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VwGH vom 27.04.2011, 2011/23/0068

VwGH vom 27.04.2011, 2011/23/0068

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch die Vorsitzende Senatspräsidentin Dr. Händschke sowie die Hofräte Dr. Hofbauer und Dr. Fasching, die Hofrätin Mag. Dr. Maurer-Kober und den Hofrat Mag. Feiel als Richter, im Beisein des Schriftführers MMag. Stelzl, über die Beschwerde des AR, geboren 1983, vertreten durch Dr. Herbert Pochieser, Rechtsanwalt in 1070 Wien, Schottenfeldgasse 2-4/2/23, gegen den Bescheid des unabhängigen Bundesasylsenates vom , Zl. 309.935-1/2E-XIV/16/07, betreffend §§ 5, 10 Asylgesetz 2005 (weitere Partei: Bundesministerin für Inneres), zu Recht erkannt:

Spruch

Der angefochtene Bescheid wird wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.

Der Bund hat dem Beschwerdeführer Aufwendungen in der Höhe von EUR 1.106,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

Der Beschwerdeführer, ein Staatsangehöriger von Afghanistan, reiste illegal über eine griechische Außengrenze in das Gebiet der Mitgliedstaaten der Europäischen Union ein und gelangte - ohne zuvor einen Asylantrag gestellt zu haben - in der Folge nach Österreich, wo er am internationalen Schutz beantragte.

Mit dem angefochtenen, im Instanzenzug ergangenen Bescheid wies die belangte Behörde diesen Antrag gemäß § 5 Abs. 1 Asylgesetz 2005 (AsylG 2005) als unzulässig zurück und erklärte gemäß Art. 10 Abs. 1 Dublin-Verordnung Griechenland als für dessen Prüfung zuständig. Gemäß § 10 Abs. 1 Z 1 AsylG 2005 wies die belangte Behörde den Beschwerdeführer aus dem österreichischen Bundesgebiet nach Griechenland aus; demzufolge sei gemäß § 10 Abs. 4 AsylG 2005 die Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung des Beschwerdeführers nach Griechenland zulässig.

Begründend führte die belangte Behörde unter Hinweis auf die Feststellungen im erstinstanzlichen Bescheid zur Rechtslage und - praxis in Griechenland, die zum Inhalt des angefochtenen Bescheids erhoben wurden, im Wesentlichen aus, dass das Bundesasylamt zutreffend von der Zuständigkeit Griechenlands ausgegangen sei. Es bestehe auch keine Veranlassung für die österreichischen Asylbehörden, von dem in Art. 3 Abs. 2 Dublin-Verordnung vorgesehenen Selbsteintrittsrecht Gebrauch zu machen. Der Beschwerdeführer habe nicht ausreichend substantiiert darlegen können, dass ihm durch eine Rückverbringung nach Griechenland die Gefahr einer Art. 3 EMRK widersprechenden Behandlung drohe. Die in der Berufung angeführten Berichte seien nicht mehr aktuell und würden zudem der seit "in Geltung befindlichen Neuerung des griechischen Asylverfahrens" widersprechen. Dass dem Beschwerdeführer in Griechenland keine reale Gefahr einer Kettenabschiebung drohe, ergebe sich aus der verbindlichen Zusicherung Griechenlands, Asylanträge jedenfalls zu prüfen. Da der Beschwerdeführer in Griechenland auch noch keinen Asylantrag gestellt habe, habe sein Verfahren gar nicht abgeschlossen werden können. Der Beschwerdeführer habe kein Vorbringen erstattet, aufgrund dessen anzunehmen wäre, dass er durch eine Verbringung nach Griechenland in seinen Rechten gemäß Art. 3 EMRK verletzt würde. Von Amts wegen hätten sich auch keinerlei Anhaltspunkte dafür ergeben, dass nach der griechischen Rechtslage keine Refoulement-Prüfung durchgeführt werden würde.

