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VwGH vom 01.03.2017, Ro 2015/03/0022

VwGH vom 01.03.2017, Ro 2015/03/0022

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Präsident Dr. Thienel und die Hofräte Dr. Handstanger, Dr. Lehofer, Mag. Nedwed und Mag. Samm als Richter, unter Mitwirkung des Schriftführers Dr. Zeleny, über die Revision des MMag. Dr. C W in D, vertreten durch die Thurnherr Wittwer Pfefferkorn Rechtsanwälte GmbH in 6850 Dornbirn, Messestraße 11, gegen den Bescheid des Ausschusses der Rechtsanwaltskammer Wien (Plenum) vom , Zl M 110/2011, M 110a/2011, M 110b/2011, M 110c/2011, betreffend Beitragsvorschreibungen nach der Umlagen- und Beitragsordnung der Rechtsanwaltskammer Wien (weitere Partei: Bundesminister für Justiz), zu Recht erkannt:

Spruch

Die Revision wird als unbegründet abgewiesen.

Begründung

1 Der Revisionswerber war im Jahr 2011 Rechtsanwaltsanwärter in Wien. Mit Bescheiden des Ausschusses der Rechtsanwaltskammer Wien vom bzw war ihm die Umlage zur Versorgungseinrichtung Teil A und der Kammerbeitrag für das erste (erstgenannter) bzw zweite (zweitgenannter Bescheid) Quartal 2011 gemäß der Umlagenordnung 2011 der Rechtsanwaltskammer Wien und der Beitragsordnung 2011 der Rechtsanwaltskammer Wien vorgeschrieben worden.

2 Mit Bescheiden vom bzw gab der Ausschuss der Rechtsanwaltskammer Wien (Plenum) den dagegen gerichteten Vorstellungen keine Folge.

3 Dagegen erhob der Revisionswerber jeweils gemäß Art 144 Abs 3 B-VG Beschwerde vor dem Verfassungsgerichtshof (B 1021/11, 1. Quartal bzw B 1188/11, 2. Quartal).

4 Aus Anlass dieser Beschwerden leitete der Verfassungsgerichtshof gemäß Art 140 B-VG von Amts wegen ein Verfahren zur Prüfung der Verfassungsmäßigkeit der Wortfolge "Entsprechendes gilt bei einer im Rahmen einer Plenarversammlung vorgenommenen Abstimmung" in § 24 Abs 3 RAO und gemäß Art 139 B-VG von Amts wegen ein Verfahren zur Prüfung der Gesetzmäßigkeit des Abschnitts "A.II. RECHTSANWALTSANWÄRTER" der Umlagenordnung 2011, des Abschnittes "B. RECHTSANWALTSANWÄRTER" in § 1, des § 3 Z 2 und der Wortfolge "und der Beitrag für Rechtsanwaltswärter gemäß § 1 B. P.1 lit. a)" in § 4 Z 2 der Beitragsordnung 2011 sowie des § 5 Abs 3 und § 9 Abs 1 zweiter Satz der Geschäftsordnung der Rechtsanwaltskammer Wien und deren Ausschuss 2008, ein.

5 Mit Erkenntnis vom , G 31-33/2013, V 20- 28/2013, hob der Verfassungsgerichtshof die oben bezeichnete Wortfolge in § 24 Abs 3 RAO als verfassungswidrig auf und ordnete an, dass die Aufhebung mit Ablauf des in Kraft tritt, dass frühere gesetzliche Bestimmungen nicht wieder in Kraft treten und dass die genannte Wortfolge auf die am beim Verfassungsgerichtshof anhängigen Verfahren, bei denen Verordnungen präjudiziell waren, die unter Anwendung der genannten Wortfolge erzeugt wurden, nicht mehr anzuwenden sind. Weiters stellte er fest, dass die oben bezeichneten Teile der Umlagenordnung 2011, der Beitragsordnung 2011 und der Geschäftsordnung 2008 gesetzwidrig waren.

