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VwGH vom 27.04.2016, Ra 2015/10/0111

VwGH vom 27.04.2016, Ra 2015/10/0111

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Stöberl und die Hofräte Dr. Rigler, Dr. Lukasser, Dr. Hofbauer und Dr. Fasching als Richter, im Beisein des Schriftführers Mag. Uhlir, über die Revision der D D in Linz, vertreten durch Mag. Ariane Jazosch, Rechtsanwältin in 4050 Traun, Bahnhofstraße 5, gegen den Beschluss des Verwaltungsgerichts Wien vom , Zl. VGW- 141/081/6395/2015-10, betreffend Einstellung des Verfahrens wegen Zurückziehung der Beschwerde (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Magistrat der Stadt Wien), zu Recht erkannt:

Spruch

Der angefochtene Beschluss wird wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.

Das Land Wien hat der Revisionswerberin Aufwendungen in der Höhe von EUR 1.106,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

1 Mit Bescheid der Magistrats der Stadt Wien vom wurde die Revisionswerberin verpflichtet, zu Unrecht bezogene Mindestsicherungsleistungen in der Höhe von EUR 4.227,39 zurückzuzahlen.

2 Mit dem angefochtenen Beschluss hat das Verwaltungsgericht Wien das Verfahren über die von der Revisionswerberin gegen diesen Bescheid erhobene Beschwerde gemäß § 31 Abs. 1 VwGVG eingestellt.

3 Begründend führte das Verwaltungsgericht dazu aus, dass die Revisionswerberin ihre Beschwerde bei der mündlichen Verhandlung am nach Erörterung der Sach- und Rechtslage zurückgezogen habe.

4 Die ordentliche Revision wurde nicht zugelassen, weil keine Rechtsfrage im Sinn des Art. 133 Abs. 4 B-VG zu beurteilen gewesen sei.

5 Zur Zulässigkeit der dagegen gerichteten Revision wird vorgebracht, dass das Verwaltungsgericht die bei der mündlichen Verhandlung erst elfjährige Tochter der Revisionswerberin als nicht amtliche Dolmetscherin bestellt habe. Für diese Funktion dürften jedoch gemäß § 39a iVm § 52 Abs. 2 AVG nur "geeignete" Personen herangezogen werden. Eine Judikatur, welche Personen geeignet seien, bestehe nicht. Selbst wenn man von guten Deutschkenntnissen der Tochter ausgehe, sei durch ihre Übersetzung nicht gewährleistet gewesen, dass der Revisionswerberin die Tragweite der Beschwerderückziehung bewusst gewesen sei. Tatsächlich sei die Revisionswerberin auf Grund der Übersetzung durch ihre Tochter der Ansicht gewesen, sie müsse die Beschwerde zurückziehen, weil sie sonst mit "weiteren Strafen" zu rechnen habe.

6 Mit diesem Vorbringen gelingt es der Revisionswerberin im Ergebnis, eine grundsätzlich bedeutsame Rechtsfrage im Sinn von Art. 133 Abs. 4 B-VG aufzuzeigen. Die Revision ist daher zulässig und aus folgenden Gründen auch berechtigt:

7 Nach der ständigen hg. Judikatur ist ein Berufungsverzicht eines Fremden ohne Beiziehung eines Dolmetschers nur dann wirksam, wenn feststeht bzw. ausreichend ermittelt wurde, dass der Fremde im Zeitpunkt der Abgabe des Berufungsverzichtes der deutschen Sprache hinlänglich mächtig war, um sich der Tragweite des Verzichts bewusst zu sein und ein Willensmangel ausgeschlossen werden kann (vgl. etwa das Erkenntnis vom , Zl. 2006/19/0934). Diese Judikatur ist auf Grund der vergleichbaren Tragweite der Erklärung auch auf den Verzicht auf eine Beschwerde bzw. die Zurückziehung einer Beschwerde anzuwenden.

8 Aus den verwaltungsgerichtlichen Akten ergibt sich, dass das Verwaltungsgericht schon bei Anberaumung der Verhandlung vom davon ausging, die Revisionswerberin sei der deutschen Sprache nicht ausreichend mächtig, wurde doch zu dieser Verhandlung eine Dolmetscherin geladen. Da diese Dolmetscherin nicht rechtzeitig erschienen ist, wurde nach dem Verhandlungsprotokoll die minderjährige Tochter der Revisionswerberin "als Verfahrenshelferin zugelassen". Aus den Verwaltungsakten ergibt sich, dass diese Tochter am geboren und somit elf Jahre alt ist. Im Verhandlungsprotokoll wurde weiters festgehalten, dass die minderjährige Tochter "sehr gut" Deutsch spreche und die Revisionswerberin mit der Übersetzung durch ihre Tochter einverstanden sei.

9 Im Anschluss daran wurde der Verhandlungsgegenstand mit der Revisionswerberin erörtert, worauf diese ausführte: "Nach Erörterung der Sach- und Rechtslage ziehe ich meine Beschwerde zurück".

10 Ausgehend von diesen Umständen durfte das Verwaltungsgericht nicht ohne weiteres annehmen, dass die Revisionswerberin durch die Übersetzungshilfe ihrer Tochter in die Lage versetzt wurde, die Tragweite der Zurückziehung ihrer Beschwerde zu erfassen. Es kann nämlich bei einem elfjährigen Kind, dessen Muttersprache nicht Deutsch ist, nicht von vornherein angenommen werden, dass es auch in der Lage ist, ihm gegenüber mündlich gebrauchte verfahrensrechtliche Ausdrücke wie "Zurückziehung einer Beschwerde" zu verstehen und die Auswirkungen einer Beschwerderückziehung ihrer Mutter klar zu machen, selbst wenn dieses Kind die deutsche Sprache sonst gut beherrscht (vgl. dazu auch die bei Walter/Thienel , Verwaltungsverfahren I2, E 6 zu § 39a AVG zitierte hg. Judikatur, wonach für das "normale Leben" ausreichende Sprachkenntnisse eines Fremden nicht auf ein Verständnis spezifisch verfahrensrechtlicher Ausdrücke schließen lassen).

11 Unabhängig von der rechtlichen Qualifikation der "Zulassung" der elfjährigen Tochter "als Verfahrenshelferin" hat das Verwaltungsgericht vorliegend somit jedenfalls im Sinn der dargestellten Judikatur ausreichende Ermittlungen unterlassen, ob sich die Revisionswerberin unter Berücksichtigung der Übersetzung durch die Tochter der Tragweite der Zurückziehung der Beschwerde bewusst war und ob ein Willensmangel auszuschließen ist.

12 Mit dem Vorbringen, dass die Revisionswerberin auf Grund der Übersetzung durch ihre Tochter der Meinung gewesen sei, sie müsse die Beschwerde zurückziehen, um weitere "Bestrafungen" zu verhindern, wird die Relevanz dieses Verfahrensmangels aufgezeigt.

13 Aus den dargestellten Gründen war das angefochtene Erkenntnis gemäß § 42 Abs. 2 Z. 3 lit. b und c VwGG wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufzuheben.

14 Der Ausspruch über den Aufwandersatz gründet auf den §§ 47 ff VwGG iVm der Verordnung BGBl. II Nr. 518/2013.

Wien, am