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VwGH vom 12.09.2012, 2011/23/0183

VwGH vom 12.09.2012, 2011/23/0183

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Stöberl und die Hofräte Dr. Sulzbacher, Mag. Haunold, Mag. Feiel und Dr. Mayr als Richter, im Beisein der Schriftführerin Mag. Pitsch, über die Beschwerde des H, vertreten durch Dr. Gerhard Koller, Rechtsanwalt in 1080 Wien, Friedrich Schmidt-Platz 7, gegen den Bescheid der Sicherheitsdirektion für das Bundesland Wien vom , Zl. E1/231.842/2007, betreffend Ausweisung, zu Recht erkannt:

Spruch

Der angefochtene Bescheid wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.

Der Bund hat dem Beschwerdeführer Aufwendungen in der Höhe von EUR 1.211,20 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

Der Beschwerdeführer, ein indischer Staatsangehöriger, reiste nach eigenen Angaben im Jahr 2000 nach Österreich ein.

Mit Urteil des Landesgerichtes für Strafsachen Wien vom wurde der Beschwerdeführer wegen des Verbrechens der Schlepperei nach § 104 Abs. 1 und 3 Fremdengesetz 1997 zu einer Freiheitsstrafe in der Dauer von 18 Monaten verurteilt, wovon zwölf Monate bedingt nachgesehen wurden. Dem Urteil lag zugrunde, dass der Beschwerdeführer von April 2000 bis zu seiner Festnahme am gewerbsmäßig die Weiterschleusung von insgesamt ca. 150 Personen, die ohne gültige Sichtvermerke nach Österreich eingereist waren, von Wien nach Mailand bzw. nach Nizza organisiert hatte.

Auf Grund dieser Verurteilung erließ die Sicherheitsdirektion für das Bundesland Wien mit dem im Instanzenzug ergangenen Bescheid vom gegen den Beschwerdeführer gemäß § 36 Abs. 1 iVm Abs. 2 Z 1 und 5 Fremdengesetz 1997 ein unbefristetes Aufenthaltsverbot. Nachdem der Verwaltungsgerichtshof der dagegen erhobenen Beschwerde mit Beschluss vom zunächst die aufschiebende Wirkung zuerkannt hatte, wurde die Beschwerde mit Erkenntnis des Verwaltungsgerichtshofes vom als unbegründet abgewiesen.

Mit Bescheid des Bundesasylamtes vom wurde ein vom Beschwerdeführer am gestellter Asylantrag gemäß § 7 Asylgesetz 1997 (AsylG) abgewiesen. Gleichzeitig wurde gemäß § 8 AsylG die Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung des Beschwerdeführers nach Indien für zulässig erklärt. Der erstinstanzliche Asylbescheid erwuchs auf Grund der Zurückziehung der vom Beschwerdeführer eingebrachten Berufung mit Ende 2006 in Rechtskraft.

Am hatte der Beschwerdeführer eine österreichische Staatsbürgerin geheiratet. Sein in weiterer Folge am gestellter Antrag auf Erteilung einer Niederlassungsbewilligung zum Zweck der Familiengemeinschaft mit seiner österreichischen Ehefrau wurde mit Bescheid der Bundespolizeidirektion Wien vom rechtskräftig abgewiesen.

Da die Ehefrau des Beschwerdeführers erkrankte und sich der Beschwerdeführer seit seiner strafgerichtlichen Verurteilung wohlverhalten hatte, wurde mit Bescheid der Bundespolizeidirektion Wien vom dem Antrag des Beschwerdeführers auf Aufhebung des erwähnten Aufenthaltsverbotes stattgegeben. In weiterer Folge stellte der Beschwerdeführer beim Landeshauptmann von Wien einen Antrag auf Erteilung eines Aufenthaltstitels.

Mit dem angefochtenen, im Instanzenzug ergangenen Bescheid der Sicherheitsdirektion für das Bundesland Wien (belangte Behörde) vom wurde der Beschwerdeführer gemäß § 53 Abs. 1 des Fremdenpolizeigesetzes 2005 (FPG) aus dem Bundesgebiet ausgewiesen.

Im Rahmen der Darstellung der Ergebnisse des Verwaltungsverfahrens hielt die belangte Behörde begründend unter anderem fest, dass der Beschwerdeführer in den Jahren zwischen 2004 und 2007 mehrfach als geringfügig beschäftigter Arbeiter tätig gewesen sei. Seit Dezember 2005 sei der Beschwerdeführer als Arbeiter einer Kleintransportfirma beschäftigt.

