VwGH vom 27.01.2010, 2009/16/0087
Betreff
Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Steiner und die Hofräte Dr. Mairinger, Dr. Köller, Dr. Thoma und Dr. Zehetner als Richter, im Beisein des Schriftführers Mag. Trefil, über die Beschwerde der CO in D, vertreten durch Dr. Bernhard Ess, Rechtsanwalt in 6800 Feldkirch, Hirschgraben 14, gegen den Bescheid des Unabhängigen Finanzsenates vom , GZ. RV/0053-F/05, betreffend Gewährung von Familienbeihilfe, zu Recht erkannt:
Spruch
Der angefochtene Bescheid wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.
Der Bund hat der Beschwerdeführerin Aufwendungen in der Höhe von EUR 1.106,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.
Begründung
Die am geborene Beschwerdeführerin beantragte im März 2002 durch ihren damaligen Sachwalter "rückwirkend" die Gewährung der Familienbeihilfe. Dabei gab sie an, seit ihrer Geburt erheblich behindert, beschäftigungslos und überdies Halbwaise zu sein.
Dem Antrag war eine ärztliche Bescheinigung vom beigelegt, wonach bei der Beschwerdeführerin eine seit der Geburt bestehende "ausgeprägte mentale und wahrnehmungsmäßige Behinderung, die einem Entwicklungsstand von ca. 6 bis 8 Jahren entspricht" vorliege. Weiters wurde der Grad der Behinderung seit der Geburt mit mehr als 50 v. H. angegeben und bestätigt, dass die Beschwerdeführerin voraussichtlich dauernd außer Stande sei, sich selbst den Unterhalt zu verschaffen.
Mit dem angefochtenen Bescheid wurde im Instanzenzug der Antrag für die Zeit ab abgewiesen. Begründend führte die belangte Behörde aus, die Beschwerdeführerin beziehe eine Waisenpension, Ausgleichszulage und Pflegegeld der Stufe 2. Der damalige Sachwalter der Beschwerdeführerin habe angegeben, dass sie sich seit ihrem Auszug aus einer betreuten Wohngemeinschaft im April 1998 alle mit der Lebenshaltung verbundenen Kosten (Miete, Betriebskosten, Strom, Versicherung, Essen) selbst finanziere und seitdem auch die Wohnbeihilfe von monatlich EUR 178,70 erhalte. Ohne Berücksichtigung des Pflegegeldes blieben ihr monatlich insgesamt rund EUR 400,-- für die Bestreitung des Unterhaltes übrig. Es sei daher davon auszugehen, "dass der überwiegende Teil der eigenen Einkünfte der Bw für deren Unterhalt ausgegeben wurden und insoweit kein Unterhaltsanspruch mehr gegeben war". Für den Eigenanspruch des Kindes auf Familienbeihilfe sei maßgeblich, ob Eltern den Unterhalt für das Kind überhaupt noch überwiegend leisten müssen. Da die Beschwerdeführerin "die ihren Lebensverhältnissen angemessenen Bedürfnisse unbestrittenermaßen aus eigenen Einkünften überwiegend selbst decken konnte", vermindere sich der Unterhaltsanspruch gegenüber der Mutter als Elternteil entsprechend bzw. falle gänzlich weg. Unbeachtlich sei jedenfalls, ob die Mutter Unterhalt leiste oder nicht. Ausschlaggebend sei einzig und allein, dass die Beschwerdeführerin selbst überwiegend für ihren Unterhalt aufkomme und daher die Mutter als Elternteil den Unterhalt für ihr Kind nicht überwiegend bzw. überhaupt nicht leisten brauche.
Gegen diesen Bescheid richtet sich die vorliegende Beschwerde. Die Beschwerdeführerin erachtet sich in ihrem Recht auf Gewährung der Familienbeihilfe ab verletzt. Sie beantragt die Aufhebung wegen Rechtswidrigkeit des Inhaltes, in eventu Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften.
Die belangte Behörde erstattete eine Gegenschrift, in welcher sie die kostenpflichtige Abweisung der Beschwerde beantragt.
