VwGH vom 20.12.2012, 2011/23/0515

VwGH vom 20.12.2012, 2011/23/0515

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Stöberl sowie die Hofräte Dr. Sulzbacher, Mag. Haunold, Mag. Feiel und Dr. Mayr als Richter, im Beisein der Schriftführerin Mag. Pitsch, über die Beschwerde des W in W, vertreten durch Dr. Wolfgang Rainer, Rechtsanwalt in 1010 Wien, Schwedenplatz 2/74, gegen den Bescheid der Sicherheitsdirektion für das Bundesland Wien vom , Zl. SD 718/06, betreffend Erlassung eines befristeten Aufenthaltsverbotes, zu Recht erkannt:

Spruch

Der angefochtene Bescheid wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.

Der Bund hat dem Beschwerdeführer Aufwendungen in der Höhe von EUR 1.106,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

Der Beschwerdeführer, ein jordanischer Staatsangehöriger, ist seit im Bundesgebiet behördlich gemeldet und heiratete am die österreichische Staatsbürgerin B. Im Hinblick auf diese Ehe erhielt er eine Niederlassungsbewilligung "Familiengemeinschaft mit Österreicher", gültig bis zum , die in der Folge mehrfach verlängert wurde. Seit dem verfügt er über einen Niederlassungsnachweis. Am wurde die Ehe des Beschwerdeführers rechtskräftig geschieden.

Bereits zuvor war der Beschwerdeführer mit Urteil des Landesgerichtes für Strafsachen Wien vom wegen des Vergehens der versuchten Nötigung nach den §§ 15, 105 Abs. 1 StGB und des Vergehens der Körperverletzung nach § 83 Abs. 1 StGB zu einer bedingt nachgesehenen Freiheitsstrafe in der Dauer von drei Monaten rechtskräftig verurteilt worden. Dem gerichtlichen Schuldspruch zufolge hatte der Beschwerdeführer am einen Dritten mit Gewalt (und zwar durch das Versetzen von Schlägen gegen dessen Mobiltelefon, versuchte Fußtritte und eine entsprechende Äußerung) zur Unterlassung einer polizeilichen Anzeigeerstattung zu nötigen versucht. Weiters hatte er dabei zwei Personen durch das Versetzen von Schlägen bzw. durch Niederreißen Hautabschürfungen und Kratzer zugefügt.

Mit Urteil des Landesgerichtes Korneuburg vom wurde der Beschwerdeführer wegen des Verbrechens der kriminellen Organisation nach § 278a StGB und des Verbrechens der Schlepperei nach § 104 Abs. 1 und 3 erster und zweiter Fall des Fremdengesetzes 1997 (FrG) zu einer Freiheitsstrafe in der Dauer von zehn Monaten rechtskräftig verurteilt. Dem gerichtlichen Schuldspruch zufolge hat sich der Beschwerdeführer in der Zeit vom bis an einer auf längere Zeit angelegten unternehmensähnlichen Verbindung einer großen Zahl von Personen, die auf die wiederkehrende Begehung schwerwiegender strafbarer Handlungen im Bereich der Schlepperei ausgerichtet war, als Mitglied beteiligt. Im genannten Zeitraum hat er im Zusammenwirken mit anderen jedenfalls zehn Mal als Fahrer insgesamt zumindest 40 Personen gegen ein Entgelt von EUR 250,-- bis EUR 300,-- pro Person nach Italien, Deutschland und Belgien geschleppt sowie "schlepperrelevante Telefongespräche" mit einem Mittäter geführt. Das Strafgericht wertete die Vielzahl der strafbaren Handlungen und das Zusammentreffen zweier Verbrechen als erschwerend, hingegen das reumütige und umfassende Geständnis als mildernd.

