VwGH vom 09.06.2015, Ra 2015/08/0004

VwGH vom 09.06.2015, Ra 2015/08/0004

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Waldstätten, den Hofrat Dr. Strohmayer, die Hofrätinnen Dr. Julcher und Mag. Rossmeisel sowie den Hofrat Mag. Berger als Richterinnen und Richter, im Beisein der Schriftführerin Mag. Gruber, über die Revision des Arbeitsmarktservice Baden in 2500 Baden bei Wien, Josefsplatz 7, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom , Zl. W198 2007870-1/6E, betreffend Verlust des Anspruchs auf Notstandshilfe (mitbeteiligte Partei: Mag. F K in B), zu Recht erkannt:

Spruch

Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhalts aufgehoben.

Begründung

1. Mit Bescheid vom sprach die regionale Geschäftsstelle des Arbeitsmarktservice Baden (im Folgenden nur: AMS) aus, dass der Mitbeteiligte gemäß § 10 iVm. § 38 AlVG den Anspruch auf Notstandshilfe für den Zeitraum von 6. März bis verloren habe, weil er die Aufnahme einer zumutbaren Beschäftigung als Tankstellenkassier mit Entlohnung nach dem Kollektivvertrag an der O-Tankstelle der

P GmbH in M (im Folgenden nur: O-Tankstelle) vereitelt habe, und weil auch keine Nachsicht erteilt werden könne.

2. Der Mitbeteiligte erhob dagegen Beschwerde mit dem wesentlichen Vorbringen, er sei sehr wohl bereit gewesen, an der Tankstelle als Kassier zu arbeiten, allerdings sei bis zum Vorstellungsgespräch keine Rede davon gewesen, dass er auch für die Zubereitung von belegten Brötchen und Sandwiches zuständig wäre, wozu er nicht in der Lage sei. Er arbeite seit über 20 Jahren in der Industrie und sei den Umgang mit größeren Maschinen gewohnt, hingegen sei es für ihn schwierig, mit Wurst und Käse für belegte Brötchen zu hantieren, wegen der gestörten Feinmotorik in den Händen könne er nämlich nicht "mit so kleinen Dingen (...) arbeiten". Außerdem verfüge er über keine Belehrung des Gesundheitsamtes über die Grundsätze der Lebensmittelhygiene.

3.1. Mit Beschwerdevorentscheidung vom wies das AMS die Beschwerde ab.

3.2. Es stellte im Wesentlichen fest, der Mitbeteiligte habe in Polen das Lehramtsstudium für Geschichte und Politik abgeschlossen und als Gymnasiallehrer gearbeitet. In Österreich sei er jahrelang als Maschinenarbeiter tätig gewesen und suche nun wieder eine Vollzeitbeschäftigung in diesem Beruf bzw. im Hilfsarbeiterbereich. Er sei zuletzt bis in einem Arbeitsverhältnis gestanden und habe seit Notstandshilfe bezogen.

Am sei dem Mitbeteiligten vom AMS eine Beschäftigung als Tankstellenkassier bei der O-Tankstelle mit Entlohnung im Rahmen des anzuwendenden Kollektivvertrags und möglichem Arbeitsantritt am zugewiesen worden. Am habe er ein Bewerbungsgespräch mit dem Personalverantwortlichen S H geführt, wobei erörtert worden sei, dass neben der Aufgabe als Kassier auch kleinere Tätigkeiten im Buffetbereich zu erledigen seien. Der Mitbeteiligte habe daraufhin erklärt, dass er dies nicht machen wolle, und die angebotene Beschäftigung abgelehnt.

S H habe im Anschluss dem AMS bekannt gegeben, dass der Mitbeteiligte geäußert habe, er sei nicht bereit, mit Lebensmitteln zu arbeiten und die Gebäck- und Sandwichzubereitung zu übernehmen. Eine mögliche Beschäftigung sei aus dem Grund unterblieben. Was den Einwand der mangelnden Eignung betreffe, so hätte jedenfalls eine Einschulung stattgefunden und wäre die Sandwichzubereitung auch mit kräftigen Händen möglich gewesen.

