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VwGH vom 24.03.2015, Ro 2014/21/0079

VwGH vom 24.03.2015, Ro 2014/21/0079

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch die Vorsitzende Vizepräsidentin Dr.in Sporrer, die Hofräte Dr. Pelant, Dr. Sulzbacher und Dr. Pfiel sowie die Hofrätin Dr. Julcher als Richterinnen und Richter, im Beisein des Schriftführers Mag. Uhlir, über die Revision des H Ö, vertreten durch Gloß Pucher Leitner Schweinzer Burger Gloß, Rechtsanwälte in 3100 St. Pölten, Wiener Straße 3, gegen den Bescheid des Unabhängigen Verwaltungssenates im Land Niederösterreich vom , Zl. Senat-AB-10-3034, betreffend Erlassung eines befristeten Aufenthaltsverbotes (weitere Partei: Bundesministerin für Inneres), zu Recht erkannt:

Spruch

Der angefochtene Bescheid wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.

Der Bund hat dem Revisionswerber Aufwendungen in der Höhe von EUR 1.346,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

Der Revisionswerber, ein türkischer Staatsangehöriger, heiratete im Jahr 2000 die Österreicherin X, die er während ihres Urlaubs in der Türkei kennengelernt hatte. Er zog am zu ihr nach Österreich, verfügte über einen Aufenthaltstitel und ging verschiedenen Berufstätigkeiten, vor allem als Staplerfahrer, nach. Der Ehe, die nach wie vor aufrecht ist, entstammt der 2004 geborene Sohn J. Die Ehegatten leben allerdings ab dem Jahr 2004 getrennt, seit 2012 unterhält der Revisionswerber eine neue Lebensgemeinschaft mit der österreichischen Staatsbürgerin Y. Die alleinige Obsorge für den Sohn J. hat die Ehefrau, der Revisionswerber besuchte ihn rund einmal im Monat.

Mit dem angefochtenen, im Instanzenzug ergangenen Bescheid vom erließ der Unabhängige Verwaltungssenat im Land Niederösterreich (die belangte Behörde) gegen den Revisionswerber gemäß § 67 Abs. 1 Fremdenpolizeigesetz 2005 (FPG) ein auf acht Jahre befristetes Aufenthaltsverbot. Dies begründete die belangte Behörde damit, dass das Landesgericht St. Pölten mit rechtskräftigem Urteil vom über den Revisionswerber wegen des Vergehens der Zuhälterei (begangen von Jänner bis Februar 2008), des Verbrechens der Erpressung (im Februar 2008) und des Verbrechens der Vergewaltigung (im Februar 2008) eine zweieinhalbjährige Freiheitsstrafe verhängt habe. Diese habe er - unter Anrechnung der Vorhaft - zwischen und dem Jahr 2010 verbüßt.

Rechtlich folge aus der aufrechten Ehe mit einer Österreicherin die Anwendbarkeit der "Bestimmungen gemäß § 65b FPG". Demnach entfalle eine Prüfung, ob der Revisionswerber auch die Voraussetzungen nach Art. 6 oder 7 des Beschlusses Nr. 1/80 des Assoziationsrates EWG/Türkei über die Entwicklung der Assoziation vom (kurz: ARB) erfülle. Der Revisionswerber habe vor Verwirklichung des maßgeblichen Sachverhalts, also vor dem Zeitpunkt der von ihm begangenen Straftaten, seinen Hauptwohnsitz noch nicht zehn Jahre im Bundesgebiet gehabt, sodass - hinsichtlich des heranzuziehenden Gefährdungsmaßstabes - lediglich die ersten vier Sätze des § 67 Abs. 1 FPG anzuwenden seien. Die Begehung von "Sexualverbrechen" stelle ein besonders verwerfliches Verhalten dar und berühre zweifellos Grundinteressen der Gesellschaft. Die Straftaten verdeutlichten, dass das Verhalten des Revisionswerbers keinesfalls als "einmalige Unbesonnenheit" bezeichnet werden könne, sondern vielmehr eine hohe kriminelle Energie vorgelegen sei. Zudem habe er seine Taten stets bestritten, woraus das Fehlen jedes Unrechtsbewusstseins abzuleiten sei. Daraus folge eine gänzlich negative Grundeinstellung gegenüber österreichischen Rechtsvorschriften und damit einhergehend ein äußerst hohes Gefährdungspotenzial hinsichtlich der Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung und Sicherheit, sodass eine entsprechende Gefährlichkeitsprognose bei einem weiteren Verbleib in Österreich zweifelsfrei gerechtfertigt sei.