Auch durch das erstmals in der Berufung erstattete Vorbringen, dass die Schwester des Beschwerdeführers, die nach seinen zunächst gemachten Angaben irgendwo in Europa lebe, verheiratet sei und drei Kinder habe und bereits in Afghanistan seit ihrer Heirat vor etlichen Jahren nicht mehr mit ihm im gemeinsamen Haushalt gewohnt habe, in Österreich lebe, habe der Beschwerdeführer keine derartige Nahebeziehung zu seiner Schwester geltend gemacht, dass ihn eine Ausweisung und Überstellung nach Griechenland in seinem Recht auf Familienleben gemäß Art. 8 EMRK verletzen würde.

Dagegen richtet sich die vorliegende Beschwerde, über die der Verwaltungsgerichtshof nach Vorlage der Verwaltungsakten durch die belangte Behörde erwogen hat:

1. Im vorliegenden Fall ist nicht strittig, dass die griechischen Asylbehörden nach den Bestimmungen der Dublin-Verordnung zur Führung des Asylverfahrens des Beschwerdeführers zuständig sind. Zu klären bleibt lediglich, ob Österreich von seinem Selbsteintrittsrecht nach Art. 3 Abs. 2 Dublin-Verordnung Gebrauch hätte machen müssen.

2. Soweit die Beschwerde eine Rechtswidrigkeit des angefochtenen Bescheides im Zusammenhang mit einer allfälligen Verletzung von Art. 8 EMRK releviert und auf die im Bundesgebiet lebende, ebenfalls volljährige und verheiratete Schwester des Beschwerdeführers verweist, die bereits vor drei Jahren Afghanistan verließ und auch davor schon seit ihrer Heirat vor "etlichen Jahren" nicht mehr mit dem Beschwerdeführer im gemeinsamen Haushalt lebte, zeigt sie eine Fehlbeurteilung durch die belangte Behörde am Maßstab der ständigen höchstgerichtlichen Judikatur zur Frage, wann familiäre Beziehungen unter Erwachsenen in den Schutzbereich des Art. 8 Abs. 1 EMRK fallen, nicht auf (vgl. dazu etwa das hg. Erkenntnis vom , Zl. 2007/20/0955, mwN, und das Erkenntnis des Verfassungsgerichtshofes vom , B 1277/04).

3. Im Übrigen macht die Beschwerde - zusammengefasst - geltend, dass dem Beschwerdeführer bei Überstellung nach Griechenland eine dem Art. 3 EMRK widersprechende Behandlung drohe. Die belangte Behörde habe sich mit dem Berichtsmaterial, auf welches der Beschwerdeführer in seiner Berufung Bezug genommen habe, nicht auseinander gesetzt, insbesondere nicht mit der von ihm aufgezeigten Gefahr einer Kettenabschiebung.

Mit diesem Vorbringen zeigt die Beschwerde im Ergebnis einen relevanten Verfahrensmangel auf.

4. § 5 Abs. 3 AsylG 2005 enthält zwar eine Beweisregel, die es - im Hinblick auf die vom Rat der Europäischen Union vorgenommene normative Vergewisserung - grundsätzlich nicht notwendig macht, die Sicherheit des Asylwerbers vor "Verfolgung" in dem nach der Dublin-Verordnung zuständigen Mitgliedstaat (insbesondere gemeint im Sinne der Achtung der Grundsätze des Non-Refoulement durch diesen Staat) von Amts wegen in Zweifel zu ziehen. Die damit aufgestellte Sicherheitsvermutung ist jedoch widerlegt, wenn besondere Gründe, die in der Person des Asylwerbers gelegen sind, glaubhaft gemacht werden oder bei der Behörde offenkundig sind, die für die reale Gefahr des fehlenden Schutzes vor Verfolgung in diesem Mitgliedstaat sprechen (vgl. dazu das hg. Erkenntnis vom , Zl. 2008/19/0716).