6 Begründend führte er - auf das Wesentliche zusammengefasst -

Folgendes aus: Die für alle Entscheidungsgegenstände in der Plenarversammlung geltende unterschiedliche Gewichtung der Stimmen von Rechtsanwälten und Rechtsanwaltsanwärtern nach § 24 Abs 3 letzter Satz RAO (wonach jeweils zwei Stimmen von Rechtsanwaltsanwärtern der eines Rechtsanwaltes entspricht) sei verfassungswidrig, weil dadurch die dem demokratischen Prinzip innewohnende grundsätzliche Gleichheit der Stimme unterschiedslos durchbrochen werde, ohne dass hiefür ein entsprechend sachlicher Grund bestehe. Die Abstimmung über die Beschlussfassung der Umlagenordnung 2011 und der Beitragsordnung 2011 in der Plenarversammlung der Rechtsanwaltskammer Wien am sei aufgrund des § 24 Abs 3 letzter Satz RAO erfolgt. Bei der Prüfung, ob die Umlagen- und die Beitragsordnung gesetzmäßig zustandegekommen seien, sei die in Rede stehende Wortfolge der RAO anzuwenden und Erzeugungsbedingung gewesen, weshalb sich die genannten Teile der Umlagen- und der Beitragsordnung als gesetzwidrig erwiesen. Bei diesem Ergebnis erübrige es sich, auf die sonstigen geltend gemachten und im Prüfungsbeschluss dargelegten Bedenken gegen die Gesetzmäßigkeit der in Prüfung gezogenen Bestimmungen der Umlagen- und der Beitragsordnung einzugehen. Da die Umlagen- und die Beitragsordnung jeweils mit Ablauf des außer Kraft getreten seien, sei festzustellen gewesen, dass die genannten Teile gesetzwidrig waren.

7 Mit weiteren Erkenntnissen jeweils vom , B 1021/2011-26 bzw B 1188/2011-23, hob der Verfassungsgerichtshof, gestützt auf das eben (vgl Rz 5) genannte Erkenntnis, die Bescheide des Ausschusses der Rechtsanwaltskammer Wien (Plenum) vom bzw - wegen Anwendung eines verfassungswidrigen Gesetzes und gesetzwidriger Verordnungen - auf.

8 Der Revisionswerber hatte auch gegen die Bescheide des Ausschusses der Rechtsanwaltskammer Wien vom (betreffend das 3. Quartal) und vom (betreffend das 4. Quartal) jeweils Vorstellung erhoben, wobei die belangte Behörde die Verfahren darüber jeweils bis zur Entscheidung des Verfassungsgerichtshofes über die oben genannten Fälle aussetzte.

9 Mit dem nun in Revision gezogenen Bescheid vom entschied die belangte Behörde, der Ausschuss der Rechtsanwaltskammer Wien (Plenum), neuerlich über die Vorstellung des Revisionswerbers gegen die das erste und das zweite Quartal 2011 betreffenden Bescheide des Ausschusses der Rechtsanwaltskammer Wien sowie - erstmals - über seine Vorstellungen gegen die das dritte und das vierte Quartal 2011 betreffenden Bescheide.

10 Während den das erste und das zweite Quartal betreffenden Vorstellungen jeweils Folge gegeben wurde und die diesbezüglichen Bescheide ersatzlos behoben wurden (Spruchpunkte 1 und 2), wurde den das dritte und das vierte Quartal betreffenden Vorstellungen jeweils keine Folge gegeben (Spruchpunkt 3 und 4).

11 In der Begründung stützte sich die belangte Behörde auf die oben dargelegten Erkenntnisse des Verfassungsgerichtshofes vom (in den Bescheidbeschwerde- und den Normenprüfungsverfahren). Da die als verfassungswidrig aufgehobenen Bestimmungen bis (offenbar gemeint: bis ) weiter anzuwenden seien, seien sie den das dritte und das vierte Quartal betreffenden Vorstellungen zugrunde zu legen und sei diesen Vorstellungen daher keine Folge zu geben gewesen.

