VwGH vom 31.05.2017, Ro 2015/13/0023

VwGH vom 31.05.2017, Ro 2015/13/0023

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Fuchs und die Hofräte Dr. Nowakowski, MMag. Maislinger und Mag. Novak sowie die Hofrätin Dr. Reinbacher als Richter, unter Mitwirkung des Schriftführers Karlovits, LL.M., über die Revision des Finanzamtes Wien 1/23 in 1030 Wien, Marxergasse 4, gegen das Erkenntnis des Bundesfinanzgerichtes vom , Zl. RV/7105444/2014, betreffend Einkommensteuer (Arbeitnehmerveranlagung) für das Jahr 2013 (mitbeteiligte Partei:

L in W, vertreten durch Mag. Johannes Bügler, Rechtsanwalt in 1140 Wien, Baumgartenstraße 82), zu Recht erkannt:

Spruch

Die Revision wird als unbegründet abgewiesen.

Der Bund hat der Mitbeteiligten Aufwendungen in der Höhe von EUR 1.106,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

1 Die 1974 geborene Mitbeteiligte leidet nach einem im Jahr 2010 für ein Zivilgericht erstellten psychiatrischen Gutachten im Rahmen eines komplexen Krankheitsgeschehens u.a. an täglich drei bis fünf Ess-Brechattacken (Bulimie) mit teilweiser Enuresis und Enkopresis (Harninkontinenz und unkontrolliertes Einkoten). Streitpunkt des Verfahrens ist die Berücksichtigung ihr daraus entstehender Mehrkosten vor allem für Nahrungsmittel als außergewöhnliche Belastung gemäß § 34 EStG 1988.

2 In ihrer Beschwerde gegen den Einkommensteuerbescheid für das Streitjahr 2013, in dem das Vorliegen einer außergewöhnlichen Belastung insoweit verneint wurde, brachte die Mitbeteiligte u.a. vor, der auf Grund der Erkrankung zwingende Mehraufwand sei durch Gutachten belegt, was in den Einkommensteuerbescheiden für frühere Jahre auch anerkannt worden sei.

3 Das Finanzamt trug dem Standpunkt der Mitbeteiligten in diesem Punkt in der Beschwerdevorentscheidung nicht Rechnung, wobei es sich im Wesentlichen darauf stützte, dass "die Ausgaben für Lebensmittel unter das Abzugsverbot des § 20 Abs. 1 EStG 1988 zu subsumieren" seien.

4 Das Bundesfinanzgericht gab der Beschwerde statt. Es traf Feststellungen aus dem Gutachten, das der Mitbeteiligten "aus psychiatrisch fachärztlicher Einschätzung" einen "krankheitsbedingten monatlichen Mehraufwand" von ca. EUR 1.000,-- für Nahrungsmittel, ca. EUR 30,-- bis 40,-- für Medikamente sowie ca. EUR 100,-- für Hygieneartikel und regelmäßige Reparaturen verstopfter Abflussrohre bestätigte, sowie darüber, dass sich die Symptomatik nach einer aktuellen vorgelegten fachärztlichen Stellungnahme seit der Erstellung des Gutachtens im Jahr 2010 nicht verändert habe.

5 Für die Berücksichtigung als außergewöhnliche Belastung verlange das Gesetz, dass die Belastung außergewöhnlich sein, zwangsläufig erwachsen und die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit wesentlich beeinträchtigen müsse. Diese Voraussetzungen seien erfüllt. Der erhöhte Nahrungsmittelbedarf sei "unmittelbares Symptom" der Krankheit, wobei mit der Anschaffung von Lebensmitteln, die wieder erbrochen würden, auch kein Gegenwert geschaffen werde. § 34 EStG 1988 diene der Berücksichtigung von Aufwendungen der privaten Lebensführung, sodass § 20 Abs. 1 EStG 1988 der Anerkennung als außergewöhnliche Belastung nicht entgegenstehen könne (Hinweis auch auf § 20 Abs. 3 zweiter Satz EStG 1988). Der Höhe nach würden die krankheitsbedingten Mehraufwendungen auf der Grundlage des Gutachtens mit dem dort auch abschließend angeführten Betrag von monatlich (insgesamt) EUR 1.200,-- geschätzt. Der Selbstbehalt gemäß § 34 Abs. 4 EStG 1988 wurde davon in Abzug gebracht.

