VwGH vom 21.06.2012, 2011/23/0165

VwGH vom 21.06.2012, 2011/23/0165

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Stöberl sowie die Hofräte Dr. Sulzbacher, Mag. Haunold, Mag. Feiel und Dr. Mayr als Richter, im Beisein der Schriftführerin Mag. Pitsch, über die Beschwerde des V in W, vertreten durch Dr. Wolfgang Weber, Rechtsanwalt in 1010 Wien, Wollzeile 12/1/27, gegen den Bescheid der Sicherheitsdirektion für das Bundesland Wien vom , Zl. E1/46.381/2008, betreffend Erlassung eines befristeten Aufenthaltsverbotes, zu Recht erkannt:

Spruch

Der angefochtene Bescheid wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.

Der Bund hat dem Beschwerdeführer Aufwendungen in der Höhe von EUR 1.286,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen. Das Mehrbegehren wird abgewiesen.

Begründung

Der Beschwerdeführer, ein serbischer Staatsangehöriger, ist seit Juni 1999 - somit seit seinem fünfzehnten Lebensjahr - in Österreich aufhältig. Er erhielt zunächst eine bis zum gültige Niederlassungsbewilligung, die in der Folge verlängert wurde. Ab dem verfügte er über einen Niederlassungsnachweis.

Mit Urteil des Landesgerichtes für Strafsachen Wien vom wurde der Beschwerdeführer wegen des Verbrechens nach § 28 Abs. 2 und 3 erster Fall des Suchtmittelgesetzes (SMG), teils als Beteiligter nach § 12 dritter Fall StGB, sowie wegen des Vergehens nach § 27 Abs. 1 SMG zu einer bedingt nachgesehenen Freiheitsstrafe in der Dauer von 17 Monaten rechtskräftig verurteilt. Dem gerichtlichen Schuldspruch zufolge habe der Beschwerdeführer im Zeitraum von zumindest Anfang März 2004 bis gewerbsmäßig Suchtgift in einer großen Menge (§ 28 Abs. 6 SMG), nämlich insgesamt zumindest 7.200g Cannabiskraut, durch Verkauf in Verkehr gesetzt. Weiters habe er durch das Leisten von Aufpasserdiensten gewerbsmäßig dazu beigetragen, dass Dritte Suchtgift in einer großen Menge (§ 28 Abs. 6 SMG) von zumindest 7.200g Cannabiskraut in einem nicht mehr näher festzustellenden Zeitraum von ca. sechs Wochen im Jahr 2003 oder 2004 gewerbsmäßig in Verkehr gesetzt haben. Schließlich habe er am 1,2g Cannabiskraut zum Eigenkonsum erworben und besessen.

Mit Urteil des Bezirksgerichtes Fünfhaus vom wurde der Beschwerdeführer wegen der Vergehen des teils versuchten, teils vollendeten Diebstahls nach den §§ 127, 15 StGB, der versuchten Urkundenunterdrückung nach den §§ 15, 229 Abs. 1 StGB und der versuchten Entfremdung unbarer Zahlungsmittel nach den §§ 15, 241e Abs. 3 StGB zu einer bedingt nachgesehenen Freiheitsstrafe von zwei Wochen rechtskräftig verurteilt. Dem gerichtlichen Schuldspruch zufolge habe der Beschwerdeführer am einer dritten Person eine Tasche mit unbekanntem Wert weggenommen sowie versucht, dieser Person die Geldbörse samt Bankomatkarte, eine Kontrollkarte der MA 15, eine Aufenthaltsberechtigungskarte, ein Handy und diverse Schlüssel wegzunehmen. Darüber hinaus habe er einer weiteren Person eine SIM-Karte weggenommen sowie versucht, dieser Person ein Handy wegzunehmen.

Mit Urteil des Landesgerichtes für Strafsachen Wien vom wurde der Beschwerdeführer wegen des Vergehens der versuchten Hehlerei nach den §§ 15, 164 Abs. 1 und 2 StGB unter Bedachtnahme gemäß den §§ 31, 40 StGB auf die Verurteilung vom zu einer unbedingten Zusatzfreiheitsstrafe von sechs Wochen rechtskräftig verurteilt. Unter einem wurde die bedingte Strafnachsicht betreffend die Verurteilung vom widerrufen. Vom Widerruf der bedingten Strafnachsicht betreffend die Verurteilung vom wurde abgesehen und die Probezeit auf fünf Jahre verlängert. Dem gerichtlichen Schuldspruch zufolge habe der Beschwerdeführer versucht, in der Nacht vom 21. auf den eine fremde Sache an sich zu bringen, indem er eine gestohlene LKW-Ladung nach brauchbaren Gegenständen durchsucht, jedoch nichts Verwertbares gefunden habe. Am wurde der Beschwerdeführer aus der Haft entlassen.