12 Gegen die Spruchpunkte 3 und 4 dieses dem Revisionswerber am zugestellten Bescheids richtete er zunächst eine Beschwerde gemäß Art 144 Abs 3 B-VG an den Verfassungsgerichtshof. Dieser hat deren Behandlung mit Beschluss vom , B 1478/2013-9, abgelehnt und sie mit einem weiteren Beschluss vom dem Verwaltungsgerichtshof abgetreten. Begründend führte der Verfassungsgerichtshof im Wesentlichen Folgendes aus: Die vorliegende Beschwerde rüge die Verletzung in näher bezeichneten verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechten. Nach den Beschwerdebehauptungen wären diese Rechtsverletzungen aber zum erheblichen Teil nur die Folge einer - allenfalls grob - unrichtigen Anwendung des einfachen Gesetzes. Spezifisch verfassungsrechtliche Überlegungen seien zur Beurteilung der aufgeworfenen Fragen insoweit nicht anzustellen. Soweit die Beschwerde aber insoweit verfassungsrechtliche Fragen berühre, als die Rechtswidrigkeit der den angefochtenen Bescheid tragenden Rechtsvorschriften behauptet werde, lasse ihr Vorbringen vor dem Hintergrund der Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofs zur Anlassfallwirkung (Verweis auf VfSlg 10.616/1985, 10.954/1986, 10.736/1985, 17.687/2005 und 19.751/2013 (dabei handelt es sich um das oben unter Rz 5 genannte Erkenntnis vom )) die behauptete Rechtsverletzung, die Verletzung in einem anderen verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht oder die Verletzung in einem sonstigen Recht wegen Anwendung einer rechtswidrigen generellen Norm als so wenig wahrscheinlich erkennen, dass sie keine hinreichende Aussicht auf Erfolg habe.

13 Im Verfahren vor dem Verwaltungsgerichtshof wurde die Beschwerde - als Revision - ergänzt.

Der Verwaltungsgerichtshof hat erwogen:

14 Im verwaltungsgerichtlichen Verfahren macht der Revisionswerber - auf das Wesentliche zusammengefasst - Folgendes geltend:

15 Die angefochtenen Spruchpunkte des in Revision gezogenen Bescheids seien inhaltlich rechtswidrig, weil zum einen die Umlagen- und die Beitragsordnung 2011 nicht gehörig kundgemacht worden und daher nicht anzuwenden seien und zum anderen die belangte Behörde die Anlassfallwirkung der vorgenommenen Aufhebung durch den Verfassungsgerichtshof unzutreffend beurteilt und ihr damit einen verfassungswidrigen Inhalt unterstellt habe:

16 Schon bei der Einladung zur Plenarversammlung vom , in der die Umlagen- und die Beitragsordnung beschlossen worden sei, aber auch bei Vornahme der Abstimmung und bei Ermittlung der maßgebenden Quoren seien erhebliche Mängel aufgetreten, die das Zustandekommen eines gültigen Beschlusses verhindert hätten. Jedenfalls aber sei nicht nachvollziehbar, warum die Umlagenordnung mit ihrem ursprünglichen Inhalt und nicht in der Fassung des in der Plenarversammlung gestellten Zusatzantrags beschlossen worden sein solle. Der Vorsitzende der Plenarversammlung habe den Zusatzantrag zur Umlagenordnung unrichtigerweise als nicht angenommen festgestellt, die nachfolgende "Kundmachung" der Umlagenordnung auf der Internetseite der Rechtsanwaltskammer Wien ohne Berücksichtigung der durch den Zusatzantrag beschlossenen Änderungen weiche vom tatsächlich beschlossenen Inhalt ab; die "kundgemachte" Fassung sei daher nicht gültig erlassen worden, die entsprechende Kundmachung nichtig und nicht anzuwenden.

17 Hinsichtlich der Anlassfallwirkung macht die Revision geltend, die von der belangten Behörde vorgenommene Beurteilung führe dazu, dass dem Revisionswerber eine - von Art 13 EMRK geforderte - wirksame Beschwerdemöglichkeit gegen den angefochtenen Bescheid nicht zur Verfügung stehe. Die belangte Behörde selbst habe (durch Aussetzung der Vorstellungsverfahren) verhindert, dass der Revisionswerber die das dritte und vierte Quartal betreffenden Bescheide "rechtzeitig" beim Verfassungsgerichtshof habe anfechten können, um in den Genuss der Anlassfallwirkung zu kommen. Die Vielzahl an Mängeln bei der Beschlussfassung über die dem angefochtenen Bescheid zu Grunde liegenden Verordnungen (Umlagen- und Beitragsordnung), auf deren Basis dem Revisionswerber Beiträge bzw Umlagen vorgeschrieben worden seien, begründe eine Verletzung des verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechts auf Schutz des Eigentums. Da die Anwendung des Art 140 Abs 7 (wie auch von Art 139 Abs 6) B-VG nicht zu einer Verletzung von Art 13 EMRK führen dürfe, sei eine "verfassungskonforme Interpretation des Art 140 Abs 7 B-VG" erforderlich, weshalb die Umlagen- und die Beitragsordnung, deren Gesetzwidrigkeit der Verfassungsgerichtshof bereits festgestellt habe, im Revisionsfall nicht angewendet werden dürften, käme es doch ansonsten dazu, dass die Mängel bei der Beschlussfassung nicht geltend gemacht werden könnten.