Der Mitbeteiligte habe dem AMS gleichfalls bestätigt, dass er Einwände gehabt habe, weil er mit der Sandwichzubereitung nicht einverstanden gewesen sei. Er wolle zwar mit Lebensmitteln arbeiten, nicht aber im Rahmen eines Küchenbetriebs. Er habe auch zu Hause noch nie etwas in der Küche zubereitet, er sei mangels Erfahrung für die Sandwichzubereitung vollkommen ungeeignet.

Tatsächlich seien aber keine besonderen Kenntnisse für die zugewiesene Stelle als Tankstellenkassier gefordert worden. Vor allem seien für kleinere Tätigkeiten im Buffetbereich keinerlei Erfahrungen und keine Zertifikate/Nachweise bezüglich Lebensmittelhygiene nötig gewesen. Der Mitbeteiligte habe dem AMS auch keine gesundheitlichen Einschränkungen - etwa zur behaupteten gestörten Feinmotorik in den Händen - bekannt gegeben. Aus den vorgelegten ärztlichen Befunden seien keine Zweifel hinsichtlich der Zumutbarkeit der Stelle abzuleiten.

3.3. Rechtlich folgerte das AMS im Wesentlichen, der Mitbeteiligte habe beim Vorstellungsgespräch angegeben, dass er nicht mit Lebensmitteln arbeiten könne und nicht bereit sei, die Gebäck- und Sandwichzubereitung zu übernehmen. Besondere Fähigkeiten seien dafür aber nicht erforderlich gewesen, zudem wäre eine Einschulung erfolgt. Der Mitbeteiligte habe auch keine gesundheitlichen Einschränkungen in Ansehung der vermittelten Stelle aufgewiesen, die vorgelegten ärztlichen Befunde hätten keine diesbezüglichen Zweifel ergeben, insbesondere sei die behauptete gestörte Feinmotorik in den Händen nicht erwiesen worden. Er habe daher alle Voraussetzungen für den Arbeitsplatz erfüllt, die Beschäftigung sei zumutbar und zuweisungstauglich im Sinn des § 9 AlVG gewesen. Der Mitbeteiligte habe die angebotene zumutbare Beschäftigung nach § 10 Abs. 1 Z 1 AlVG pflichtwidrig vereitelt und sei als arbeitsunwillig zu erachten. Es sei daher der Verlust des Anspruchs auf Notstandshilfe für sechs Wochen auszusprechen gewesen. Berücksichtigungswürdige Gründe für eine Nachsicht nach § 10 Abs. 3 AlVG seien nicht vorgelegen.

4. Der Mitbeteiligte erhob am 6. (9.) Mai 2014 einen Vorlageantrag mit dem wesentlichen Vorbringen, er sei sehr wohl zur Aufnahme der angebotenen Beschäftigung bereit gewesen. Es sei unvorstellbar, dass es jedermann möglich sei, ohne besondere Fähigkeiten belegte Brötchen für den Verkauf zuzubereiten. Zudem sei fraglich, inwieweit die Zubereitung durch einen Tankstellenkassier nach dem Lebensmittelgesetz zulässig sei.

5.1. Mit dem angefochtenen Erkenntnis gab das Bundesverwaltungsgericht der Beschwerde statt, indem es den Verlust des Anspruchs auf Notstandshilfe verneinte.

5.2. Das Verwaltungsgericht führte im Wesentlichen aus, das AMS habe den Sachverhalt ausreichend und nachvollziehbar festgestellt, dieser werde daher der Entscheidung zugrunde gelegt.

Ergänzend hielt es fest, dass dem Mitbeteiligten vom AMS eine Beschäftigung als Tankstellenkassier bei der O-Tankstelle mit einer Entlohnung im Rahmen des anzuwendenden Kollektivvertrags und möglichem Arbeitsantritt am zugewiesen worden sei, wobei das Stellenangebot (auszugsweise) wie folgt lautete:

"O-Tankstelle (...) sucht ab sofort 1 Tankstellenkassier/in im Idealfall mit Praxis im Tankstellenshop- und Kassabereich. (...)

Geboten wird: Vollzeitbeschäftigung (...) Entlohnung je nach Qualifikation und Berufserfahrung verhandelbar (...)

