VwGH vom 23.06.2015, Ro 2014/22/0038

VwGH vom 23.06.2015, Ro 2014/22/0038

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Köhler, Hofrat Dr. Robl, Hofrätin Mag.a Merl und die Hofräte Dr. Mayr und Dr. Schwarz als Richter, im Beisein der Schriftführerin Mag.a Lechner, über die Revision der Bundesministerin für Inneres gegen das Erkenntnis des Landesverwaltungsgerichtes Tirol vom , Zl. LVwG- 2014/17/0437-3, betreffend Niederlassungsbewilligung (mitbeteiligte Partei: H U, vertreten durch Mag. Dr. Maria Lisa Doll-Aidin, Rechtsanwältin in 5020 Salzburg, Rudolfskai 54; belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht:

Bezirkshauptmannschaft Schwaz), zu Recht erkannt:

Spruch

Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.

Begründung

Mit Bescheid vom wies die Bezirkshauptmannschaft Schwaz den Antrag des Mitbeteiligten, eines türkischen Staatsangehörigen, auf Erteilung einer Niederlassungsbewilligung gemäß § 43 Niederlassungs- und Aufenthaltsgesetz (NAG) in der Fassung BGBl. I Nr. 68/2013 mit der Begründung ab, dass der Mitbeteiligte auf Grund seiner bisherigen saisonalen Beschäftigung kein durchgehendes Aufenthaltsrecht in Österreich besitze. Es lägen keine ein Jahr übersteigende Erwerbs- oder Aufenthaltszeiten vor, daher könne der Mitbeteiligte keine Rechte aus dem Beschluss Nr. 1/80 des Assoziationsrates EWG-Türkei vom (ARB) ableiten.

Mit dem angefochtenen Erkenntnis gab das Landesverwaltungsgericht der Beschwerde des Mitbeteiligten Folge, behob den erstinstanzlichen Bescheid und erteilte dem Mitbeteiligten gemäß § 43 Abs. 2 NAG eine Niederlassungsbewilligung für die Dauer eines Jahres. Weiters erklärt es die ordentliche Revision für zulässig.

In der Begründung verwies das Verwaltungsgericht im Wesentlichen darauf, dass für den Mitbeteiligten seit dem Jahr 2001 insgesamt 25 Beschäftigungsbewilligungen ausgestellt worden seien, wobei von 2005 bis 2013 immer eine Sommer- und eine Winterbewilligung für jeweils ca. viereinhalb Monate ausgestellt worden sei. Der Mitbeteiligte habe in jedem Jahr mehr als acht Monate in Österreich gearbeitet. Das bedeute, dass er in acht Jahren zumindest 64 Monate beschäftigt gewesen sei. Somit sei der Mitbeteiligte in acht Jahren zumindest fünf Jahre und vier Monate in Österreich aufhältig und berufstätig gewesen.

In der weiteren Begründung zitierte das Verwaltungsgericht das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichtes vom , mit dem dem Mitbeteiligten ein Befreiungsschein gemäß § 15 Abs. 1 Z 1 Ausländerbeschäftigungsgesetz (AuslBG) erteilt wurde.

Im genannten Erkenntnis kam das Bundesverwaltungsgericht im Wesentlichen mit ausführlicher Begründung zum Schluss, dass sich der Mitbeteiligte auf die Stillhalteklausel des Art. 13 ARB berufen könne. Nach der Rechtslage bis habe eine Person wie der Mitbeteiligte bei Erfüllung der Anspruchsvoraussetzungen des § 15 Abs. 1 Z 1 AuslBG Anspruch auf Ausstellung eines Befreiungsscheins gehabt, ohne nachweisen zu müssen, dass er bereits rechtmäßig niedergelassen sei. Nach der seit geltenden Rechtslage sei die Erlangung eines solchen Befreiungsscheins ohne Vorliegen einer Niederlassungsbewilligung nicht mehr möglich und nach der Rechtslage seit würden Befreiungsscheine überhaupt nicht mehr ausgestellt. Somit stellten diese Rechtsänderungen neue Beschränkungen der Bedingungen für den Zugang zum Arbeitsmarkt im Sinn von Art. 13 ARB dar. Da der Mitbeteiligte unstrittig die Voraussetzungen für einen Befreiungsschein erfülle (rechtmäßige Beschäftigung als Saisonarbeitskraft während einer Dauer von fünf Jahren innerhalb der letzten acht Jahre), sei ihm ein Befreiungsschein nach § 15 Abs. 1 Z 1 AuslBG in der Fassung vor BGBl. I Nr. 101/2005 zu gewähren.