18 An dieses Vorbringen knüpft die Revision - näher ausgeführte - Verfahrensrügen und regt zudem ein Gesetzesprüfungsverfahren beim Verfassungsgerichtshof an.

19 Das Revisionsvorbringen ist nicht zielführend:

20 Gemäß Art 89 Abs 1 B-VG und Art 135 Abs 4 B-VG steht die Prüfung der Gültigkeit (ua) gehörig kundgemachter Verordnungen und Gesetze, soweit in den folgenden Absätzen nichts anderes bestimmt ist, den Gerichten nicht zu. Bei Bedenken gegen die Anwendung einer solchen Norm aus dem Grund der Gesetzbzw Verfassungswidrigkeit ist vielmehr ein Antrag auf Aufhebung der betreffenden Rechtsvorschrift beim Verfassungsgerichtshof zu stellen, im Fall, dass diese bereits außer Kraft getreten ist, ein Antrag auf Feststellung, dass sie gesetz- bzw verfassungswidrig war (Art 89 Abs 2 und 3 B-VG).

21 Art 139 und 140 B-VG lauten auszugsweise wie folgt:

"Artikel 139. (1) Der Verfassungsgerichtshof erkennt über Gesetzwidrigkeit von Verordnungen

...

2. von Amts wegen, wenn er die Verordnung in einer bei ihm

anhängigen Rechtssache anzuwenden hätte;

...

(4) Ist die Verordnung im Zeitpunkt der Fällung des Erkenntnisses des Verfassungsgerichtshofes bereits außer Kraft getreten und wurde das Verfahren von Amts wegen eingeleitet oder der Antrag von einem Gericht oder von einer Person gestellt, die durch die Gesetzwidrigkeit der Verordnung in ihren Rechten verletzt zu sein behauptet, so hat der Verfassungsgerichtshof auszusprechen, ob die Verordnung gesetzwidrig war. Abs. 3 gilt sinngemäß.

(5) Das Erkenntnis des Verfassungsgerichtshofes, mit dem eine Verordnung als gesetzwidrig aufgehoben wird, verpflichtet die zuständige oberste Behörde des Bundes oder des Landes zur unverzüglichen Kundmachung der Aufhebung. Dies gilt sinngemäß für den Fall eines Ausspruches gemäß Abs. 4. Die Aufhebung tritt mit Ablauf des Tages der Kundmachung in Kraft, wenn nicht der Verfassungsgerichtshof für das Außerkrafttreten eine Frist bestimmt, die sechs Monate, wenn aber gesetzliche Vorkehrungen erforderlich sind, 18 Monate nicht überschreiten darf.

(6) Ist eine Verordnung wegen Gesetzwidrigkeit aufgehoben worden oder hat der Verfassungsgerichtshof gemäß Abs. 4 ausgesprochen, dass eine Verordnung gesetzwidrig war, so sind alle Gerichte und Verwaltungsbehörden an den Spruch des Verfassungsgerichtshofes gebunden. Auf die vor der Aufhebung verwirklichten Tatbestände mit Ausnahme des Anlassfalles ist jedoch die Verordnung weiterhin anzuwenden, sofern der Verfassungsgerichtshof nicht in seinem aufhebenden Erkenntnis anderes ausspricht. Hat der Verfassungsgerichtshof in seinem aufhebenden Erkenntnis eine Frist gemäß Abs. 5 gesetzt, so ist die Verordnung auf alle bis zum Ablauf dieser Frist verwirklichten Tatbestände mit Ausnahme des Anlassfalles anzuwenden.