Entgeltangaben des Unternehmens: Das Mindestentgelt inklusive Überzahlung für die Stelle als Tankstellenkassier/in beträgt 7,44 EUR brutto pro Stunde."

Der Kollektivvertrag für Arbeiter der Branche Garagen-Tankstellen sehe jedoch für das Kalenderjahr 2014 einen Mindestlohn von EUR 7,73 vor. Das in der Stellenausschreibung angeführte Mindestentgelt von EUR 7,44 brutto pro Stunde entspreche daher nicht dem im Jahr 2014 gültigen Mindestentgelt für Tankstellenkassiere laut dem anzuwendenden Kollektivvertrag.

5.3. Rechtlich folgerte das Verwaltungsgericht, der Arbeitslose sei verpflichtet, eine ihm vermittelte zumutbare Beschäftigung anzunehmen, widrigenfalls Arbeitsunwilligkeit vorliege. Eine zumutbare Beschäftigung habe nach § 9 Abs. 2 AlVG bestimmte Mindeststandards zu erfüllen, und zwar müsse sie für den konkreten Arbeitslosen in gesundheitlicher, sittlicher, beruflicher, familiärer und entgeltmäßiger Hinsicht tauglich sein und dem Kriterium der angemessenen Wegzeit entsprechen. Sei nur eines dieser gleichwertigen Merkmale nicht gegeben, so sei die Zumutbarkeit zu verneinen und bleibe der Nichtantritt der Beschäftigung ohne Sanktion. Der Dienstgeber dürfe keine vertraglichen Bedingungen verlangen, die in wesentlichen Punkten - wie etwa der Arbeitszeitgestaltung oder der Höhe der Entlohnung - zwingenden Rechtsnormen widersprächen.

Vorliegend sei von den erörterten Merkmalen jenes der angemessenen Entlohnung nicht erfüllt, die weiteren Kriterien seien daher nicht mehr zu prüfen. Nach den Feststellungen sei keine angemessene Entlohnung vorgelegen, weil in der Stellenausschreibung kein zumindest den Normen der kollektiven Rechtsgestaltung entsprechendes Entgelt angeboten worden sei und nicht davon auszugehen sei, dass der Mitbeteiligte das kollektivvertragliche Mindestentgelt für 2014 erhalten hätte. Das AMS hätte keine Stelle zuweisen dürfen, bei der schon in der Ausschreibung keine angemessene Entlohnung in Aussicht gestellt worden sei. Von der Behörde sei zu verlangen, dass sie sich vor der Zuweisung mit den branchenrechtlichen Mindestlohnbestimmungen auseinandersetze und nicht entsprechende Ausschreibungen von vornherein nicht in die Auswahl der zumutbaren Stellen aufnehme.

5.4. Der Beschwerde sei daher stattzugeben gewesen. Die Revision sei unzulässig, weil das Erkenntnis nicht von der Lösung einer Rechtsfrage abhänge, der grundsätzliche Bedeutung zukomme. Das Verwaltungsgericht habe sich bei allen erheblichen Fragen auf die klare Rechtslage und die ständige Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofs gestützt.

6. Gegen dieses Erkenntnis wendet sich die außerordentliche Revision des AMS mit dem Antrag, die angefochtene Entscheidung wegen Rechtswidrigkeit des Inhalts oder Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften (ersatzlos) aufzuheben, hilfsweise die Sache zur neuerlichen Entscheidung an das Verwaltungsgericht zurückzuverweisen.

Der Mitbeteiligte und der Bundesminister für Arbeit, Soziales und Konsumentenschutz als oberste Verwaltungsbehörde erstatteten jeweils eine Revisionsbeantwortung. Der Mitbeteiligte beantragte (im Ergebnis) die Abweisung, die oberste Verwaltungsbehörde die Stattgebung der Revision.

7. Der Verwaltungsgerichtshof hat erwogen:

Die Revision erweist sich - entgegen dem nicht bindenden Ausspruch des Verwaltungsgerichts (§ 34 Abs. 1a VwGG) - aus den vorgebrachten Gründen als zulässig. Dem Rechtsmittel kommt auch Berechtigung zu.