Im Hinblick auf diese Verurteilungen erließ die Bundespolizeidirektion Wien mit Bescheid vom gegen den Beschwerdeführer gemäß § 60 Abs. 1 iVm Abs. 2 Z 1 des Fremdenpolizeigesetzes 2005 (FPG) ein auf die Dauer von zehn Jahren befristetes Aufenthaltsverbot.

Mit dem angefochtenen Bescheid vom gab die belangte Behörde der dagegen erhobenen Berufung keine Folge und bestätigte den erstinstanzlichen Bescheid.

Die belangte Behörde führte zunächst aus, dass der in § 60 Abs. 2 Z 1 FPG normierte Tatbestand verwirklicht sei. Das dargestellte Gesamtfehlverhalten des Beschwerdeführers beeinträchtige die öffentliche Ordnung und Sicherheit (hier: das öffentliche Interesse an der Verhinderung der Schlepperkriminalität) in erheblichem Ausmaß, sodass die Voraussetzungen zur Erlassung des Aufenthaltsverbotes im Grunde des § 60 Abs. 1 FPG gegeben seien. Eine Verhaltensprognose könne nicht zugunsten des Beschwerdeführers gestellt werden, zumal er seine wiederkehrenden Straftaten gewerbsmäßig und mit hoher krimineller Energie begangen habe.

In Ansehung des § 66 FPG verwies die belangte Behörde auf den knapp zehnjährigen Aufenthalt des Beschwerdeführers in Österreich und auf seine familiären Bindungen zu seinem Bruder (einem österreichischen Staatsbürger), mit dem er aber nicht im gemeinsamen Haushalt lebe. Vor diesem Hintergrund sei mit dem Aufenthaltsverbot zwar ein Eingriff in sein "Privat- bzw. Familienleben" verbunden. Dieser Eingriff sei aber zur Erreichung der im Art. 8 Abs. 2 EMRK genannten Ziele (hier: zur Verhinderung weiterer strafbarer Handlungen und zur Aufrechterhaltung eines geordneten Fremdenwesens) dringend geboten. Eine allfällige, aus dem bisherigen Aufenthalt des Beschwerdeführers im Bundesgebiet ableitbare Integration sei insofern gemindert, als die dafür erforderliche soziale Komponente durch das massive strafbare Verhalten des Beschwerdeführers erheblich beeinträchtigt werde. Es könne auch nicht von einer beruflichen Integration ausgegangen werden, zumal der Beschwerdeführer derzeit keiner Beschäftigung nachgehe und in den letzten Jahren lediglich fünfmal - jeweils nur für wenige Wochen - als Arbeiter (teilweise geringfügig) beschäftigt gewesen sei. Den somit geschmälerten privaten und familiären Interessen des Beschwerdeführers stünden die genannten, hoch zu veranschlagenden öffentlichen Interessen gegenüber. Bei Abwägung dieser gegenläufigen Interessen kam die belangte Behörde zum Ergebnis, dass die Auswirkungen des Aufenthaltsverbotes auf die Lebenssituation des Beschwerdeführers keinesfalls schwerer wiegen würden als die nachteiligen Folgen der Abstandnahme von seiner Erlassung.

Im Hinblick auf die Art und Schwere der dem Beschwerdeführer zur Last liegenden Straftaten könne von der Erlassung des Aufenthaltsverbotes - so die belangte Behörde weiter - auch nicht im Rahmen des zustehenden Ermessens Abstand genommen werden. Ein Wegfall der vom Beschwerdeführer ausgehenden Gefährdung der öffentlichen Ordnung und Sicherheit könne nicht vor Verstreichen des festgesetzten Zeitraumes (von zehn Jahren) erwartet werden.

Gegen diesen Bescheid richtet sich die vorliegende Beschwerde, über die der Verwaltungsgerichtshof nach Vorlage der Verwaltungsakten und Erstattung einer Gegenschrift durch die belangte Behörde erwogen hat:

Vorauszuschicken ist, dass der Verwaltungsgerichtshof den angefochtenen Bescheid auf Basis der Sach- und Rechtslage zum Zeitpunkt seiner Erlassung zu überprüfen hat. Wird daher im Folgenden auf Bestimmungen des FPG Bezug genommen, so handelt es sich dabei um die im April 2009 geltende Fassung.