...

Artikel 140. (1) Der Verfassungsgerichtshof erkennt

über Verfassungswidrigkeit

1. von Gesetzen

...

b) von Amts wegen, wenn er das Gesetz in einer bei ihm

anhängigen Rechtssache anzuwenden hätte;

...

(4) Ist das Gesetz im Zeitpunkt der Fällung des Erkenntnisses des Verfassungsgerichtshofes bereits außer Kraft getreten und wurde das Verfahren von Amts wegen eingeleitet oder der Antrag von einem Gericht oder von einer Person gestellt, die durch die Verfassungswidrigkeit des Gesetzes in ihren Rechten verletzt zu sein behauptet, so hat der Verfassungsgerichtshof auszusprechen, ob das Gesetz verfassungswidrig war. Abs. 3 gilt sinngemäß.

(5) Das Erkenntnis des Verfassungsgerichtshofes, mit dem ein Gesetz als verfassungswidrig aufgehoben wird, verpflichtet den Bundeskanzler oder den zuständigen Landeshauptmann zur unverzüglichen Kundmachung der Aufhebung. Dies gilt sinngemäß für den Fall eines Ausspruches gemäß Abs. 4. Die Aufhebung tritt mit Ablauf des Tages der Kundmachung in Kraft, wenn nicht der Verfassungsgerichtshof für das Außerkrafttreten eine Frist bestimmt. Diese Frist darf 18 Monate nicht überschreiten.

(6) Wird durch ein Erkenntnis des Verfassungsgerichtshofes ein Gesetz als verfassungswidrig aufgehoben, so treten mit dem Tag des Inkrafttretens der Aufhebung, falls das Erkenntnis nicht anderes ausspricht, die gesetzlichen Bestimmungen wieder in Kraft, die durch das vom Verfassungsgerichtshof als verfassungswidrig erkannte Gesetz aufgehoben worden waren. In der Kundmachung über die Aufhebung des Gesetzes ist auch zu verlautbaren, ob und welche gesetzlichen Bestimmungen wieder in Kraft treten.

(7) Ist ein Gesetz wegen Verfassungswidrigkeit aufgehoben worden oder hat der Verfassungsgerichtshof gemäß Abs. 4 ausgesprochen, dass ein Gesetz verfassungswidrig war, so sind alle Gerichte und Verwaltungsbehörden an den Spruch des Verfassungsgerichtshofes gebunden. Auf die vor der Aufhebung verwirklichten Tatbestände mit Ausnahme des Anlassfalles ist jedoch das Gesetz weiterhin anzuwenden, sofern der Verfassungsgerichtshof nicht in seinem aufhebenden Erkenntnis anderes ausspricht. Hat der Verfassungsgerichtshof in seinem aufhebenden Erkenntnis eine Frist gemäß Abs. 5 gesetzt, so ist das Gesetz auf alle bis zum Ablauf dieser Frist verwirklichten Tatbestände mit Ausnahme des Anlassfalles anzuwenden.

..."

22 Ausgehend von Art 89 Abs 1 B-VG hat ein Gericht eine Verordnung bzw ein Gesetz dann als nicht existent zu betrachten und es nicht anzuwenden, wenn eine gehörige, also eine gesetzmäßige Kundmachung fehlt (vgl etwa , vom , 2003/08/0096, vom , 2003/07/0171, und vom , 2013/17/0857); eine Antragstellung nach Art 89 Abs 2 B-VG wäre daher unzulässig (vgl die Entscheidungen des Verfassungsgerichtshofs VfSlg 14457/1996 und 14525/1996), wiewohl der Verfassungsgerichtshof im Hinblick auf Art 139 Abs 3 lit c B-VG dazu verhalten ist, Verordnungen auch auf ihre Kundmachung zu überprüfen und im Falle der gesetzwidrigen Kundmachung aufzuheben (vgl etwa die Erkenntnisse des Verfassungsgerichtshofs VfSlg 14457/1996 und 16281/2001).