(Die gegen dieses Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichtes erhobene Revision wies der Verwaltungsgerichtshof mit Erkenntnis vom , Ro 2014/09/0057, als unbegründet ab.)

Im hier angefochtenen Erkenntnis gelangte das Landesverwaltungsgericht ausgehend von der zitierten Begründung des Bundesverwaltungsgerichts zum Schluss, es sei dem Mitbeteiligten "daher" eine Niederlassungsbewilligung für die Dauer eines Jahres gemäß § 43 Abs. 2 NAG zu gewähren.

Die Revision sei zulässig, weil die Entscheidung von der Lösung einer Rechtsfrage abhänge, der grundsätzliche Bedeutung zukomme. Der Verwaltungsgerichtshof habe nämlich zur Frage, ob Tätigkeiten im Rahmen einer Bewilligung als Saisonarbeitskraft eine gesicherte und nicht nur vorläufige Position vermittle, nicht ausdrücklich Stellung genommen.

Gegen dieses Erkenntnis richtet sich die Revision der Bundesministerin für Inneres, der Mitbeteiligte erstattete eine Revisionsbeantwortung.

Der Verwaltungsgerichtshof hat erwogen:

Zunächst wird gemäß § 43 Abs. 2 zweiter Satz VwGG auf die Entscheidungsgründe des bereits zitierten hg. Erkenntnisses vom , Ro 2014/09/0057, verwiesen. Mit diesem Erkenntnis bestätigte der Verwaltungsgerichtshof im Fall des Mitbeteiligten die bereits dargelegte Ansicht des Bundesverwaltungsgerichtes, dass der Mitbeteiligte einen Anspruch auf Erteilung eines Befreiungsscheines habe. Der Mitbeteiligte könne sich nämlich auf Grund seiner Saisonarbeitstätigkeit auf die Stillhalteklausel des Art. 13 ARB ("Die Mitgliedstaaten der Gemeinschaft und die Türkei dürfen für Arbeitnehmer und ihre Familienangehörigen, deren Aufenthalt und Beschäftigung in ihrem Hoheitsgebiet ordnungsgemäß sind, keine neuen Beschränkungen der Bedingungen für den Zugang zum Arbeitsmarkt einführen.") berufen. Er habe über eine gesicherte und nicht nur vorläufige Position am österreichischen Arbeitsmarkt verfügt und sei daher ordnungsgemäß im Sinn des Art. 13 ARB beschäftigt gewesen, obwohl sein Aufenthalt wegen der saisonalen Beschäftigung immer wieder unterbrochen gewesen sei.

Gemäß § 15 Abs. 1 Z 1 AuslBG in der Fassung BGBl. I Nr. 126/2002 sei einem Ausländer auf Antrag ein Befreiungsschein für fünf Jahre auszustellen gewesen, wenn dieser während der letzten acht Jahre mindestens fünf Jahre im Bundesgebiet mit einer dem Geltungsbereich des AuslBG unterliegenden Tätigkeit erlaubt beschäftigt gewesen sei. Mit BGBl. I Nr. 101/2005 sei diese Rechtslage dahin verändert worden, dass das Erfordernis der rechtmäßigen Niederlassung hinzugefügt worden sei. Dies stelle eine neue Beschränkung im Sinn der Stillhalteklausel des Art. 13 ARB dar, welche außer Acht zu lassen sei. Mit Wirkung vom sei dann das Rechtsinstitut des Befreiungsscheines des § 15 aus dem AuslBG entfernt worden. Auch diese Entfernung des Befreiungsscheins aus § 15 AuslBG sei als eine "neue Beschränkung" zu betrachten, die kraft der Stillhalteklausel des Art. 13 ARB für türkische Staatsangehörige keine Wirkung habe.