Der Verwaltungsgerichtshof hat erwogen:
Gemäß § 6 Abs. 5 FLAG in der Fassung BGBl. Nr. 296/1981 hatten Kinder, deren Eltern ihrer Unterhaltspflicht nicht nachkommen und die sich nicht auf Kosten der Jugendwohlfahrtspflege oder der Sozialhilfe in Heimerziehung befinden, unter denselben Voraussetzungen Anspruch auf Familienbeihilfe, unter denen eine Vollwaise Anspruch auf Familienbeihilfe hat (Abs. 1 bis 3).
Mit der Novelle BGBl. Nr. 311/1992 wurde der Wortlaut der genannten Bestimmung dahingehend geändert, dass die Nichterfüllung der Unterhaltspflicht durch das Nichtleisten des überwiegenden Unterhalts durch die Eltern ersetzt wurde.
Nach dieser im Beschwerdefall anzuwendenden Fassung des § 6 Abs. 5 FLAG haben somit Kinder, deren Eltern ihnen nicht überwiegend Unterhalt leisten und die sich nicht auf Kosten der Jugendwohlfahrtspflege oder der Sozialhilfe in Heimerziehung befinden, unter denselben Voraussetzungen Anspruch auf Familienbeihilfe, unter denen eine Vollwaise Anspruch auf Familienbeihilfe hat (Abs. 1 bis 3).
Der Wortlaut dieser Fassung des § 6 Abs. 5 FLAG legt bereits nahe, dass es ausschließlich auf das tatsächliche (überwiegende) Leisten oder Nichtleisten von Unterhalt durch die Eltern ankommen soll und zwar nunmehr unabhängig davon, ob diese eine Unterhaltspflicht trifft oder ob die allfällige Leistung eines Unterhalts freiwillig, d. h. ohne rechtliche Verpflichtung, erfolgt.
Eine andere Deutung dieser Bestimmung würde zu dem gleichheitswidrigen Ergebnis führen, dass beispielsweise einer Person, die wegen einer vor Vollendung des 21. Lebensjahres oder während einer späteren Berufsausübung, jedoch spätestens vor Vollendung des 27. Lebensjahres, eingetretenen körperlichen oder geistigen Behinderung voraussichtlich dauernd außer Stande ist, sich selbst den Unterhalt zu verschaffen, und die sich in keiner Anstaltspflege befindet (vgl. § 6 Abs. 2 lit. d FLAG), kein Eigenanspruch auf Familienbeihilfe zustünde, wenn sie ein zu versteuerndes jährliches Einkommen hätte, das zwar die in § 6 Abs. 3 FLAG genannte Grenze nicht übersteigt, das aber dennoch eine Höhe erreicht, bei welcher wegen Selbsterhaltungsfähigkeit von keinem Unterhaltsanspruch gegenüber den Eltern ausgegangen werden kann, während bei derselben Sachlage derselben Person, wäre sie Vollwaise (§ 6 Abs. 4 FLAG), ein solcher Eigenanspruch zustünde.
Ist eine verfassungskonforme Auslegung möglich, dann ist diese vorzunehmen, selbst dann, wenn in den Materialien entgegenstehende Aussagen enthalten sind (vgl. das hg. Erkenntnis vom , Zl. 2006/11/0222, welches auf das Erkenntnis des Verfassungsgerichtshofes vom , VfSlg. 15.199, verweist).
Daraus folgt für den Beschwerdefall, dass der Auslegung, wonach es bei der Anwendung des § 6 Abs. 5 FLAG auf das Bestehen einer Unterhaltspflicht der Eltern gegenüber dem Kind nicht ankommt, der Vorzug zu geben ist.