6 Eine Revision erklärte das Bundesfinanzgericht für zulässig, weil höchstgerichtliche Rechtsprechung zu Fällen dieser Art noch fehle.

7 Gegen diese Entscheidung richtet sich die vorliegende Revision des Finanzamtes, in der zur behaupteten inhaltlichen Rechtswidrigkeit fallbezogen dargelegt wird, es handle sich "nicht um Kosten einer direkten Heilbehandlung und daher nicht um unmittelbare Krankheitskosten", "sondern um Kosten der Lebensführung". Ausgaben, die "nur mittelbar mit dem Krankheitsverlauf im Zusammenhang" stünden, seien "keine Krankheitskosten" und "damit" auch keine außergewöhnliche Belastung. Die Aufwendungen müssten "vielmehr zwangsläufig" erwachsen, "womit" es erforderlich sei, dass die "Maßnahmen" zur Heilung oder Linderung der Krankheit nachweislich notwendig seien. Das Bundesfinanzgericht habe es "unterlassen, zu prüfen, ob die Bulimie-Erkrankung durch den seit Jahren anhaltenden übermäßigen Verzehr an Lebensmitteln überhaupt gelindert werden kann".

8 Unter "Bedachtnahme auf die Bestimmung des § 20 Abs. 1 Z 2 lit. a EStG 1988 (Verbot des Abzuges von Aufwendungen oder Ausgaben der Lebensführung)" seien Verpflegungskosten "laut anerkannter Verwaltungspraxis, Literatur und gefestigter Judikatur" weder als Werbungskosten noch - mangels Außergewöhnlichkeit - als außergewöhnliche Belastung zu berücksichtigen, soweit es sich nicht um Mehrkosten für Verpflegung auf beruflich veranlassten Reisen oder um Mehraufwendungen für ärztlich verordnete Diäten handle. Die Einnahme von Verpflegung sei zwangsläufig, weil lebensnotwendig, aber nicht außergewöhnlich, weshalb Verpflegungskosten "grundsätzlich" nicht als außergewöhnliche Belastung in Betracht kämen. "Letztlich" sei in § 2 Abs. 1 der Verordnung BGBl. Nr. 303/1996 "normiert, dass nur Mehraufwendungen wegen Krankendiätverpflegung als außergewöhnliche Belastung abzugsfähig sind". Um Krankendiätverpflegung gehe es bei dem strittigen Betrag jedoch nicht.

9 Krankheitskosten seien nur solche, die der Heilung oder Besserung oder dem Erträglichmachen einer Krankheit dienten. Auf die zusätzlichen Kosten für Verpflegung auf Grund einer Bulimie-Erkrankung treffe dies nicht zu. Durch die "überproportionale Zufuhr" von Lebensmitteln "bzw. die folgenden Ess-Brechattacken" werde "die Krankheit nicht gelindert, sondern im Gegenteil das Krankheitsbild aufrechterhalten oder gar verstärkt. Damit besteht letztlich kein Unterschied zu einem anderen krankhaften Suchtverhalten (Zigaretten, Alkohol, Drogen, Kaufsucht, Spielsucht, usw.). Mag die Zuführung des Suchtgiftes beim Kranken subjektiv den Eindruck einer kurzfristigen Linderung erzeugen, trägt dies aber nicht zur tatsächlich (medizinisch) tauglichen Heilung oder Besserung bei."

10 Das Finanzamt vertrete "die Rechtsmeinung, dass Krankheitskosten der im vorliegenden Fall strittigen Art (Lebensmittel) nur dann zu einer außergewöhnlichen Belastung führen können, wenn sie im direkten Zusammenhang mit einer Krankheit stehen, aus medizinischen Gründen zur Heilung oder Linderung der Krankheit nachweislich erforderlich sind und eine andere Behandlung nicht oder kaum Erfolg versprechend erscheint. Das wurde im gegenständlichen Fall jedoch weder behauptet noch überprüft."