Mit diesem Erkenntnis stellte der Verwaltungsgerichtshof zusammengefasst klar, dass eine unterbrochene saisonale Beschäftigung der Anwendung der Stillhalteklausel des Art. 13 ARB nicht entgegenstehe, weil die Beschäftigung trotzdem als "ordnungsgemäß" anzusehen ist.

Darauf aufbauend meinte das Landesverwaltungsgericht Tirol im vorliegenden Fall, dass dem Mitbeteiligten "daher" eine Niederlassungsbewilligung nach § 43 Abs. 2 NAG zu erteilen sei.

Damit hat es jedoch die Rechtslage verkannt.

Gemäß § 81 Abs. 26 NAG war dieses mit Ablauf des bei der Bundesministerin für Inneres anhängige Berufungsverfahren vom Landesverwaltungsgericht Tirol nach den Bestimmungen des NAG in der Fassung vor BGBl. I Nr. 87/2012 zu Ende zu führen. Gemäß § 43 Abs. 2 NAG konnte (und kann immer noch) Drittstaatsangehörigen, denen auf Grund eines Rechtsaktes der Europäischen Union Niederlassungsfreiheit zukommt, für die Ausübung einer selbständigen Erwerbstätigkeit eine "Niederlassungsbewilligung" erteilt werden, wenn sie die Voraussetzungen des ersten Teiles des NAG erfüllen.

Der Mitbeteiligte verfügte zwar über eine ordnungsgemäße Beschäftigung und kann sich demnach - wie bereits ausführlich dargelegt - auf Art. 13 ARB berufen. Damit kommt ihm aber - worauf die Revisionswerberin zutreffend hinweist - noch keine Berechtigung nach Art. 6 ARB zu.

Gemäß Art. 6 Abs. 1 ARB 1/80 hat - vorbehaltlich der hier fallbezogen nicht in Betracht kommenden Bestimmungen in Art. 7 ARB - ein türkischer Arbeitnehmer, der dem regulären Arbeitsmarkt eines Mitgliedstaates angehört, in diesem Mitgliedstaat


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-
nach einem Jahr ordnungsgemäßer Beschäftigung Anspruch auf Erneuerung seiner Arbeitserlaubnis bei dem gleichen Arbeitgeber, wenn er über einen Arbeitsplatz verfügt;
-
nach drei Jahren ordnungsgemäßer Beschäftigung - vorbehaltlich des den Arbeitnehmern aus den Mitgliedstaaten der Gemeinschaft einzuräumenden Vorrangs - das Recht, sich für den gleichen Beruf bei einem Arbeitgeber seiner Wahl auf ein unter normalen Bedingungen unterbreitetes und bei den Arbeitsämtern dieses Mitgliedsstaates eingetragenes anderes Stellenangebot zu bewerben;
-
nach vier Jahren ordnungsgemäßer Beschäftigung freien Zugang zu jeder von ihm gewählten Beschäftigung im Lohn- oder Gehaltsverhältnis.

Gemäß Art. 6 Abs. 2 des ARB werden der Jahresurlaub und die Abwesenheit wegen Mutterschaft, Arbeitsunfall oder kurzer Krankheit den Zeiten ordnungsgemäßer Beschäftigung gleichgestellt.

Die Zeiten unverschuldeter Arbeitslosigkeit, die von den zuständigen Behörden ordnungsgemäß festgestellt worden sind, sowie die Abwesenheit wegen langer Krankheit werden zwar nicht den Zeiten ordnungsgemäßer Beschäftigung gleichgestellt, berühren jedoch nicht die aufgrund der vorherigen Beschäftigungszeiten erworbenen Ansprüche.

