VwGH vom 19.05.2015, Ro 2015/21/0004
Betreff
Der Verwaltungsgerichtshof hat durch die Vorsitzende Vizepräsidentin Dr.in Sporrer und die Hofräte Dr. Pelant, Dr. Sulzbacher und Dr. Pfiel sowie die Hofrätin Dr. Julcher als Richterinnen und Richter, im Beisein des Schriftführers Mag. Klammer, über die Revision des A M in W, vertreten durch die Beneder Rechtsanwalts GmbH in 1010 Wien, Franz-Josefs-Kai 27/DG/9, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom , Zl. W226 2013194-1/3E, betreffend Schubhaft,
1. den Beschluss gefasst:
Soweit sich die Revision gegen Spruchpunkt A.I. des angefochtenen Erkenntnisses richtet, wird sie als gegenstandslos geworden erklärt und das Verfahren eingestellt.
2. zu Recht erkannt:
Spruch
Das angefochtene Erkenntnis wird im Übrigen wegen Rechtswidrigkeit seines Inhalts aufgehoben.
Der Bund hat dem Revisionswerber Aufwendungen in der Höhe von EUR 1.106,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.
Begründung
Der Revisionswerber, ein Staatsangehöriger von Somalia, stellte am einen Antrag auf internationalen Schutz, nachdem er von Italien kommend in das Bundesgebiet eingereist war.
Mit sofort in Vollzug gesetztem Mandatsbescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl (BFA) vom wurde über ihn gemäß Art. 28 der Dublin III-Verordnung iVm § 76 Abs. 2a Z 2 Fremdenpolizeigesetz 2005 - FPG die Schubhaft zum Zweck der Sicherung des Verfahrens zur Erlassung einer Anordnung zur Außerlandesbringung und der Sicherung der Abschiebung angeordnet.
In der Begründung dieses Bescheides stellte das BFA fest, dem Revisionswerber sei am gemäß § 29 Abs. 3 Z 4 AsylG 2005 mitgeteilt worden, dass beabsichtigt sei, seinen Antrag auf internationalen Schutz gemäß § 5 AsylG 2005 zurückzuweisen, da die Zuständigkeit Italiens gegeben sei. Am sei er in einem Zug von Wien nach Salzburg kontrolliert worden. Da er die Gebietsbeschränkung nach § 12 Abs. 2 AsylG 2005 verletzt habe, sei er mittels Festnahmeauftrags gemäß § 34 Abs. 3 Z 1 BFA-Verfahrensgesetz (BFA-VG) festgenommen worden.
Das BFA gab sodann § 76 Abs. 2a FPG sowie den Inhalt des Art. 28 der Dublin III-Verordnung wieder. Als Fluchtgefahr definiere Art. 2 lit. n der Dublin III-Verordnung das Vorliegen von Gründen im Einzelfall, die auf objektiven gesetzlichen Kriterien beruhen und zu der Annahme Anlass geben, dass sich ein zu überstellender Fremder dem Verfahren möglicherweise durch Flucht entziehen könnte. Zwar dürften die Mitgliedstaaten unionsrechtliche Verordnungen grundsätzlich nicht in ihrer Tragweite ändern oder ergänzen, eine Ausnahme bestehe jedoch dort, wo die Verordnung selbst eine nähere Konkretisierung verlange. Dies sei in Art. 2 lit. n der Dublin III-Verordnung hinsichtlich der Kriterien für das Vorliegen von Fluchtgefahr erfolgt. Solche Kriterien sehe § 76 FPG vor.
Beim Revisionswerber liege auf Grund seiner Wohn- und Familiensituation, seiner gänzlich fehlenden sonstigen Verankerung in Österreich, seines bisherigen Verhaltens und seines für ihn negativ zu beendenden Asylverfahrens ein Risiko des Untertauchens vor. Schon bei der Stellung seines Antrages auf internationalen Schutz habe er die Behörde über sein tatsächliches Alter getäuscht. Nicht einmal nach einem Vorhalt und konkreter Nachfrage habe er sein tatsächliches Alter bekanntgegeben. Eine Ladung zur Altersfeststellung für den habe er nicht befolgt. Er habe gegen die Gebietsbeschränkung verstoßen.