Im Hinblick auf diese Verurteilungen erließ die Bundespolizeidirektion Wien mit Bescheid vom gegen den Beschwerdeführer gemäß § 60 Abs. 1 iVm Abs. 2 Z 1 des Fremdenpolizeigesetzes 2005 (FPG) ein auf die Dauer von zehn Jahren befristetes Aufenthaltsverbot.

Mit dem angefochtenen Bescheid vom gab die belangte Behörde der dagegen erhobenen Berufung keine Folge und bestätigte den erstinstanzlichen Bescheid mit der Maßgabe, dass sich das Aufenthaltsverbot auch auf § 60 Abs. 2 Z 2 FPG stütze.

Die belangte Behörde stellte zunächst fest, dass der "Niederlassungsnachweis" des Beschwerdeführers mit "widerrufen" worden sei.

Im Hinblick auf die dargestellten gerichtlichen Verurteilungen sowie auf drei rechtskräftige Bestrafungen wegen schwerwiegender Verwaltungsübertretungen (gemäß § 5 Abs. 1 StVO, § 1 Abs. 3 iVm § 37 FSG sowie nach dem FPG) erachtete die belangte Behörde den Tatbestand sowohl der Z 1 als auch der Z 2 des § 60 Abs. 2 FPG als erfüllt. Da das Gesamt(fehl)verhalten des Beschwerdeführers die öffentliche Ordnung und Sicherheit in hohem Maße gefährde, erweise sich "die in § 60 Abs. 1 FPG umschriebene Gefährdungsannahme als gerechtfertigt".

Zur "Gefährlichkeitsprognose" verwies die belangte Behörde auf die große Menge Suchtgift, die der Beschwerdeführer gewerbsmäßig in Verkehr gesetzt habe, sowie auf die hohe Sozialschädlichkeit der Suchtgiftkriminalität und die damit verbundene große Wiederholungsgefahr. Auch habe sich der Beschwerdeführer durch die erste Verurteilung nicht davon abhalten lassen, erneut straffällig zu werden, und es liege die Verurteilung nach dem SMG "noch bei weitem nicht lange genug" zurück, um auf eine erhebliche Minderung der von ihm ausgehenden Gefahr schließen zu können.

Der Aufenthalt des Beschwerdeführers sei zudem nicht als "aufenthaltsverfestigt" im Sinn des FPG anzusehen. Die Bestimmungen des § 61 FPG seien nicht anwendbar.

In Ansehung des § 66 FPG stellte die belangte Behörde fest, dass der Beschwerdeführer ledig und für niemanden sorgepflichtig sei. Er sei im Haushalt seiner Mutter bzw. seines Stiefvaters, die beide österreichische Staatsbürger seien, gemeldet und habe vorgebracht, dass seine gesamte Familie in Österreich lebe. Allerdings werde - so die belangte Behörde - die Beziehung zu seiner Mutter und seiner Familie durch seine Volljährigkeit und durch die Tatsache relativiert, dass er keiner besonderen Fürsorge oder Unterstützung durch diese bedürfe. Weiters habe der Beschwerdeführer angegeben, mit einer österreichischen Staatsbürgerin verlobt zu sein, das Bestehen eines gemeinsamen Haushaltes mit dieser sei aber nicht behauptet worden. Der Beschwerdeführer arbeite derzeit, er sei aber laut einem Versicherungsdatenauszug im Zeitraum vom bis lediglich etwas mehr als 27 Wochen erwerbstätig gewesen. Ausgehend davon nahm die belangte Behörde zwar einen mit dem Aufenthaltsverbot verbundenen, durchaus erheblichen Eingriff in das Privat- und Familienleben des Beschwerdeführers an. Im Hinblick auf das große öffentliche Interesse an der Verhinderung der Suchtgift- und der Eigentumskriminalität sowie angesichts der schweren Verwaltungsübertretungen sei diese Maßnahme aber zur Erreichung der im Art. 8 Abs. 2 EMRK genannten Ziele, hier zur Verhinderung weiterer strafbarer Handlungen sowie zum Schutz der körperlichen Unversehrtheit, der Gesundheit und des Eigentums, dringend geboten. Das hoch zu veranschlagende öffentliche Interesse daran, dass der Beschwerdeführer das Bundesgebiet verlasse und diesem fern bleibe, würde seine privaten und familiären Interessen an einem Verbleib im Bundesgebiet überwiegen.