Der Beschwerdeführer verfügte ab Februar 2004 über einen Niederlassungsnachweis (nach § 24 FrG), der gemäß § 11 Abs. 1 Abschnitt C lit. a und b der Niederlassungs- und Aufenthaltsgesetz-Durchführungsverordnung mit Inkrafttreten des Niederlassungs- und Aufenthaltsgesetzes am als Aufenthaltstitel "Daueraufenthalt - EG" bzw. "Daueraufenthalt - Familienangehöriger" weiter galt. Im Hinblick darauf hätte gegen ihn ein Aufenthaltsverbot nur bei Vorliegen der Voraussetzungen des - im Wege des § 61 Z 2 FPG anzuwendenden - § 56 Abs. 1 FPG erlassen werden dürfen.

Die belangte Behörde hat das gegenständliche Aufenthaltsverbot hingegen lediglich auf § 60 Abs. 1 (iVm Abs. 2 Z 1) FPG gestützt und dementsprechend nur das Vorliegen einer Gefährdung der öffentlichen Ordnung und Sicherheit geprüft. Demgegenüber verlangt der (in Umsetzung der Richtlinie 2003/109/EG betreffend die Rechtsstellung der langfristig aufenthaltsberechtigten Drittstaatsangehörigen erlassene) § 56 Abs. 1 FPG ein deutlich höheres Gefährdungsmaß, nämlich dass der weitere Aufenthalt des Fremden eine (gegenwärtige, hinreichend) schwere Gefahr für die öffentliche Ordnung oder Sicherheit darstellen würde (siehe dazu etwa das Erkenntnis vom , Zl. 2011/23/0165; vgl. grundlegend zum System der abgestuften Gefährdungsprognosen im FPG das Erkenntnis vom , Zl. 2008/21/0603). Die gebotene Prüfung des Fehlverhaltens des Beschwerdeführers an diesem Maßstab hat die belangte Behörde allerdings unterlassen.

Daran vermag im vorliegenden Fall auch der Umstand nichts zu ändern, dass der Beschwerdeführer wegen der Verbrechen der kriminellen Organisation und der Schlepperei rechtskräftig verurteilt wurde und damit der Tatbestand des § 56 Abs. 2 Z 1 FPG, der wiederum eine schwere Gefahr iSd § 56 Abs. 1 FPG indiziert, erfüllt ist (vgl. auch das Erkenntnis vom , Zl. 2009/21/0074). Der Beschwerdeführer weist diesbezüglich nämlich zu Recht darauf hin, dass seit Begehung seiner Straftaten im Hinblick auf die Dauer des Berufungsverfahrens von fast drei Jahren bei Erlassung des angefochtenen Bescheides bereits (hinsichtlich der Körperverletzung:) siebeneinhalb bzw. (hinsichtlich der Schlepperei:) knapp viereinhalb Jahre vergangen sind. Auch die Haftentlassung lag zu diesem Zeitpunkt schon knapp dreieinhalb Jahre zurück. Auf diese Umstände hat die belangte Behörde im angefochtenen Bescheid nicht Bedacht genommen. Die vom Beschwerdeführer im Jahr 2001 begangene Nötigung und Körperverletzung vermag im Hinblick darauf, dass dem Beschwerdeführer ungeachtet dessen danach noch der Niederlassungsnachweis erteilt wurde und ihm kein weiteres Gewaltdelikt anzulasten ist, keine relevante Vergrößerung einer aktuellen Gefährdung öffentlicher Interessen zu bewirken.

Schon deshalb war der angefochtene Bescheid gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufzuheben.

Die Entscheidung über den Aufwandersatz stützt sich auf die §§ 47 ff VwGG iVm der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2008.

Wien, am