Anzumerken ist, dass der Verwaltungsgerichtshof in seinen Erkenntnissen vom , Zl. 95/13/0007, , Zl. 93/14/0051, , Zl. 95/14/0066, , Zl. 99/14/0320, , 2000/15/0219, , Zl. 2001/14/0165 und Zl. 2001/14/0172, sowie vom , Zl. 2002/15/0181, zwar davon ausgegangen ist, dass ein aufrechter Unterhaltsanspruch des Kindes gegenüber seinen Eltern auch eine Voraussetzung der Anwendbarkeit der Bestimmung des § 6 Abs. 5 FLAG idF BGBl. Nr. 311/1992 ist. Es bedarf aber im Beschwerdefall keiner Entscheidung eines verstärkten Senates im Grunde des § 13 Abs. 1 Z 1 VwGG, weil die genannten Erkenntnisse zu einer Rechtslage ergangen sind, welche vor jener lag, die im Beschwerdefall anzuwenden ist. § 6 Abs. 3 FLAG, der auf Grund des Verweises in § 6 Abs. 5 FLAG als Teil dieser Bestimmung anzusehen ist, wurde nämlich durch die Novellen der Bundesgesetze BGBl. I Nr. 142/2000 mit Wirkung ab und BGBl. I Nr. 68/2001 mit Wirkung ab neu gefasst.
Von den im § 6 Abs. 5 FLAG verwiesenen allgemeinen Anspruchsvoraussetzungen nach Abs. 1 bis 3 kommt im Beschwerdefall jene des § 6 Abs. 2 lit. d FLAG in Betracht. § 6 Abs. 2 lit. d FLAG räumt volljährigen Vollwaisen Anspruch auf Familienbeihilfe ein, wenn sie wegen einer vor Vollendung des 21. Lebensjahres oder während einer späteren Berufsausübung, jedoch spätestens vor Vollendung des 27. Lebensjahres, eingetretenen körperlichen oder geistigen Behinderung voraussichtlich dauernd außer Stande sind, sich selbst den Unterhalt zu verschaffen, und sich in keiner Anstaltspflege befinden.
Unstrittig ist im Beschwerdefall, dass die Voraussetzungen des § 6 Abs. 2 lit. d FLAG erfüllt sind. Es ist daher in der Folge zu prüfen, ob das Einkommen der Beschwerdeführerin die in § 6 Abs. 3 FLAG genannte Grenze übersteigt, weil in diesem Fall den volljährigen Vollwaisen und jenen Personen, die diesen gleichgestellt sind, kein Eigenanspruch auf Familienbeihilfe zukommt.
§ 6 Abs. 3 FLAG lautet in der im Beschwerdefall anzuwendenden Fassung der Novelle BGBl. I Nr. 68/2001:
"(3) Für ein Kalenderjahr, das nach dem Kalenderjahr liegt, in dem die Vollwaise das 18. Lebensjahr vollendet hat und in dem sie ein zu versteuerndes Einkommen (§ 33 Abs. 1 EStG 1988) bezogen hat, das den Betrag von 8 725 Euro übersteigt, besteht kein Anspruch auf Familienbeihilfe, wobei § 10 Abs. 2 nicht anzuwenden ist. Bei der Ermittlung des zu versteuernden Einkommens der Vollwaise bleiben außer Betracht:
a) das zu versteuernde Einkommen, das vor oder nach
Zeiträumen erzielt wird, für die Anspruch auf Familienbeihilfe
besteht; hiebei bleibt das zu versteuernde Einkommen für Zeiträume
nach § 2 Abs. 1 lit. d unberücksichtigt,
b) Entschädigungen aus einem anerkannten Lehrverhältnis,
c) Waisenpensionen und Waisenversorgungsgenüsse."
Im Beschwerdefall hat aber die belangte Behörde keine Feststellungen getroffen, aus denen auf ein den Betrag von EUR 8.725 übersteigendes jährliches Einkommen der Beschwerdeführerin geschlossen werden könnte. Vielmehr hat sie den Anspruch der Beschwerdeführerin auf Eigenbezug von Familienbeihilfe lediglich mit der Begründung verneint, dass diese keinen aufrechten Unterhaltsanspruch gegenüber ihrer Mutter besitze. Nach den obigen Ausführungen kommt es aber auf das Vorliegen eines solchen Anspruches nicht an.
Der angefochtene Bescheid war daher gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufzuheben.
Die Kostenentscheidung stützt sich auf die §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der Verordnung BGBl. II Nr. 455/2008, insbesondere deren § 3 Abs. 2.
Wien, am