Gemäß einem "Pflegeentlassungsbrief" des Krankenhauses Hietzing sei die Ehefrau des Beschwerdeführers am mit der Bemerkung, dass sie zum Zeitpunkt der Entlassung in allen Aktivitäten des täglichen Lebens selbständig sei und keiner Unterstützung durch professionelle Pflege bedürfe, aus der stationären Behandlung des Krankenhauses entlassen worden; dies mit der Ergänzung, dass sich diese Bemerkung "nicht auf die Unterstützung, welche vor oder nach dem Krankenhausaufenthalt im häuslichen Umfeld benötigt wurde oder wird", beziehe.

Einem "amtsärztlichen Gutachten" der "MA 15" vom zufolge sei die Ehefrau des Beschwerdeführers auf Grund einer schwerwiegenden Erkrankung pflegebedürftig (Pflegegeld der Stufe 1); eine etwaige Ausreise des Beschwerdeführers würde eine zusätzliche Belastung für sie darstellen.

Nach eigenen Angaben der Ehefrau des Beschwerdeführers - so die belangte Behörde weiter - sei die Beweglichkeit ihres linken Armes eingeschränkt, sie habe ein Lymphödem und starke Wirbelsäulenbeschwerden. Der Beschwerdeführer mache den Haushalt und gehe einkaufen, helfe ihr bei der Körperpflege wie z.B. Kämmen und Kopfwaschen, in der Früh auch beim Ankleiden, und unterstütze sie auch psychisch sehr stark.

In ihren rechtlichen Erwägungen führte die belangte Behörde aus, der Beschwerdeführer halte sich seit der Zurückziehung der Berufung im Asylverfahren unrechtmäßig im Bundesgebiet auf. Da er nicht in den Besitz eines Einreise- bzw. Aufenthaltstitels gelangt sei, lägen die Voraussetzungen zur Erlassung der Ausweisung im Grunde des § 53 Abs. 1 FPG vor.

Der Beschwerdeführer wohne mit seiner Ehefrau, deren Tochter und der 17-jährigen Enkeltochter im gemeinsamen Haushalt. Sein Vater, seine Mutter und vier Schwestern lebten in seinem Heimatland, ein Cousin und eine Cousine wohnten in Wien. Unter Bedachtnahme auch auf die berufliche Situation des Beschwerdeführers und den mehrjährigen, jedoch zuletzt seit über drei Jahren unrechtmäßigen inländischen Aufenthalt sei von einem mit der Ausweisung verbundenen Eingriff in sein "Privat-, Familienbzw. Berufsleben" auszugehen. Dieser Eingriff erweise sich jedoch zur Erreichung der im Art. 8 Abs. 2 EMRK genannten Ziele - hier:

zur Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung auf dem Gebiete des Fremdenwesens und Arbeitsmarktes sowie zur Unterbindung weiterer strafbarer Handlungen - als dringend geboten.

Der lange unrechtmäßige Aufenthalt im Bundesgebiet im Anschluss an rechtskräftig negativ beendete Asylverfahren und Aufenthaltstitelverfahren verstoße gravierend gegen das Interesse an der Befolgung der die Einreise und den Aufenthalt von Fremden regelnden Vorschriften. Überdies habe der Beschwerdeführer mehrfach gegenüber der Behörde erster Instanz und dem Landeshauptmann von Wien bewusst falsche Angaben getätigt. Hinzu kämen offenbar gegenüber den Asylbehörden gemachte falsche Angaben über den Verbleib seines Reisepasses und das Einreisedatum.

Wenngleich dem Beschwerdeführer das Bestreben nicht abgesprochen werde, seinen Aufenthalt zu legalisieren, so habe er doch beharrlich "die für ihn maßgeblichen gerichtlichen bzw. fremdenrechtlichen Bestimmungen ignoriert". Zudem liege das besonders schwerwiegende, im Bereich der organisierten Kriminalität angesiedelte massive Fehlverhalten der gewerbsmäßigen Schlepperei noch nicht so lange zurück, dass auf Grund des seither verstrichenen Zeitraumes eine entscheidungswesentliche Reduzierung der vom Beschwerdeführer ausgehenden Gefahr für besonders gewichtige öffentliche Interessen angenommen werden könnte.

Seine berufliche Integration sei dadurch als relativiert anzusehen, dass er aus fremdenrechtlicher Sicht über keinen für die legale Ausübung einer unselbständigen Erwerbstätigkeit erforderlichen Aufenthaltstitel verfüge.