11 Das Finanzamt tritt auch der Einschätzung der Höhe des Mehraufwandes durch das Bundesfinanzgericht entgegen und führt dazu aus, es sei "unerlässlich, den normalen monatlichen Lebensmittelaufwand einer Person festzustellen, um sodann überprüfen zu können, um wieviel höher die Kosten bei einer Bulimie-Erkrankung sind". Dies sei im psychiatrischen Gutachten aber nicht geschehen. Unter dem Gesichtspunkt der Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften wird in diesem Zusammenhang geltend gemacht, die Mitbeteiligte sei nicht aufgefordert worden, "Auskunft darüber zu geben, wie hoch die Gesamtkosten für Einkäufe von Lebensmitteln im Familienhaushalt waren".

12 Die Mitbeteiligte hat eine Revisionsbeantwortung erstattet, in der sie im Wesentlichen darlegt, das Finanzamt gehe von rechtlichen Voraussetzungen aus, die dem Gesetz nicht zu entnehmen seien.

13 Der Verwaltungsgerichtshof hat erwogen:

14 § 34 EStG 1988 lautet soweit hier wesentlich:

"§ 34. (1) Bei der Ermittlung des Einkommens (§ 2 Abs. 2) eines unbeschränkt Steuerpflichtigen sind nach Abzug der Sonderausgaben (§ 18) außergewöhnliche Belastungen abzuziehen. Die Belastung muß folgende Voraussetzungen erfüllen:

  1. Sie muß außergewöhnlich sein (Abs. 2).

  2. Sie muß zwangsläufig erwachsen (Abs. 3).

  3. Sie muß die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit wesentlich beeinträchtigen (Abs. 4).

  4. Die Belastung darf weder Betriebsausgaben, Werbungskosten noch Sonderausgaben sein.

(2) Die Belastung ist außergewöhnlich, soweit sie höher ist als jene, die der Mehrzahl der Steuerpflichtigen gleicher Einkommensverhältnisse, gleicher Vermögensverhältnisse erwächst.

(3) Die Belastung erwächst dem Steuerpflichtigen zwangsläufig, wenn er sich ihr aus tatsächlichen, rechtlichen oder sittlichen Gründen nicht entziehen kann.

(4) Die Belastung beeinträchtigt wesentlich die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit, soweit sie einen vom Steuerpflichtigen von seinem Einkommen (§ 2 Abs. 2 in Verbindung mit Abs. 5) vor Abzug der außergewöhnlichen Belastungen zu berechnenden Selbstbehalt übersteigt. (...)"

15 Das in § 20 Abs. 1 Z 2 lit. a EStG 1988 enthaltene Verbot des Abzuges von Aufwendungen oder Ausgaben für die Lebensführung steht der Berücksichtigung von Aufwendungen als außergewöhnliche Belastung - anders, als dies vom Finanzamt in der Beschwerdevorentscheidung behauptet wurde und in abgeschwächter Form auch noch in der Revision anklingt - nicht entgegen. § 34 EStG 1988 bezweckt vielmehr den Abzug gerade solcher Aufwendungen, sofern bestimmte Voraussetzungen erfüllt sind (vgl. näher Doralt, EStG11, 2007, § 34 Tz 10; Fuchs in Hofstätter/Reichel, Die Einkommensteuer - Kommentar, 54. Lfg, 2013, § 34 Abs. 1 EStG 1988 Tz 21; Jakom/Vock EStG, 2017, § 34 Rz 1). Von diesen Voraussetzungen sind im vorliegenden Fall - nach erfolgtem Abzug des Selbstbehaltes - die der Außergewöhnlichkeit und der Zwangsläufigkeit strittig.

16 Als Maßstab der Außergewöhnlichkeit normiert das Gesetz die Höhe der Belastung im Vergleich zur Mehrzahl der Steuerpflichtigen gleicher Einkommens- und Vermögensverhältnisse. Wenn das Finanzamt dazu ausführt, jeder Mensch müsse essen, so bedeutet es unter dem Gesichtspunkt dieses im Gesetz vorgesehenen Maßstabes aber einen Unterschied, wenn aus Krankheitsgründen - hier wegen ständigen Erbrechens - ein Vielfaches an Nahrungsmitteln konsumiert werden muss, um dem Körper denselben lebensnotwendigen Nährwert zuzuführen. Die Außergewöhnlichkeit des dadurch entstehenden Mehraufwandes hat das Bundesfinanzgericht daher mit Recht bejaht (vgl. idS zur Außergewöhnlichkeit auch von Verpflegungsmehraufwand bei u.a. krankheitsbedingter Heimunterbringung beispielsweise die Erkenntnisse vom , 2007/13/0051, oder vom , 2008/13/0145, VwSlg 8564/F).

