiterin gearbeitet und einen Arbeitsvorvertrag vorgelegt. Sie verfüge über Kenntnisse der deutschen Sprache auf dem Niveau A2. Sie habe keine Angehörigen mehr in Österreich, verfüge über einen Freundeskreis und arbeite ehrenamtlich in einer buddhistischen Gemeinde.

In seinen rechtlichen Erwägungen verwies das Verwaltungsgericht auf den mehr als dreieinhalbjährigen unrechtmäßigen Aufenthalt der Revisionswerberin im Inland. Zwar habe die Revisionswerberin die lange Dauer des Asylverfahrens nicht zu verantworten, allerdings habe sie das Bundesgebiet trotz Vorliegen einer rechtskräftigen Ausweisung nicht verlassen. Zu ihren Gunsten sei die Ehe (und zuvor Lebensgemeinschaft) mit einem österreichischen Staatsbürger zu berücksichtigen, wobei die Ehe allerdings zu einem Zeitpunkt eingegangen worden sei, zu dem der Revisionswerberin die Unsicherheit ihres Aufenthaltes bewusst gewesen sein musste. Aktuell verfüge sie über keine familiären Bindungen in Österreich. Abgesehen von den zeitweiligen, schon länger zurückliegenden Beschäftigungsverhältnissen als Saisonarbeiterin sei sie keiner erlaubten Erwerbstätigkeit nachgegangen. Mit dem vorgelegten Arbeitsvorvertrag könne die geringe berufliche und soziale Integration nicht aufgewogen werden, zumal es zweifelhaft erscheine, ob die in Aussicht gestellte Anstellung effektuiert werden würde. Auch die ehrenamtliche Tätigkeit und der Freundeskreis "in der chinesischen Community" würden nicht zu einem Überwiegen der privaten Interessen führen. Die Deutschkenntnisse hätten sich in der mündlichen Verhandlung als rudimentär erwiesen.

Zur Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes zum zehnjährigen Inlandsaufenthalt von Fremden hielt das Verwaltungsgericht fest, dass die Revisionswerberin ihren Inlandsaufenthalt vor Ablauf der Zehnjahresfrist beendet habe; schon deswegen sei diese Judikatur nicht anwendbar. Diese Rechtsprechung beziehe sich nur auf einen durchgehenden Aufenthalt, nicht jedoch auf Fälle mehrerer zeitlich begrenzter Aufenthalte, mittels derer ein Zeitraum von zehn Jahren "angespart" werde.

Im Hinblick auf die dargestellten Umstände gelangte das Verwaltungsgericht bei seiner Interessenabwägung zum Ergebnis, dass das persönliche Interesse der Revisionswerberin an einem Verbleib im Bundesgebiet nicht stärker zu gewichten sei als das öffentliche Interesse an der Einhaltung fremdenrechtlicher Vorschriften.

Da es keine Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes zur Frage gebe, ob bei einem insgesamt zehnjährigen Aufenthalt auch dann regelmäßig von einem Überwiegen der persönlichen Interessen des Fremden an einem Verbleib in Österreich auszugehen sei, wenn der Aufenthalt über mehrere Monate unterbrochen worden sei und somit kein durchgehender zehnjähriger Aufenthalt vorliege, erklärte das Verwaltungsgericht die Revision an den Verwaltungsgerichtshof für zulässig (Spruchpunkt III).

2 Gegen dieses Erkenntnis richtet sich die vorliegende Revision.

Die Revisionswerberin erachtet die Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes zum regelmäßigen Überwiegen der persönlichen Interessen bei einem mehr als zehnjährigen Inlandsaufenthalt auch in einer Konstellation wie der vorliegenden für anwendbar, in der die Revisionswerberin nach neun Jahren Aufenthalt im Bundesgebiet diesen Aufenthalt für wenige Monate unterbrochen hat, um dem Erfordernis der Auslandsantragstellung nachzukommen, und in der sie nach rechtmäßiger Wiedereinreise ihren Aufenthalt in Österreich fortgesetzt hat.

Der Verwaltungsgerichtshof hat erwogen:

3 Vorauszuschicken ist zunächst, dass sich die vorliegende Revision - ungeachtet dessen, dass im Antrag undifferenziert von der angefochtenen Entscheidung gesprochen wird - im Hinblick auf die Ausführungen zum Revisionspunkt und zu den Revisionsgründen erkennbar nur auf die Abweisung des Antrags auf Erteilung des beantragten Aufenthaltstitels (Spruchpunkt I), nicht hingegen auf den auferlegten Ersatz der Dolmetscherkosten (Spruchpunkt II) bezieht.