Wenngleich die Ehefrau des Beschwerdeführers eine sehr schwerwiegende Erkrankung erlitten habe und auch eine Pflegebedürftigkeit festgestellt worden sei, lägen in diesem Zusammenhang jedoch keine besonders berücksichtigungswürdigen Umstände vor. So sei der Beschwerdeführer jegliche Erklärung schuldig geblieben, weshalb seine Ehefrau gerade ausschließlich auf seine Pflege angewiesen sei, wohnten doch an der gemeinsamen Wohnadresse die Tochter und die Enkelin der Ehefrau. Es sei auch nicht dargelegt worden, dass der Sohn der Ehefrau des Beschwerdeführers nicht auch (zumindest zeitweise) pflegeunterstützend wirken könne.

Es sei daher dem Beschwerdeführer und seiner Ehefrau durchaus zumutbar, dass der Beschwerdeführer das Bundesgebiet verlasse, um allenfalls vom Ausland aus einen rechtmäßigen Antrag auf Erteilung eines Aufenthaltstitels zu stellen. Die familiäre Beziehung zu seiner Ehefrau habe der Beschwerdeführer überdies zu einem Zeitpunkt begründet, als sein Asylverfahren noch im Berufungsstadium anhängig gewesen sei und er daher nicht darauf bauen habe dürfen, sich mit dieser Familienangehörigen im Bundesgebiet niederlassen zu können.

Gegen diesen Bescheid richtet sich die vorliegende Beschwerde, über die der Verwaltungsgerichtshof nach Aktenvorlage und Erstattung einer Gegenschrift durch die belangte Behörde erwogen hat:

Vorauszuschicken ist, dass der Verwaltungsgerichtshof den angefochtenen Bescheid auf Basis der Sach- und Rechtslage zum Zeitpunkt seiner Erlassung zu überprüfen hat. Wird daher im Folgenden auf Bestimmungen des FPG und des Niederlassungs- und Aufenthaltsgesetzes (NAG) Bezug genommen, so handelt es sich dabei jeweils um die im Oktober 2009 geltende Fassung.

Gemäß § 53 Abs. 1 FPG können Fremde mit Bescheid ausgewiesen werden, wenn sie sich nicht rechtmäßig im Bundesgebiet aufhalten. Unstrittig ist, dass das Asylverfahren des Beschwerdeführers rechtskräftig negativ abgeschlossen ist und ihm bis zur Erlassung des angefochtenen Bescheides kein Aufenthaltstitel erteilt worden ist. Da auch keine sonstigen Anhaltspunkte dafür bestehen, dass eine der Voraussetzungen für einen rechtmäßigen Aufenthalt im Bundesgebiet gemäß § 31 Abs. 1 FPG vorläge, erweist sich die behördliche Annahme, der Ausweisungstatbestand des § 53 Abs. 1 FPG sei im vorliegenden Fall verwirklicht, als zutreffend.

Auch der nach den Feststellungen des angefochtenen Bescheides vom Beschwerdeführer gemäß § 44 Abs. 3 NAG gestellte und damals noch nicht erledigte Antrag auf Erteilung einer Niederlassungsbewilligung steht einer Ausweisung nicht entgegen (vgl. das hg. Erkenntnis vom , Zl. 2009/21/0293, insbesondere die Ausführungen unter Pkt. 4.3.1. und Pkt. 4.3.2.).

Würde durch eine Ausweisung in das Privat- oder Familienleben des Fremden eingegriffen, so ist die Ausweisung gemäß § 66 Abs. 1 FPG zulässig, wenn dies zur Erreichung der im Art. 8 Abs. 2 EMRK genannten Ziele dringend geboten ist. Bei dieser Beurteilung ist unter Bedachtnahme auf alle Umstände des Einzelfalles eine gewichtende Abwägung des öffentlichen Interesses an einer Aufenthaltsbeendigung mit den gegenläufigen privaten und familiären Interessen, insbesondere unter Berücksichtigung der im § 66 Abs. 2 FPG genannten Kriterien und unter Einbeziehung der sich aus § 66 Abs. 3 FPG ergebenden Wertungen, in Form einer Gesamtbetrachtung vorzunehmen (vgl. das hg. Erkenntnis vom , Zl. 2011/23/0290).

Gemäß § 66 Abs. 3 FPG ist über die Zulässigkeit der Ausweisung jedenfalls begründet abzusprechen, insbesondere im Hinblick darauf, ob diese gemäß Abs. 1 auf Dauer unzulässig ist. Die Unzulässigkeit einer Ausweisung ist nur dann auf Dauer, wenn die ansonsten drohende Verletzung des Privat- und Familienlebens auf Umständen beruht, die ihrem Wesen nach nicht bloß vorübergehend sind. Dies ist insbesondere dann der Fall, wenn die Ausweisung schon allein auf Grund des Privat- und Familienlebens im Hinblick auf österreichische Staatsbürger oder Personen, die über ein gemeinschaftsrechtliches oder unbefristetes Niederlassungsrecht (§§ 45 und 48 oder §§ 51 ff NAG) verfügen, unzulässig wäre.