23 Auf der Grundlage des Art 139 Abs 6 bzw Art 140 Abs 7 B-VG wirkt die Entscheidung des Verfassungsgerichtshofs betreffend die Aufhebung einer Verordnung oder eines Gesetzes grundsätzlich für die Zukunft, wobei der Verfassungsgerichtshof für das Außerkrafttreten der Norm darüber hinaus noch eine Frist von bis zu 18 Monaten setzen kann. Eine Rückwirkung tritt als Ausnahme von diesem Grundsatz nur für den "Anlassfall" ein.

24 Der vom Verfassungsgesetzgeber mit der Novelle BGBl Nr 302/1975 aus der früheren Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes übernommene Begriff des Anlassfalles ist zunächst (VfSlg 8234/1978) auf jene Fälle beschränkt verstanden worden, die tatsächlich zur Einleitung eines Normenprüfungsverfahrens geführt haben. Zwecks Loslösung von "Zufälligkeiten des Geschäftsganges und insbesondere von der Menge und Art der anfallenden Rechtssachen, also ausschließlich von Umständen im Schoße des Gerichtshofes selbst," hat ihn der Verfassungsgerichtshof jedoch später dahin ausgelegt, dass er alle im Zeitpunkt der Ausschreibung der Verhandlung anhängig gewordenen Fälle erfasst (VfSlg 10.067/1984); nach Eröffnung der Möglichkeit (durch die Änderung des Verfassungsgerichtshofgesetzes im Gefolge der B-VG-Novelle 1984), auch im Normenprüfungsverfahren von einer mündlichen Verhandlung abzusehen, hat er schließlich der Ausschreibung der Verhandlung den Beginn der nichtöffentlichen Beratung gleichgesetzt (VfSlg 10.616/1985). In seinem Erkenntnis VfSlg 17.687/2005 hat der Verfassungsgerichtshof - in teilweiser Abkehr von seiner Vorjudikatur - entschieden, diese Gleichstellung in jenen Fällen nicht (mehr) vorzunehmen, in denen der ein Verwaltungsverfahren einleitende Antrag erst nach Bekanntmachung des Prüfungsbeschlusses gestellt wurde, mag auch die Beschwerde gegen den letztinstanzlichen Bescheid dann noch vor dem Beginn der Beratung beim Verfassungsgerichtshof eingelangt sein (vgl zum Ganzen - neben den unter Rz 12 genannten Entscheidungen des Verfassungsgerichtshofs - auch etwa , vom , 2013/03/0120, und vom , Ro 2015/03/0020).

25 Aus Art 139 Abs 6 bzw Art 140 Abs 7 B-VG ergibt sich weiters, dass der Verfassungsgerichtshof aussprechen kann, dass eine von ihm aufgehobene Norm - über den Anlassfall im engeren Sinn hinausgehend - auch auf frühere Sachverhalte nicht mehr anzuwenden ist. Der Verfassungsgerichtshof kann also der Aufhebung Rückwirkung beilegen. Die diesbezügliche Befugnis ist weder zeitlich noch personell begrenzt: So hat der Verfassungsgerichtshof im Erkenntnis VfSlg 8.233/1978 die Anwendung des aufgehobenen Gesetzes auf die vor der Aufhebung verwirklichten Tatbestände ausgeschlossen, im Erkenntnis VfSlg 11.918/1988 die Anlassfallwirkung auf beim Verwaltungsgerichtshof anhängige Beschwerdesachen ausgedehnt (ebenso im Erkenntnis VfSlg 19.887/2014). Im Fall des Erkenntnisses VfSlg 11.190/1986 wurde die Anlassfallwirkung darüber hinaus auch auf die Rechtssachen ausgedehnt, in denen zu einem bestimmten Stichtag bei den Behörden Berufungsverfahren anhängig waren, mit dem Erkenntnis VfSlg 14.723/1997 wiederum die Wirkung der Aufhebung auch auf bereits rechtskräftig entschiedene Fälle ausgedehnt.