8. Das AMS macht geltend, eine unterkollektivvertragliche Entlohnung sei im gesamten Verfahren kein Thema gewesen. Der Vorsitzende des Verwaltungsgerichts habe erst nach der mündlichen Verhandlung darauf hingewiesen, dass der Mindestlohn für 2014 EUR 7,73 und nicht - wie im Vermittlungsvorschlag festgehalten - EUR 7,44 betrage. Das AMS habe nach Erhebungen mitgeteilt, dass der potenzielle Dienstgeber stets den kolletivvertraglichen Mindestlohn zahle und die Angabe eines Stundenlohns von EUR 7,44 für 2013 auf einem Irrtum beruhe; auch der Mitbeteiligte wäre nach dem aktuellen Kollektivvertrag entlohnt worden. Das Verwaltungsgericht sei auf diese Stellungnahme jedoch nicht weiter eingegangen, habe keine nochmalige Zeugenvernehmung durchgeführt und die aufgezeigten Umstände in der Entscheidung nicht berücksichtigt. Auch die vom Verwaltungsgericht vertretene Ansicht, wonach sich die Behörde vor der Zuweisung einer Beschäftigung mit den Mindestlohnbestimmungen auseinanderzusetzen und nicht entsprechende Stellen von vornherein auszuscheiden habe, sei unzutreffend. Eine Überprüfung der Entlohnung werde nur dann vorgenommen, wenn begründete Zweifel bestünden bzw. die Entlohnung im Verfahren zum Thema gemacht werde.

9.1. Nach der gefestigten Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofs kann ein Arbeitsloser vom Arbeitsmarktservice zu einer Beschäftigung zugewiesen werden, sofern diese nicht evident unzumutbar ist bzw. das Arbeitsmarktservice nicht von vornherein (etwa auf Grund eines diesbezüglichen Einwands des Arbeitslosen) Kenntnis von einem die Unzumutbarkeit begründenden Umstand hat. Es liegt dann am Arbeitslosen, beim Vorstellungsgespräch mit dem potenziellen Dienstgeber die näheren Bedingungen der bekannt gegebenen Beschäftigungsmöglichkeit zu erörtern (vgl. etwa die hg. Erkenntnisse vom , Zl. 2012/08/0070, und vom , Zl. Ro 2014/08/0019).

9.2. Im konkreten Fall ist nicht ersichtlich, dass die Anführung eines nicht zumindest dem aktuellen Kollektivvertrag entsprechenden Stundenlohns in der Stellenausschreibung das Arbeitsverhältnis für den Mitbeteiligten evident unzumutbar gemacht hätte.

10. Festzuhalten ist, dass nach den Feststellungen eine Beschäftigung "mit Entlohnung im Rahmen des anzuwendenden Kollektivvertrags" angeboten und im Stellenangebot die Entlohnung als "verhandelbar" erklärt wurde. Im Hinblick darauf kann aber die Nennung eines Mindestentgelts von EUR 7,44 brutto pro Stunde zwanglos als bloße (fehlerhafte) Wissensmitteilung gewertet werden.

Auf Basis der Feststellungen des Verwaltungsgerichts durfte daher nicht von einer Unzumutbarkeit der angebotenen Beschäftigung wegen nicht angemessener Entlohnung ausgegangen werden.

11. Im fortgesetzten Verfahren wird sich das Verwaltungsgericht mit der Frage - auf der bisher das Hauptgewicht des Verfahrens lag - auseinanderzusetzen haben, ob der Mitbeteiligte im Hinblick auf die Ablehnung bestimmter Tätigkeiten im Tankstellenshop (Buffetbereich) nach den sonstigen Zumutbarkeitskriterien des § 9 AlVG als arbeitswillig zu erachten ist (oder nicht).

12. Insgesamt war somit das angefochtene Erkenntnis gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG wegen Rechtswidrigkeit seines Inhalts aufzuheben.

Bei diesem Ergebnis erübrigte sich ein Abspruch über den mit der Amtsrevision verbundenen Antrag, dieser aufschiebende Wirkung zuzuerkennen (vgl. etwa das hg. Erkenntnis vom , Zl. Ra 2014/03/0036).

Wien, am