Gegen diesen Bescheid richtet sich die vorliegende Beschwerde, über die der Verwaltungsgerichtshof nach Vorlage der Verwaltungsakten und Erstattung einer Gegenschrift durch die belangte Behörde erwogen hat:

Vorauszuschicken ist, dass der Verwaltungsgerichtshof den angefochtenen Bescheid auf Basis der Sach- und Rechtslage zum Zeitpunkt seiner Erlassung zu überprüfen hat. Wird daher im Folgenden auf Bestimmungen des FPG bzw. des Niederlassungs- und Aufenthaltsgesetzes (NAG) Bezug genommen, so handelt es sich dabei um die im Februar 2008 geltende Fassung.

Der Beschwerdeführer verfügte ab April 2003 über einen Niederlassungsnachweis (nach § 24 des Fremdengesetzes 1997), der gemäß § 11 Abs. 1 Abschnitt C lit. a und b der Niederlassungs- und Aufenthaltsgesetz-Durchführungsverordnung mit Inkrafttreten des NAG am als Aufenthaltstitel "Daueraufenthalt - EG" bzw. "Daueraufenthalt - Familienangehöriger" weiter galt.

Die belangte Behörde stellte dazu im angefochtenen Bescheid fest, dass dieser "Niederlassungsnachweis" mit "widerrufen" worden sei. Das bezieht sich der Aktenlage zufolge aber nur auf eine Eintragung im Fremdeninformationssystem, wo dieser "Widerruf" - offenbar irrtümlich - in der (falschen) Annahme der Rechtskraft des erstinstanzlichen Aufenthaltsverbotes vom vermerkt wurde. Dadurch hat sich der aufenthaltsrechtliche Status des Beschwerdeführers jedoch nicht geändert.

Das verkannte die belangte Behörde und hat demzufolge das gegenständliche Aufenthaltsverbot auf § 60 Abs. 1 (iVm Abs. 2 Z 1 und 2) FPG gestützt und entsprechend dieser Bestimmung nur das Vorliegen einer "Gefährdung der öffentlichen Ordnung und Sicherheit" bzw. das "Zuwiderlaufen anderen im Art. 8 Abs. 2 EMRK genannten öffentlichen Interessen" geprüft. Im Hinblick auf den dem Beschwerdeführer erteilten Aufenthaltstitel hätte gegen ihn ein Aufenthaltsverbot aber nur bei Vorliegen der Voraussetzungen des - im Wege des § 61 Z 2 FPG anzuwendenden - § 56 Abs. 1 FPG erlassen werden dürfen. Diese Bestimmung verlangt jedoch ein deutlich höheres Gefährdungsmaß, nämlich dass der weitere Aufenthalt des Fremden eine (gegenwärtige, hinreichend) schwere Gefahr für die öffentliche Ordnung oder Sicherheit darstellen würde (vgl. grundlegend zum System der abgestuften Gefährdungsprognosen im FPG das Erkenntnis vom , Zl. 2008/21/0603).

Die nach dem Gesagten gebotene Prüfung des bisherigen Fehlverhaltens des Beschwerdeführers an diesem Maßstab hat die belangte Behörde allerdings unterlassen, weshalb der angefochtene Bescheid schon deshalb gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 FPG wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufzuheben war (siehe zu einer ähnlichen Konstellation aus der letzten Zeit das hg. Erkenntnis vom , Zl. 2009/21/0074).

Die Entscheidung über den Aufwandersatz stützt sich auf die §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2008. Das auf die Zuerkennung von Umsatzsteuer für den Schriftsatzaufwand gerichtete Mehrbegehren ist vom dafür zugesprochenen Pauschalbetrag bereits erfasst und war daher abzuweisen.

Wien, am