26 Wird ein derartiger Ausspruch vom Verfassungsgerichtshof aber nicht getroffen und handelt es sich nicht um einen (Quasi-)Anlassfall, ist die aufgehobene Norm auf vor der Aufhebung verwirklichte Sachverhalte weiterhin anzuwenden. Diese bleibt also zur Gänze anwendbar und wird vielmehr "verfassungsrechtlich unangreifbar" bzw "immunisiert". Die Einleitung eines weiteren Verordnungs- bzw Gesetzesprüfungsverfahrens und eine - neuerliche -

Aufhebung etwa aufgrund anderer Bedenken kommt nicht in Betracht (vgl etwa die Erkenntnisse des Verfassungsgerichtshofs VfSlg 8277/1978, 12.564/1990, 13.297/1992, 14.136/1995, 15.978/2000 und 17.687/2005; vgl ferner , und vom , 2009/07/0168). Nichts entscheidend anderes gilt dann, wenn nicht die Aufhebung einer rechtswidrigen generellen Norm erfolgt ist, sondern ein Ausspruch nach Art 139 Abs 4 B-VG bzw Art 140 Abs 4 B-VG). Die betreffende, als verfassungs- bzw gesetzwidrig erkannte Norm ist zwar im Anlassfall nicht anzuwenden, auf sonstige früher verwirklichte Sachverhalte hingegen schon (vgl etwa die Erkenntnisse des Verfassungsgerichtshofs VfSlg 12.564 und VfSlg 14.136, sowie , vom , 2007/04/0024, vom , 2003/06/0132).

27 Das von der Revision beklagte Fehlen einer "wirksamen" Beschwerdemöglichkeit ist Konsequenz der nach Art 139 bzw Art 140 B-VG vorgegebenen Konzeption der grundsätzlich - mit Ausnahme des Anlassfalles und einer vom Verfassungsgerichtshof auszusprechenden Rückwirkung -für die Zukunft, nicht aber die Vergangenheit wirkenden Entscheidung des Verfassungsgerichtshofs betreffend die Aufhebung eines Gesetzes oder einer Verordnung bzw die Fällung eines Ausspruchs nach Art 139 Abs 4 oder Art 140 Abs 4 B-VG.

Vor dem Hintergrund des Verfassungsrangs dieser Bestimmungen und ihrer eindeutigen (oben wiedergegebenen) Auslegung durch die ständige Judikatur des Verfassungsgerichtshofs kommt die von der Revision gewünschte Auslegung - ungeachtet der ebenfalls auf der Stufe eines Verfassungsgesetzes stehenden Regelung des Art 13 EMRK - nicht in Betracht.

28 Soweit die Revision zudem eine nicht gehörige Kundmachung der Umlagen- und der Beitragsordnung geltend macht, übersieht sie Folgendes: Der Verfassungsgerichtshof hat im unter Rz 5 genannten Erkenntnis vom die dort dargestellten Vorschriften der RAO und der Umlagen- und der Beitragsordnung geprüft und hinsichtlich der in Rede stehenden Bestimmungen der Umlagen- und der Beitragsordnung, gegen deren ordnungsgemäße Kundmachung er keine Bedenken hegte, weil mangels ausdrücklicher Kundmachungsvorschriften die Kundmachung der Verordnungen auf der Internetseite der Rechtsanwaltskammer Wien als geeignet und ausreichend anzusehen sei (vgl Pkt 4.2.6 des Erkenntnisses), ihre Gesetzwidrigkeit festgestellt. Diese Feststellung "immunisiert" nach dem oben Gesagten die kundgemachten Verordnungen gegen weitergehende Bedenken. Die Umlagenordnung in der Fassung des in der Plenarversammlung gestellten Zusatzantrags (nach den Revisionsausführungen sei diese Fassung tatsächlich beschlossen worden) ist aber schon mangels Kundmachung nicht anzuwenden.

29 Der Revisionswerber hat die nunmehr geltend gemachten Bedenken im Wesentlichen schon in seiner Beschwerde an den Verfassungsgerichtshof erhoben. Dieser hat sie - im Einklang mit der (oben wiedergegebenen) ständigen Judikatur - nicht geteilt und die Behandlung der Beschwerde abgelehnt. Vor diesem Hintergrund sieht sich der Verwaltungsgerichthof auf Basis des Revisionsvorbringens nicht veranlasst, neuerlich mit einem Gesetzes- bzw Verordnungsprüfungsantrag an den Verfassungsgerichtshof heranzutreten.

30 Die Revision war daher gemäß § 42 Abs 1 VwGG als unbegründet abzuweisen.

Wien, am

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Schlagworte:
Anzuwendendes Recht Maßgebende Rechtslage VwRallg2

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