Die Prüfung der Verhältnismäßigkeit und Notwendigkeit der Schubhaft habe ergeben, dass das private Interesse des Revisionswerbers an der Schonung seiner persönlichen Freiheit gegenüber dem Interesse des Staates am reibungslosen Funktionieren der öffentlichen Verwaltung hintanzustehen habe.
Mit einem gelinderen Mittel könne nicht das Auslangen gefunden werden. Dies ergebe sich aus dem Vorverhalten des Revisionswerbers wie der Täuschung über sein wirkliches Alter, der Nichtbefolgung einer Ladung und der Verletzung der Gebietsbeschränkung. Es könne nicht davon ausgegangen werden, dass er sich an eine behördliche Anordnung, etwa eine bekannte Unterkunft nicht zu verlassen bzw. Meldepflichten zu erfüllen, halten werde, weil er ja auch gegen die auferlegte Gebietsbeschränkung verstoßen habe.
Gegen diesen Bescheid, die Anordnung der Schubhaft und die andauernde Anhaltung in Schubhaft erhob der Revisionswerber gemäß § 22a Abs. 1 Z 3 BFA-VG Beschwerde an das Bundesverwaltungsgericht (BVwG).
Das BVwG wies diese Beschwerde mit Spruchpunkt A.I. des nunmehr angefochtenen Erkenntnisses gemäß § 22a BFA-VG iVm Art. 28 der Dublin III-Verordnung und § 76 Abs. 2a Z 2 FPG ab. Mit Spruchpunkt A.II. stellte es gemäß § 22a Abs. 3 BFA-VG iVm Art. 28 der Dublin III-Verordnung und § 76 Abs. 2a Z 2 FPG fest, dass zum Zeitpunkt der Entscheidung die für die Fortsetzung der Schubhaft maßgeblichen Voraussetzungen vorlägen. Mit Spruchpunkt A.III. wurde der Antrag des Revisionswerbers auf Kostenersatz gemäß § 35 VwGVG abgewiesen. Mit Spruchpunkt B. sprach das BVwG aus, dass die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG zulässig sei.
Zu Spruchpunkt A.II. führte das BVwG im Wesentlichen aus, das Asylverfahren des Revisionswerbers sei bislang nicht zugelassen worden, vielmehr liege bereits eine erstinstanzliche zurückweisende Entscheidung gemäß § 5 AsylG 2005 vom vor. Der Revisionswerber verfüge in Österreich über keinerlei private, familiäre, soziale oder berufliche Anknüpfungspunkte und über keine "stete (gesicherte) Unterkunft". Er sei mittellos und nicht erwerbstätig. Dem Vorwurf in der Beschwerde, dass sich das BFA mit der konkreten Situation des Revisionswerbers nicht hinreichend auseinandergesetzt habe, könne nicht gefolgt werden. Vielmehr sei dem Revisionswerber entgegenzuhalten, dass er in seiner Beschwerde von sich aus keine konkreten Angaben zu seiner individuellen Situation in Österreich getätigt habe, die seine Lage in einem anderen Licht erscheinen ließe. Im vorliegenden Fall sei "somit" aktuell von einer erheblichen Fluchtgefahr auszugehen, zumal besondere Umstände vorlägen, die ein Untertauchen befürchten ließen, insbesondere auf Grund des Umstandes, dass das BFA mittlerweile im Rahmen des Dublin-Verfahrens ein Aufnahmegesuch an die zuständige italienische Behörde gestellt habe und seitens Italiens zugestimmt worden sei. Unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls, insbesondere wegen fehlender sozialer oder familiärer Bindungen in Österreich, erweise sich die Gefahr des Untertauchens als erheblich, habe der Revisionswerber doch "nicht dargetan, warum und mit welchen Mitteln er per Zug die Gebietsbeschränkung verletzt" habe. So sei auch maßgeblich zu berücksichtigen gewesen, dass in Österreich zwar das Verfahren über den Antrag auf internationalen Schutz wegen der offenen Rechtsmittelfrist noch nicht abgeschlossen sei; unter Berücksichtigung des bereits erfolgten Aufnahmegesuchs und der Zustimmung Italiens seien eine Zurückweisung des Antrags wegen Unzuständigkeit Österreichs und die Erlassung einer damit verbundenen Anordnung zur Außerlandesbringung aber sehr wahrscheinlich.