Nun sind dem Wortlaut des ARB keine expliziten aufenthaltsrechtlichen Vergünstigungen zu entnehmen (vgl. Akyürek , Das Assoziationsabkommen EWG-Türkei, 124). Allerdings impliziert ein Recht auf Beschäftigung notwendigerweise ein Aufenthaltsrecht. Dieses Aufenthaltsrecht als Folge des Rechts auf Zugang zum Arbeitsmarkt und auf die tatsächliche Ausübung einer Beschäftigung ist ab diesem Zeitpunkt unmittelbar aus dem ARB herzuleiten und wird nicht erst durch die Erteilung einer entsprechenden nationalen Erlaubnis begründet. Deshalb hat eine Aufenthaltserlaubnis für die Anerkennung des Aufenthaltsrechtes nur eine deklaratorische Bedeutung und Beweisfunktion (vgl. auch dazu Akyürek , a.a.O., 124f, sowie das hg. Erkenntnis vom , 2008/22/0687).

Klarzustellen ist, dass der Anwendung von Art. 13 ARB nicht entgegensteht, dass die betreffenden Arbeitnehmer nicht bereits in den Arbeitsmarkt integriert sind, also die Voraussetzungen gemäß Art. 6 Abs. 1 des ARB nicht erfüllen. Art. 13 ARB soll vielmehr gerade für jene türkischen Staatsangehörigen gelten, die noch keine Rechte in Bezug auf Beschäftigung und entsprechend auf Aufenthalt nach Art. 6 Abs. 1 ARB genießen (vgl. das bereits zitierte Erkenntnis Ro 2014/09/0057).

Mit dem angefochtenen Erkenntnis bejahte das Landesverwaltungsgericht erkennbar eine Aufenthaltsberechtigung des Mitbeteiligten allein deswegen, weil er ordnungsgemäß beschäftigt und aufhältig gewesen sei und deshalb die Stillhalteklausel des Art. 13 ARB auf ihn Anwendung finde. Das Landesverwaltungsgericht hat jedoch nicht überprüft, ob er auch eine Berechtigung nach Art. 6 ARB - und damit ein Recht auf Aufenthalt - erworben hat. Durch den "automatischen" Schluss von einer ordnungsgemäßen Beschäftigung auf eine Berechtigung nach Art. 6 ARB hat das Landesverwaltungsgericht die Rechtslage verkannt. Einer Berechtigung nach Art. 6 ARB steht im Übrigen entgegen, dass der Mitbeteiligte unbestritten nicht zumindest ein Jahr ununterbrochen bei dem gleichen Arbeitgeber beschäftigt war.

Da sich somit der Mitbeteiligte zwar auf die Stillhalteklausel des Art. 13 ARB hinsichtlich der Möglichkeit des Erwerbs einer assoziationsrechtlichen Berechtigung berufen kann, diese Berechtigung (fallbezogen nach Art. 6 Abs. 1 ARB) aber (noch) nicht erworben hat, besteht schon aus diesem Grund kein aus dem ARB abzuleitender Anspruch auf einen inländischen Aufenthaltstitel.

Dazu kommt, dass türkische Staatsangehörige nicht von vornherein niederlassungsberechtigt sind (vgl. das hg. Erkenntnis vom , 2008/22/0559) und dies der begehrten Niederlassungsbewilligung nach § 43 Abs. 2 NAG entgegensteht. Letztlich gewährt § 43 Abs. 2 NAG nach seinem klaren Wortlaut die Berechtigung zur Ausübung einer selbständigen Erwerbstätigkeit, die aber nicht von Art. 6 ARB umfasst ist und vom Mitbeteiligten auch nicht angestrebt wird.

Somit erweist sich die Zuerkennung einer Niederlassungsbewilligung nach § 43 Abs. 2 NAG mehrfach verfehlt und es war das angefochtene Erkenntnis gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG wegen inhaltlicher Rechtswidrigkeit aufzuheben.

Wien, am