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VwGH vom 16.02.2018, Ra 2015/08/0054

VwGH vom 16.02.2018, Ra 2015/08/0054

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Bachler sowie die Hofräte Dr. Strohmayer und Mag. Berger als Richter, unter Mitwirkung des Schriftführers Mag. Sinai, über die Revision des Arbeitsmarktservice Korneuburg in 2100 Korneuburg, Laaer Straße 11, gegen den Beschluss des Bundesverwaltungsgerichts vom , W145 2007394-1/4E, betreffend Notstandshilfe (mitbeteiligte Partei: A H in K), zu Recht erkannt:

Spruch

Der angefochtene Beschluss wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhalts aufgehoben.

Begründung

1.1. Die Mitbeteiligte hat seit dem Jahr 2009 wiederholt Anträge auf Gewährung von Notstandshilfe (seit 2011 als Pensionsvorschuss) bei der revisionswerbenden regionalen Geschäftsstelle des Arbeitsmarktservice (im Folgenden: AMS) gestellt.

1.2. Das AMS hat die Anträge jeweils gemäß § 33 Abs. 2 AlVG iVm. § 2 Notstandshilfe-Verordnung (NH-VO) mit der Begründung abgewiesen, dass sich die Mitbeteiligte nicht in Notlage befinde, da das anrechenbare Einkommen ihres Ehemanns trotz Berücksichtigung der gesetzlichen Freigrenzen den geltend gemachten Anspruch übersteige.

1.3. Die Mitbeteiligte hat gegen die Bescheide des AMS (zum Teil) Berufungen erhoben.

Die Landesgeschäftsstelle Niederösterreich hat den Berufungen jeweils keine Folge gegeben.

Die Berufungsentscheidung vom wurde damit begründet, dass das Einkommen des Ehemanns unstrittig den Anspruch auf Notstandshilfe übersteige, sodass Notlage nicht vorliege.

Die Berufungsentscheidung vom wurde - da die Mitbeteiligte am ihren Hauptwohnsitz von der Anschrift ihres Ehemanns (W Straße in K) abgemeldet und an der Anschrift eines der Söhne (L Straße in K) angemeldet sowie in den weiteren Anträgen angegeben hatte, dass sie vom Ehemann getrennt lebe - zusätzlich damit begründet, dass die Mitbeteiligte die Hausgemeinschaft mit dem Ehemann nur deshalb aufgegeben habe, um der Anrechnung dessen Einkommens zu entgehen. Dafür spreche, dass sie nach Erhalt der abschlägigen Berufungsentscheidung vom sogleich den Hauptwohnsitz verlegt habe, was nur deshalb geschehen sei, um der Anrechnung zu entgehen. Im Hinblick darauf sei das Einkommen des Ehemanns weiterhin anzurechnen und daher keine Notlage gegeben.

2.1. Die Mitbeteiligte stellte am (mit Wirkung vom ) den hier gegenständlichen Antrag auf Gewährung von Notstandshilfe als Pensionsvorschuss. Sie gab darin an, dass sie von ihrem Ehemann getrennt lebe.

Das AMS wies den Antrag mit Bescheid vom mit der schon oben (Punkt 1.2.) angeführten Begründung ab.

2.2. Die Mitbeteiligte erhob dagegen Beschwerde mit dem wesentlichen Vorbringen: "(...) Falsch ist gemeinsamer Haushalt - Kopie Meldezettel! Kein Einkommen - keine Befriedigung der notwendigen Lebensbedürfnisse! (...) Lohnbestätigung des getrennt lebenden Ehegatten (...)".

Die Mitbeteiligte schloss ihrer Beschwerde Meldebestätigungen an, wonach sie ihren Hauptwohnsitz seit dem an der Anschrift L Straße, ihr Ehemann indessen weiterhin an der Anschrift W Straße gemeldet habe.

2.3. Das AMS führte auf Grund der Beschwerde folgende Ermittlungen durch:

Das AMS holte Meldeauskünfte ein, welche die bereits oben (Punkt 2.2.) angeführten Meldedaten bestätigten.

Der Leiter des AMS nahm wiederholte Nachschauen an den betreffenden Anschriften vor, ohne jedoch die Mitbeteiligte bzw. ihren Ehemann anzutreffen. Der Leiter des AMS brachte durch Befragung von Hausbewohnern in Erfahrung, dass der Ehemann der Mitbeteiligten allein an der Anschrift W Straße wohne, die Mitbeteiligte hingegen gemeinsam mit ihrem 1985 geborenen Sohn in einer 36 m2 großen Wohnung an der Anschrift L Straße.