Der Abwägung nach § 61 FPG liegt sachverhaltsmäßig zu Grunde, dass der Revisionswerber im Jahr 2004 "länger in der Türkei aufhältig" gewesen sei. Er habe in der Folge "einige Zeit sexuelle Beziehungen mit Prostituierten" unterhalten. Seine aktuelle Lebensgemeinschaft bestehe (neben aufrechter Ehe) seit dem Jahr 2012. An Wochenenden fänden Unternehmungen auch mit den beiden Kindern seiner Lebensgefährtin statt. Der Revisionswerber sei regelmäßig - wenn auch nur temporär - einer Beschäftigung nachgegangen. Er spreche nur mäßig deutsch. Zumindest einmal in der Woche besuche er die Moschee. Bei seinen Freunden handle es sich vorwiegend um türkische Staatsangehörige, mit denen er sich entweder in der Moschee oder in türkischen Lokalen treffe, wobei ausschließlich türkisch gesprochen werde. Ein Bruder, der nicht deutsch spreche, lebe seit rund einem Jahr in Österreich. Zu diesem bestehe regelmäßiger Kontakt (alle ein bis zwei Wochen). Der Revisionswerber fahre regelmäßig in die Türkei zu seiner kranken Mutter. Zu seinem weiteren Bruder und seinem Vater, die beide in der Türkei lebten, habe er keinen Kontakt.

Eine soziale und kulturelle Integration in Österreich sei demnach, so folgerte die belangte Behörde, zu verneinen. Zu berücksichtigen seien jedoch die aktuelle - allerdings erst nach Erlassung des erstinstanzlichen Aufenthaltsverbotes (im Jahr 2010) eingegangene - Lebensgemeinschaft und der Kontakt zu seinem Sohn J., für den freilich die Mutter die Obsorge habe und den der Revisionswerber nur einmal im Monate sehe. Insgesamt müssten seine "Privatinteressen" an einem weiteren Verbleib in Österreich im Vergleich zu den in Art. 8 EMRK genannten Zielen als deutlich nachrangig gewertet werden. Die Dauer des Aufenthaltsverbotes berücksichtige die - wenn auch nicht starken - familiären Bindungen und das Wohlverhalten zumindest seit der Haftentlassung.

Gegen diesen Bescheid erhob der Revisionswerber zunächst Beschwerde an den Verfassungsgerichtshof, der deren Behandlung mit Beschluss vom , B 306/2014-5, ablehnte und sie dem Verwaltungsgerichtshof zur Entscheidung abtrat.

In dieser Konstellation kann - analog § 4 Abs. 1 erster Satz Verwaltungsgerichtsbarkeits-Übergangsgesetz (VwGbk-ÜG) - in sinngemäßer Anwendung des Art. 133 Abs. 1 Z 1 B-VG Revision beim Verwaltungsgerichtshof erhoben werden (vgl. etwa die hg. Beschlüsse vom , Zl. Ro 2014/10/0029, und vom , Zl. Ro 2014/21/0052). Davon wurde nach Abtretung der Beschwerde in Befolgung des dann erteilten Verbesserungsauftrages Gebrauch gemacht.

Der Verwaltungsgerichtshof hat über diese - infolge Abweichens von seiner bisherigen Judikatur zulässige - Revision nach Aktenvorlage (Revisionsbeantwortungen wurden nicht erstattet) erwogen:

Die belangte Behörde hat bei Erlassung des bekämpften Bescheides (richtig - allerdings nur) im Ergebnis zutreffend - auf § 67 Abs. 1 FPG in der Fassung des FrÄG 2011 Bezug genommen.