Unter Berücksichtigung der persönlichen Umstände und des bisherigen Verhaltens des Revisionswerbers erweise sich die Anordnung eines gelinderen Mittels gemäß § 77 FPG als nicht geeignet, um den erforderlichen Sicherungszweck zu erreichen.
Den Spruchpunkt A.III. begründete das BVwG damit, dass weder der Schubhaftbescheid noch die darauf gestützte Anhaltung in Schubhaft für rechtswidrig erklärt worden seien und zudem das Vorliegen der Voraussetzungen für die Fortsetzung der Schubhaft festgestellt worden sei, sodass der Revisionswerber nicht als die gänzlich obsiegende Partei im Sinn des § 35 Abs. 2 VwGVG anzusehen sei. Da die Schubhaftbeschwerde somit nicht erfolgreich gewesen sei, finde kein Kostenersatz statt. Der Antrag des Revisionswerbers auf Kostenersatz sei daher gemäß § 35 VwGVG abzuweisen gewesen, das BFA habe keinen Kostenersatz beantragt.
Gegen dieses Erkenntnis hat der Revisionswerber eine Beschwerde gemäß Art. 144 B-VG an den Verfassungsgerichtshof sowie die vorliegende Revision erhoben.
Der Verwaltungsgerichtshof hat nach Aktenvorlage - eine Revisionsbeantwortung wurde nicht erstattet - erwogen:
Zu Punkt 1.
Auf Grund der Beschwerde des Revisionswerbers stellte der Verfassungsgerichtshof mit Erkenntnis vom , E 1553/2014, fest, dass er durch Spruchpunkt A.I. des angefochtenen Erkenntnisses wegen Anwendung verfassungswidriger Gesetzesbestimmungen (nämlich der mit Erkenntnis vom selben Tag, G 151/2014 u.a., aufgehobenen Abs. 1 und 2 des § 22a BFA-VG) in seinen Rechten verletzt worden sei. Unter einem hob er daher - nur - diesen Spruchpunkt auf.
Gemäß § 33 Abs. 1 erster Satz VwGG ist, wenn in irgendeiner Lage des Verfahrens offenbar wird, dass der Revisionswerber klaglos gestellt wurde, nach seiner Anhörung die Revision in nichtöffentlicher Sitzung mit Beschluss als gegenstandslos geworden zu erklären und das Verfahren einzustellen.
Ein solcher Fall der formellen Klaglosstellung liegt (u.a.) dann vor, wenn die angefochtene Entscheidung - wie hier - durch den Verfassungsgerichtshof aus dem Rechtsbestand beseitigt wurde (vgl. etwa den hg. Beschluss vom , Zl. 2013/21/0102). Dem trat der Vertreter des Revisionswerbers auf Anfrage des Verwaltungsgerichtshofes nicht entgegen.
Die Revision war daher, soweit sie sich gegen Spruchpunkt A.I. des angefochtenen Erkenntnisses richtet, in Anwendung der genannten Bestimmung des VwGG als gegenstandslos geworden zu erklären und das Verfahren einzustellen.
Zu Punkt 2.