In Reaktion auf (an den Anschriften hinterlassene) Ersuchen traten die Mitbeteiligte und ihr Ehemann mit dem Leiter des AMS in Kontakt. Der Ehemann hielt dabei in einem Telefonat am fest, dass er sich wegen der Sache nicht von der Arbeit frei nehmen und nicht zum AMS kommen werde. Die Mitbeteiligte wohne nicht mehr bei ihm, er habe sie schon lange nicht mehr gesehen, er wolle mit der Sache nichts zu tun haben.

Die Mitbeteiligte sprach am persönlich beim AMS vor und deponierte unter anderem, dass sie mit dem Leiter des AMS "nicht in einem Raum sein möchte" und sich durch ihn "belästigt" fühle. Sie erachte auch ihre Familie durch die angestellten Ermittlungen "belästigt", und fordere, diese zu unterlassen. Dass auf Grund der Beschwerde Erhebungen durchzuführen seien, interessiere sie nicht. In der Sache selbst war sie zu einem weiteren Gespräch mit dem Leiter des AMS nicht bereit.

2.4. Mit Beschwerdevorentscheidung vom wies das AMS die Beschwerde und den zugrunde liegenden Sachantrag der Mitbeteiligten gemäß den §§ 23, 33 AlVG iVm. § 2 NH-VO ab.

Das AMS führte begründend aus, die Mitbeteiligte befinde sich nicht in Notlage, da das Einkommen ihres Ehemanns trotz Berücksichtigung der Freigrenzen den Anspruch auf Notstandshilfe übersteige. Das Einkommen des Ehemanns sei anzurechnen, weil die Mitbeteiligte - nach dem Ergebnis der durchgeführten Ermittlungen -

zwar nicht mit dem Ehemann im gemeinsamen Haushalt, sondern mit dem Sohn an einer anderen Anschrift wohne. Sie habe jedoch die Hausgemeinschaft mit dem Ehemann nur deshalb aufgegeben, um der Anrechnung dessen Einkommens zu entgehen. Das folge insbesondere daraus, dass sie (sogleich) nach Erhalt der abschlägigen Berufungsentscheidung vom den Hauptwohnsitz am verlegt habe. Die Chronologie lasse nur den Schluss zu, dass der Umzug deshalb erfolgt sei, um der Anrechnung des Einkommens des Ehemanns zu entgehen. Dafür spreche auch, dass die Ehe bislang nicht geschieden und kein Unterhalt eingeklagt worden sei. Im Übrigen habe die Mitbeteiligte in der Beschwerde nur vorgebracht, dass ein gemeinsamer Haushalt nicht vorliege, eine weitere Konkretisierung sei nicht erfolgt.

2.5. Die Mitbeteiligte stellte einen Vorlageantrag und brachte - soweit von Bedeutung - vor, das AMS lege die Bestimmungen für den Fall des Vorliegens eines gemeinsamen Haushalts zugrunde. Die Mitbeteiligte lebe jedoch nicht mit ihrem Ehemann im gemeinsamen Haushalt. Sie sei auch nicht zum AMS vorgeladen worden.

3.1. Mit dem nunmehr angefochtenen Beschluss gab das Verwaltungsgericht der Beschwerde Folge, indem es aussprach, dass "der angefochtene Bescheid" - gemeint wohl: die Beschwerdevorentscheidung (vgl. ) -

gemäß § 28 Abs. 3 zweiter Satz VwGVG aufgehoben und die Sache zur Fällung einer neuen Entscheidung an das AMS zurückverwiesen werde.

3.2. Das Verwaltungsgericht führte (unter anderem) aus, das AMS habe keine ausreichenden Sachverhaltsermittlungen durchgeführt.

Die Behörde dürfe sich nur in Fällen, die nicht weiter strittig seien, mit formlosen Befragungen oder schriftlichen Stellungnahmen als Beweismittel begnügen. In Fällen, in denen widersprechende Beweisergebnisse vorliegen und der Glaubwürdigkeit von Personen besondere Bedeutung zukomme, sei es zur Wahrheitsfindung erforderlich, die betreffenden Personen förmlich als Parteien oder Zeugen zu vernehmen.

Eine Zurückverweisung an die Behörde zur Durchführung notwendiger Ermittlungen komme dann in Betracht, wenn die Behörde jegliche Ermittlungstätigkeit unterlassen habe, völlig ungeeignete Ermittlungsschritte gesetzt oder bloß ansatzweise ermittelt habe oder Ermittlungen unterlassen habe, damit diese vom Verwaltungsgericht vorgenommen würden (Hinweis auf ).