Eine Verletzung der durch Art. 3 EMRK garantierten Rechte könnte einem Asylwerber dadurch drohen, dass er bei Überstellung nach Griechenland trotz Berechtigung seines Schutzbegehrens der Gefahr einer - direkten oder indirekten - Abschiebung in den Herkunftsstaat ausgesetzt wäre (Kettenabschiebung; vgl. etwa Punkt 2.2. der Entscheidungsgründe des hg. Erkenntnisses vom , Zl. 2006/19/0673, mwN), dass er dort (schutzlos) körperlichen Misshandlungen insbesondere durch Sicherheitskräfte ausgesetzt wäre (vgl. etwa das hg. Erkenntnis vom , Zl. 2005/01/0317, mwN) oder dass ihm Unterkunft und Versorgung nicht (rechtzeitig) zur Verfügung gestellt würden und er deshalb keine Lebensgrundlage vorfände (vgl. dazu allgemein etwa das hg. Erkenntnis vom , Zl. 2008/19/0174, und im Besonderen zur Lage in Griechenland das Erkenntnis des Verfassungsgerichtshofes vom , U 694/10).

5. Damit setzt sich der angefochtene Bescheid nicht ausreichend auseinander. Der Beschwerdeführer gab bereits in seiner Einvernahme an, nicht nach Griechenland zu wollen, weil er dort im Wald oder auf der Straße leben müsste. In der Berufung führte der Beschwerdeführer in diesem Zusammenhang aus, dass selbst nach den Feststellungen im erstinstanzlichen Bescheid zur Umsetzung der Richtlinien 2004/83/EG ("Statusrichtlinie") und 2005/85/EG ("Verfahrensrichtlinie") in Griechenland erst ein Gesetzesentwurf in Ausarbeitung sei, die Richtlinien 2003/9/EG (Festlegung von Mindestnormen) und 2003/86/EG (Familienzusammenführung) erst "demnächst" umgesetzt würden. Die inhaltliche Ausgestaltung des Asylverfahrens sowie der Refoulementschutz in Griechenland seien vom Bundesasylamt nicht geprüft worden. Unter Hinweis auf entsprechende Ausführungen im "Asylmagazin 3/05" brachte der Beschwerdeführer vor, dass in Griechenland bei "Dublin-Rückführungen" keine inhaltliche Prüfung des Asylantrags durchgeführt würde. Nach einer Stellungnahme des UNHCR vom , der nach einem Memorandum des UNHCR vom immer noch Geltung zukomme, liefen Asylwerber bei ihrer Abschiebung nach Griechenland Gefahr, sofort in Schubhaft genommen zu werden, ohne dass der Asylantrag substantiiert untersucht würde.

Auf dieses Vorbringen ging die belangte Behörde nur unzureichend ein. Angesichts der Bedenken, die seit vielen Jahren wiederholt und von namhaften internationalen Stellen (wie etwa dem UNHCR) an der griechischen Asylpraxis geäußert werden, und in Kenntnis um die allgemeine Situation von Asylsuchenden in Griechenland, durfte die belangte Behörde jedenfalls in einem Fall wie dem vorliegenden nicht von der zuvor beschriebenen Sicherheitsvermutung ausgehen. Vielmehr wären ergänzende Erhebungen und weitere Feststellungen erforderlich gewesen, insbesondere um sicher sein zu können, dass der Beschwerdeführer im Falle seiner Rücküberstellung nach Griechenland nicht durch eine Kettenabschiebung - oder durch eine mangelnde Versorgung - in seinen nach Art. 3 EMRK garantierten Rechten verletzt würde.

Damit lässt sich aber noch nicht abschließend beurteilen, ob die Asylbehörden vor allem unter dem Blickwinkel des Art. 3 EMRK im gegenständlichen Fall vom Selbsteintrittsrecht gemäß Art. 3 Abs. 2 Dublin-Verordnung Gebrauch hätten machen müssen.

Der angefochtene Bescheid war daher wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 lit. b und c VwGG aufzuheben.

Der Ausspruch über den Aufwandersatz gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG iVm der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2008, BGBl. II Nr. 455.

Wien, am

Fundstelle(n):
BAAAE-92781