Die gegen den Revisionswerber verhängte Schubhaft sollte der Sicherung des Verfahrens zur Erlassung einer Anordnung zur Außerlandesbringung und der Überstellung nach Italien im Rahmen der Dublin III-Verordnung dienen. Demgemäß nahmen sowohl das BFA als auch das BVwG - grundsätzlich zutreffend - auf Art. 28 dieser Verordnung Bezug. In seinem Erkenntnis vom , Ro 2014/21/0075, auf dessen Begründung des Näheren gemäß § 43 Abs. 2 VwGG verwiesen wird, hat der Verwaltungsgerichtshof aber festgehalten, dass es insoweit am Boden von Art. 2 lit. n der Dublin III-Verordnung ergänzend innerstaatlich festgelegter Kriterien zur Konkretisierung der in Art. 28 Abs. 2 der Verordnung für die Verhängung von Schubhaft (u.a.) normierten Voraussetzung des Vorliegens von "Fluchtgefahr" bedarf. Gemäß dem genannten Erkenntnis vom werden die in diesem Erkenntnis konkret behandelten Schubhafttatbestände (§ 76 Abs. 2 Z 2 und 4 FPG) diesem Erfordernis nicht gerecht. Auch § 76 Abs. 1 FPG enthält für sich betrachtet keine - gesetzlich festgelegten - objektiven Kriterien für die Annahme von (erheblicher) Fluchtgefahr im Sinn der Dublin III-VO (siehe das hg. Erkenntnis vom , Ro 2014/21/0080). Das Gleiche gilt für § 76 Abs. 2a Z 1 FPG, wird doch mit diesem Tatbestand nur an ein bestimmtes Verfahrensstadium bzw. an das ausnahmsweise Fehlen einer spezifischen Rechtsposition (nämlich des faktischen Abschiebeschutzes) angeknüpft, ohne Fluchtgefahr begründende Umstände zu umschreiben (vgl. die Erkenntnisse vom heutigen Tag, Ro 2014/21/0065 (zur ersten Variante) und Ro 2015/21/0016 (zur zweiten Variante)).
Im vorliegenden Fall wurde als innerstaatliche Rechtsgrundlage für die Aufrechterhaltung der Schubhaft § 76 Abs. 2a Z 2 FPG herangezogen. Nach dieser Bestimmung hat das BFA über einen Asylwerber Schubhaft anzuordnen, wenn eine Mitteilung gemäß § 29 Abs. 3 Z 4 bis 6 AsylG 2005 erfolgt ist und der Asylwerber die Gebietsbeschränkung gemäß § 12 Abs. 2 AsylG 2005 verletzt hat. Mit der ersten Voraussetzung wird - ähnlich wie in § 76 Abs. 2 Z 2 und Abs. 2a Z 1 FPG - nur an ein bestimmtes Verfahrensstadium angeknüpft. Die zweite, kumulativ geforderte Voraussetzung stellt zwar zusätzlich auf ein (Fehl )Verhalten des Asylwerbers ab. Allein mit einer Verletzung der Gebietsbeschränkung wurde aber das Vorliegen von (erheblicher) Fluchtgefahr nicht begründet; es handelt sich dabei nur um eines von mehreren - vom BVwG vor allem für maßgeblich angesehenen - Kriterien, die insgesamt eine Fluchtgefahr indizieren sollen. Hinsichtlich der übrigen, vom BVwG in tragender Weise herangezogenen Kriterien fehlt jedoch - entgegen Art. 2 lit. n der Dublin III-Verordnung - eine gesetzliche Festlegung.
Schon aus diesem Grund ist in der vorliegenden Konstellation Spruchpunkt A.II. des angefochtenen Erkenntnisses mit Rechtswidrigkeit seines Inhalts behaftet, weshalb er gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG aufzuheben war.
Im Hinblick darauf und auf die - ex tunc wirkende - Aufhebung des Spruchpunktes A.I. durch den Verfassungsgerichtshof kann auch die mit dem (vollständigen) Unterliegen des Revisionswerbers begründete Kostenentscheidung keinen Bestand haben. Spruchpunkt A.III. des angefochtenen Erkenntnisses war daher ebenfalls gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG wegen Rechtswidrigkeit seines Inhalts aufzuheben.
Der Spruch über den Aufwandersatz gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG iVm der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2014.
Von der beantragten Verhandlung konnte gemäß § 39 Abs. 2 Z 5 VwGG abgesehen werden.
Wien, am