Vorliegend hätte das AMS die Mitbeteiligte und ihren Ehemann, da deren Wohn- und Lebenssituation strittig seien, sowie noch weitere Personen (etwa Verwandte, Nachbarn und Freunde, eventuell Arbeitskollegen des Ehemanns sowie den Erhebungsbeamten des AMS) zeugenschaftlich einvernehmen und anschließend der Mitbeteiligten Parteiengehör einräumen müssen.

Da das AMS den maßgeblichen Sachverhalt lediglich ansatzweise ermittelt habe, sei mit einer Aufhebung und Zurückverweisung nach § 28 Abs. 3 zweiter Satz VwGVG vorzugehen. Eine Ergänzung der Ermittlungen durch das Verwaltungsgericht selbst sei auch aus Gesichtspunkten der Effizienz nicht angezeigt, eine erhebliche Kostenersparnis wäre damit nicht verbunden. Zudem würde der Instanzenzug unterlaufen.

3.3. Das Verwaltungsgericht sprach aus, dass die Revision nicht zulässig sei.

4.1. Gegen diesen Beschluss wendet sich die außerordentliche Revision des AMS mit einem Aufhebungsantrag.

Das AMS macht als Rechtsfrage im Sinn des Art. 133 Abs. 4 B-VG geltend, das Verwaltungsgericht sei von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofs abgewichen. Das AMS sei dem Vorbringen der Mitbeteiligten gefolgt und habe alle notwendigen Schritte zur Ermittlung des Sachverhalts gesetzt, wobei jedoch die Mitbeteiligte und ihr Ehemann zu einer Einvernahme nicht bereit gewesen seien. Nach Prüfung der Sach- und Rechtslage habe das AMS als erwiesen angesehen, dass die Mitbeteiligte den gemeinsamen Haushalt mit dem Ehemann nur deshalb aufgegeben habe, um der Anrechnung dessen Einkommens auf die Notstandshilfe zu entgehen. Folglich seien die Voraussetzungen für eine Behebung und Zurückverweisung gemäß § 28 Abs. 3 zweiter Satz VwGVG nicht vorgelegen, das Verwaltungsgericht hätte eine meritorische Entscheidung treffen müssen.

4.2. Die Mitbeteiligte erstattete eine Revisionsbeantwortung.

5. Der Verwaltungsgerichtshof hat - in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat - erwogen:

Die Revision ist zulässig und berechtigt, weil das Verwaltungsgericht - wie in der Folge zu zeigen sein wird - von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichthofs abgewichen ist.

6. Zu den für kassatorische Entscheidungen nach § 28 Abs. 3 zweiter Satz VwGVG geltenden Voraussetzungen ist auf das schon erwähnte hg. Erkenntnis Ro 2014/03/0063 zu verweisen (§ 43 Abs. 2 VwGG).

Der Verwaltungsgerichtshof hat darin dargelegt, dass ein prinzipieller Vorrang der meritorischen Entscheidungspflicht durch die Verwaltungsgerichte gesetzlich festgelegt ist. Die nach § 28 VwGVG verbleibenden Ausnahmen von der meritorischen Entscheidungspflicht sind strikt auf den ihnen gesetzlich zugewiesenen Raum zu beschränken. Der Verwaltungsgerichtshof hat in dem genannten Erkenntnis insbesondere ausgeführt, dass von der Möglichkeit der Zurückverweisung nur bei krassen bzw. besonders gravierenden Ermittlungslücken Gebrauch gemacht werden kann. Eine Zurückverweisung der Sache an die Verwaltungsbehörde zur Durchführung notwendiger Ermittlungen kommt also nur dann in Betracht, wenn die Verwaltungsbehörde jegliche erforderliche Ermittlungstätigkeit unterlassen hat, wenn sie zur Ermittlung des maßgebenden Sachverhalts lediglich völlig ungeeignete Ermittlungsschritte gesetzt hat oder wenn sie bloß ansatzweise ermittelt hat. Gleiches gilt, wenn konkrete Anhaltspunkte annehmen lassen, dass die Verwaltungsbehörde (etwa schwierige) Ermittlungen unterlassen hat, damit diese dann vom Verwaltungsgericht vorgenommen werden.