Der Beschwerdeführer wendet sich gegen die von der belangten Behörde durchgeführte Interessenabwägung und verweist in diesem Zusammenhang auf seinen Aufenthalt im Bundesgebiet seit dem Jahr 2000, die schwerwiegende Erkrankung seiner Ehefrau, deren Pflegebedürftigkeit und psychische Belastung bei einer erzwungenen Ausreise des Beschwerdeführers, seine Beistandsverpflichtung als Ehemann sowie auf seine Beschäftigungsverhältnisse. Dies von ihm begangene Straftat liege bereits mehr als neun Jahre zurück, seither sei er strafgerichtlich und verwaltungsstrafrechtlich unbescholten. Bindungen zum Heimatstaat seien vernachlässigbar, weil seine "Familie im engeren Sinn" im Bundesgebiet lebe.

Dieses Beschwerdevorbringen erweist sich im Ergebnis als berechtigt.

Der belangten Behörde ist zwar darin beizupflichten, dass der strafgerichtlichen Verurteilung des Beschwerdeführers im Rahmen der Interessenabwägung grundsätzlich ein hoher Stellenwert zuzuerkennen ist. In diesem Zusammenhang ist aber insbesondere zu beachten, dass seit dem der strafgerichtlichen Verurteilung zugrunde liegenden Fehlverhalten des Beschwerdeführers bis zur Erlassung des angefochtenen Bescheides bereits mehr als neun Jahre vergangen sind, der Beschwerdeführer seither strafgerichtlich unbescholten ist und dass - worauf die Beschwerde zutreffend verweist - das gegen den Beschwerdeführer verhängte Aufenthaltsverbot bereits im April 2006 aufgehoben wurde. Dem genannten Fehlverhalten des Beschwerdeführers kommt ebenso wie den angeblich unrichtigen bzw. unvollständigen Angaben gegenüber österreichischen Behörden im Hinblick auf die seither verstrichene Zeit bei der Abwägung mit seinen sehr starken persönlichen und familiären Interessen an einem Verbleib im Bundesgebiet kein entscheidendes Gewicht zu.

Der belangten Behörde ist nämlich vor allem vorzuwerfen, bei ihrer Interessenabwägung nicht ausreichend auf die konkreten Auswirkungen einer Ausweisung auf die Situation des Beschwerdeführers und seiner Ehefrau Bedacht genommen zu haben. Das wäre aber im vorliegenden Fall geboten gewesen, lässt sich doch aus § 66 Abs. 3 letzter Satz FPG die Wertung erkennen, dass einem besonderen aufenthaltsrechtlichen Status der Ankerperson - hier: der österreichischen Staatsbürgerschaft der Ehefrau - wesentliches Gewicht zuzumessen ist (vgl. etwa die hg. Erkenntnisse vom , Zl. 2009/21/0109, und vom , Zl. 2010/21/0119, mwN).

Zwar hat die belangte Behörde Feststellungen unter anderem zur Familien- und Wohnsituation der Eheleute sowie zur Pflegebedürftigkeit der Ehefrau des Beschwerdeführers getroffen, sie hat darauf jedoch bei der Interessenabwägung nicht ausreichend Bedacht genommen. Der bloße Hinweis, der Beschwerdeführer habe nicht dargelegt, weshalb seine Ehefrau gerade auf die Pflege durch ihn angewiesen sei, vernachlässigt die im amtsärztlichen Gutachten vom festgestellte zusätzliche Belastung für die schwer kranke Ehefrau des Beschwerdeführers im Falle seiner Ausreise. Die wurde im angefochtenen Bescheid zwar erwähnt, im Rahmen der Interessenabwägung aber nicht erkennbar berücksichtigt.

Demnach hätte die belangte Behörde angesichts der familiären Bindung des Beschwerdeführers zu seiner österreichischen Ehefrau, seines mehr als neunjährigen Aufenthaltes im Bundesgebiet und seiner jahrelangen Berufstätigkeit zum Ergebnis gelangen müssen, dass sich die Ausweisung des Beschwerdeführers, die eine Trennung von seiner schwer kranken Ehefrau auf unbestimmte Zeit nach sich ziehen würde, als unverhältnismäßig erweist.

Der angefochtene Bescheid war sohin gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufzuheben.

Die Kostenentscheidung gründet sich - im Rahmen des gestellten Begehrens - auf die §§ 47 ff VwGG iVm der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2008.

Wien, am

Fundstelle(n):
HAAAE-93135