4 Nach ständiger Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes zur Interessenabwägung gemäß Art. 8 EMRK ist bei einem mehr als zehn Jahre dauernden inländischen Aufenthalt des Fremden regelmäßig von einem Überwiegen der persönlichen Interessen an einem Verbleib in Österreich auszugehen. Nur dann, wenn der Fremde die in Österreich verbrachte Zeit überhaupt nicht genützt hat, um sich sozial und beruflich zu integrieren, wurden etwa Aufenthaltsbeendigungen ausnahmsweise auch nach so langem Inlandsaufenthalt noch für verhältnismäßig angesehen. Diese Rechtsprechung zu Art. 8 EMRK ist auch für die Erteilung von Aufenthaltstiteln relevant (vgl. die Erkenntnisse vom , Ra 2015/22/0025, und vom , 2013/22/0270). Auch in Fällen, in denen die Aufenthaltsdauer knapp unter zehn Jahren lag, hat der Verwaltungsgerichtshof eine entsprechende Berücksichtigung dieser langen Aufenthaltsdauer gefordert (siehe die Erkenntnisse vom , 2012/22/0169, vom , 2013/22/0247, und vom , 2013/22/0226).

5 Der Verwaltungsgerichtshof hat sich bereits einmal mit einer Sachverhaltskonstellation befasst, in der ein insgesamt mehr als zehnjähriger Inlandsaufenthalt für einige Monate unterbrochen gewesen war (siehe das Erkenntnis vom , Ra 2014/22/0078 bis 0082). Das Verwaltungsgericht hatte dem dort angefochtenen Erkenntnis die Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes zum regelmäßigen Überwiegen der persönlichen Interessen an einem Verbleib in Österreich bei einem mehr als zehnjährigen Inlandsaufenthalt des Fremden zugrunde gelegt. Der Verwaltungsgerichtshof hat es zwar nicht beanstandet, dass das Verwaltungsgericht dabei den Umstand der zwischenzeitigen Ausreise der revisionswerbenden Parteien mitberücksichtigt hat. Allerdings vermochte der Verwaltungsgerichtshof die (nicht näher begründete) Auffassung des Verwaltungsgerichtes, die (dort) Zweitrevisionswerberin habe die in Österreich verbrachte Zeit überhaupt nicht genutzt, um sich zu integrieren, im Hinblick auf näher dargestellte Umstände nicht zu teilen und hob das angefochtene Erkenntnis wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes auf. Damit hat der Verwaltungsgerichtshof aber die Maßgeblichkeit seiner Judikatur zum regelmäßigen Überwiegen der persönlichen Interessen an einem Verbleib in Österreich bei einem mehr als zehnjährigen Inlandsaufenthalt des Fremden auch für Fälle eines einmalig für wenige Monate unterbrochenen Inlandsaufenthaltes von insgesamt mehr als zehn Jahren der Sache nach anerkannt.

6 Der Verwaltungsgerichtshof vermag daher die Auffassung des Verwaltungsgerichtes, die angeführte hg. Rechtsprechung erfasse jedenfalls nur Fälle eines durchgehenden mehr als zehnjährigen Inlandsaufenthaltes, nicht zu teilen. Das Verwaltungsgericht wäre daher im vorliegenden Fall, der hinsichtlich der zeitlichen Parameter mit der dem Erkenntnis Ra 2014/22/0078 bis 0082 zugrunde liegenden Konstellation vergleichbar ist, gehalten gewesen, die Interessenabwägung auf der Grundlage des in Rz. 4 dargestellten Maßstabes durchzuführen.

7 Der Vollständigkeit halber wird darauf hingewiesen, dass dafür - in einer Konstellation wie der vorliegenden - auch eindeutige Feststellungen zum Vorliegen oder Nichtvorliegen entsprechender Deutschkenntnisse sowie dazu erforderlich gewesen wären, ob der vorgelegte Vorvertrag anerkannt werden könne oder nicht.

8 Da das Verwaltungsgericht die Interessenabwägung nicht anhand des vom Verwaltungsgerichtshof für die Fälle einer mehr als zehnjährigen Aufenthaltsdauer entwickelten Maßstabes vorgenommen hat, hat es das angefochtene Erkenntnis mit Rechtswidrigkeit seines Inhaltes belastet. Der davon betroffene Spruchpunkt I dieses Erkenntnisses war daher gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG aufzuheben.

9 Von der Durchführung der beantragten Verhandlung konnte gemäß § 39 Abs. 2 Z 5 VwGG abgesehen werden.

10 Die Entscheidung über den Aufwandersatz stützt sich auf die §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2014, BGBl. II Nr. 518/2013.

Wien, am