Der Verwaltungsgerichtshof hat auch bereits hervorgehoben (vgl. etwa , Ra 2014/08/0005), dass selbst Bescheide, die in der Begründung dürftig sind, keine Zurückverweisung der Sache rechtfertigen, wenn brauchbare Ermittlungsergebnisse vorliegen, die im Zusammenhalt mit einer allenfalls durchzuführenden Verhandlung (§ 24 VwGVG) zu vervollständigen sind.

7.1. Vorliegend sind Ermittlungsmängel, die eine Aufhebung und Zurückverweisung durch das Verwaltungsgericht im soeben aufgezeigten Sinn rechtfertigen könnten, nicht zu sehen.

7.2. Wie aus den Verwaltungsakten hervorgeht, hat das AMS vor Erlassung der angefochtenen Beschwerdevorentscheidung im Hinblick auf § 33 Abs. 2 AlVG iVm. § 2 NH-VO Ermittlungen über das Vorliegen einer Notlage - als allein strittige Voraussetzung für den geltend gemachten Anspruch auf Notstandshilfe - durchgeführt.

Es hat dabei durch Einholung von Meldeauskünften sowie durch Vornahme von Ermittlungen durch den Leiter des AMS (Nachschauen an den betreffenden Anschriften samt Befragung von Auskunftspersonen, Gespräch mit der Mitbeteiligten, Telefonat mit deren Ehemann) erhoben, dass die Mitbeteiligte bereits Jahre vor der hier gegenständlichen Antragstellung ihren Hauptwohnsitz von der Anschrift des Ehemanns abgemeldet und an der Adresse eines Sohnes angemeldet hat und seitdem nicht mehr mit dem Ehemann im gemeinsamen Haushalt lebt. Das AMS hat ferner erhoben, dass die Verlegung des Hauptwohnsitzes zeitnahe mit der Erlassung der Berufungsentscheidung im Juli 2009 erfolgt ist, die Ehe der Mitbeteiligten aber weiterhin aufrecht ist und auch kein Unterhalt eingeklagt wurde, und daraus gefolgert, dass die Mitbeteiligte den gemeinsamen Haushalt mit ihrem Ehemann nur deshalb aufgelöst habe, um der Anrechnung dessen Einkommens auf die beantragte Notstandshilfe zu entgehen.

7.3. Davon ausgehend hat aber das AMS bereits wesentliche Ermittlungen zum maßgeblichen Sachverhalt durchgeführt. Auf der Grundlage dieser Ermittlungsergebnisse können vom Verwaltungsgericht - nach der zutreffend als notwendig erkannten Vervollständigung (naheliegend erscheint insbesondere eine ergänzende förmliche Vernehmung der Mitbeteiligten und ihres Ehemanns zur Klärung des nicht unstrittigen Beweggrunds für die Auflösung des gemeinsamen Haushalts) im Rahmen einer mündlichen Verhandlung (§ 24 VwGVG) - die wesentlichen Tatsachenfeststellungen getroffen werden, um die Voraussetzungen für den Anspruch auf Notstandshilfe (das noch strittige Vorliegen einer Notlage im Sinn des § 33 Abs. 2 AlVG iVm. § 2 NH-VO) beurteilen zu können. Von bloß ansatzweisen Ermittlungen - im Sinn des Vorliegens krasser bzw. besonders gravierender Lücken - kann entgegen der Auffassung des Verwaltungsgerichts im Hinblick auf die vom AMS bereits durchgeführten brauchbaren Erhebungen nicht die Rede sein.

7.4. Eine Zurückverweisung nach § 28 Abs. 3 zweiter Satz VwGVG ist - wie das Verwaltungsgericht verkennt - auch nicht aus Gesichtspunkten der Effizienz geboten, ist doch die Vornahme ergänzender Ermittlungen durch das Verwaltungsgericht fallbezogen jedenfalls im Interesse der Raschheit gelegen (vgl. ).

Die vom Verwaltungsgericht geäußerte Befürchtung eines Unterlaufens des Instanzenzugs ist ebensowenig begründet; die Zurückverweisung ist keineswegs geboten, um der Mitbeteiligten ein effektives Rechtsmittel zu ermöglichen, ist doch ein hinreichender Rechtsschutz jedenfalls gewährleistet (vgl. ).

8. Insgesamt hat daher das Verwaltungsgericht zu Unrecht eine kassatorische Entscheidung nach § 28 Abs. 3 zweiter Satz VwGVG getroffen, weshalb der angefochtene Beschluss gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG wegen Rechtswidrigkeit seines Inhalts aufzuheben war.

Wien, am

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ECLI:
ECLI:AT:VWGH:2018:RA2015080054.L00

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