17 Das Finanzamt behauptet in diesem Zusammenhang, in § 2 Abs. 1 der zu den §§ 34 und 35 EStG 1988 erlassenen Verordnung sei "normiert, dass nur Mehraufwendungen wegen Krankendiätverpflegung als außergewöhnliche Belastung abzugsfähig sind". Die Bestimmung hat jedoch nicht diesen Inhalt. Sie sieht nur Pauschalbeträge für Mehraufwendungen wegen Krankendiätverpflegung vor, die bei bestimmten Krankheiten "ohne Nachweis der tatsächlichen Kosten" zu berücksichtigen sind.

18 Über die krankheitsbedingte (und somit aus "tatsächlichen" Gründen gegebene) Zwangsläufigkeit des Mehraufwandes liegt ein fachmedizinisches Gutachten vor. Inwiefern sie vom Finanzamt dessen ungeachtet in Zweifel gezogen wird, geht aus der Revision nicht klar hervor. Wenn von "Maßnahmen" die Rede ist, die zur Heilung oder Linderung "notwendig" sein müssten, die Eignung zur "Linderung" in Frage gestellt und sogar behauptet wird, mit der "überproportionalen Zufuhr" von Nahrung werde "das Krankheitsbild aufrechterhalten oder gar verstärkt", so wird damit erstens übersehen, dass es hier nicht um "Maßnahmen" geht, deren "Eignung" als Reaktion auf die Krankheit zu prüfen wäre. Das Essverhalten selbst ist vielmehr krankhaft. Es ist, wie das Bundesfinanzgericht schon hervorhob, unmittelbares Symptom der Krankheit und steht nicht, wie das Finanzamt meint, "nur mittelbar mit dem Krankheitsverlauf im Zusammenhang".

19 Der Hinweis auf die Aufrechterhaltung oder gar Verstärkung des Krankheitsbildes durch die "überproportionale Zufuhr" von Lebensmitteln "bzw. die folgenden Ess-Brechattacken" scheint aber zweitens auch zu implizieren, dass sich die Mitbeteiligte einer Behandlung, mit der diese Abläufe zu vermeiden wären, verweigere. Wäre dies der Fall, so wäre die Belastung nicht zwangsläufig. Anhaltspunkte dafür, über die sich das Bundesfinanzgericht hinweggesetzt habe, zeigt die Revision aber nicht auf. Auch das aktenkundige, den jahrelangen Behandlungsverlauf ausführlich beschreibende Gutachten deutet nichts dergleichen an. Das angefochtene Erkenntnis ist daher auch unter diesem - bei reinen Suchterkrankungen, wie sie die Revision auch anführt, besonders wichtigen - Gesichtspunkt nicht rechtswidrig (vgl. in diesem Zusammenhang aus der deutschen Rechtsprechung etwa das zur Alkoholsucht ergangene Urteil des BFH vom , VI R 34/78, auf dessen Rz 14 zur Zwangsläufigkeit das einen Bulimie-Fall betreffende Urteil des Finanzgerichtes Baden-Württemberg vom , 8 K 227/93, aber nicht einging; zum Kaufzwang das Urteil des Finanzgerichtes München vom , 13 K 2392/05).

20 Mit den Einwendungen zur Höhe ist das Finanzamt auf das Erkenntnis des Verwaltungsgerichtshofes vom , 2004/13/0116, zu verweisen, auf das sich das Bundesfinanzgericht in Bezug auf die Möglichkeit einer Schätzung gestützt hat (vgl. etwa auch die Nachweise bei Fuchs, a.a.O., Tz 27). Das Bundesfinanzgericht hat nachvollziehbar dargelegt, weshalb es die vorgelegten Einzelbelege nicht als geeignete Grundlage für die Feststellung des Mehraufwandes und stattdessen eine Anknüpfung an das Gutachten im Rahmen einer Schätzung als erforderlich und zielführend ansah.

21 Die Revision war daher gemäß § 42 Abs. 1 VwGG als unbegründet abzuweisen.

22 Der Ausspruch über den Aufwandersatz gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2014.

Wien, am