Die Vorgängerbestimmung des § 67 Abs. 1 FPG (§ 86 Abs. 1 FPG in der Fassung des FrÄG 2009) lautete:

"§ 86. (1) Die Erlassung eines Aufenthaltsverbotes gegen gemeinschaftsrechtlich aufenthaltsberechtigte EWR-Bürger, Schweizer Bürger oder begünstigte Drittstaatsangehörige ist zulässig, wenn auf Grund ihres persönlichen Verhaltens die öffentliche Ordnung oder Sicherheit gefährdet ist. Das persönliche Verhalten muss eine tatsächliche, gegenwärtige und erhebliche Gefahr darstellen, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt. Strafrechtliche Verurteilungen allein können nicht ohne weiteres diese Maßnahmen begründen. Vom Einzelfall losgelöste oder auf Generalprävention verweisende Begründungen sind nicht zulässig. Die Erlassung eines Aufenthaltsverbotes gegen EWR-Bürger, Schweizer Bürger oder begünstigte Drittstaatsangehörige, die vor Verwirklichung des maßgeblichen Sachverhaltes ihren Aufenthalt ununterbrochen seit zehn Jahren im Bundesgebiet hatten, ist dann zulässig, wenn aufgrund des persönlichen Verhaltens des Fremden davon ausgegangen werden kann, dass die öffentliche Sicherheit der Republik Österreich durch seinen Verbleib im Bundesgebiet nachhaltig und maßgeblich gefährdet würde. Dasselbe gilt für Minderjährige, es sei denn, das Aufenthaltsverbot wäre zum Wohl des Kindes notwendig, wie es im Übereinkommen der Vereinten Nationen vom über die Rechte des Kindes vorgesehen ist."

An die Stelle des § 86 Abs. 1 FPG ist - wie erwähnt - mit dem FrÄG 2011 ab § 67 Abs. 1 FPG getreten. Darin wird nunmehr angeordnet:

"§ 67. (1) Die Erlassung eines Aufenthaltsverbotes gegen unionsrechtlich aufenthaltsberechtigte EWR-Bürger, Schweizer Bürger oder begünstigte Drittstaatsangehörige ist zulässig, wenn auf Grund ihres persönlichen Verhaltens die öffentliche Ordnung oder Sicherheit gefährdet ist. Das persönliche Verhalten muss eine tatsächliche, gegenwärtige und erhebliche Gefahr darstellen, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt. Strafrechtliche Verurteilungen allein können nicht ohne weiteres diese Maßnahmen begründen. Vom Einzelfall losgelöste oder auf Generalprävention verweisende Begründungen sind nicht zulässig. Die Erlassung eines Aufenthaltsverbotes gegen EWR-Bürger, Schweizer Bürger oder begünstigte Drittstaatsangehörige, die ihren Aufenthalt seit zehn Jahren im Bundesgebiet hatten, ist dann zulässig, wenn aufgrund des persönlichen Verhaltens des Fremden davon ausgegangen werden kann, dass die öffentliche Sicherheit der Republik Österreich durch seinen Verbleib im Bundesgebiet nachhaltig und maßgeblich gefährdet würde. Dasselbe gilt für Minderjährige, es sei denn, das Aufenthaltsverbot wäre zum Wohl des Kindes notwendig, wie es im Übereinkommen der Vereinten Nationen vom über die Rechte des Kindes vorgesehen ist."

§ 86 Abs. 1 FPG sah zwei unterschiedliche Gefährdungsmaßstäbe - als Bezugspunkt für die für jedes Aufenthaltsverbot Voraussetzung bildende Gefahrenprognose - vor. Einerseits (nach dem ersten und zweiten Satz) die Gefährdung der öffentlichen Ordnung und Sicherheit, wobei eine tatsächliche, gegenwärtige und erhebliche, ein Grundinteresse der Gesellschaft berührende Gefahr auf Grund eines persönlichen Verhaltens des betreffenden Fremden vorliegen musste, und andererseits (nach dem fünften Satz) - wenn der EWR-Bürger, Schweizer Bürger oder begünstigte Drittstaatsangehörige vor Verwirklichung des maßgeblichen Sachverhaltes seinen Aufenthalt ununterbrochen seit zehn Jahren im Bundesgebiet hatte - darüber hinausgehend eine nachhaltige und maßgebliche Gefährdung der öffentlichen Sicherheit der Republik Österreich durch seinen Verbleib im Bundesgebiet.

Das FrÄG 2011 hat - abgesehen davon, dass der bisherige § 86 Abs. 1 FPG zu § 67 Abs. 1 FPG wurde - bezüglich des im fünften Satz normierten strengeren (bzw. für den Fremden günstigeren) Maßstabes insofern eine Änderung gebracht, als dieser nunmehr schon dann zur Anwendung gelangt, wenn der EWR-Bürger, Schweizer Bürger oder begünstigte Drittstaatsangehörige einen zehnjährigen Aufenthalt im Bundesgebiet hatte. Die in § 86 Abs. 1 fünfter Satz FPG noch enthaltene Wendung "vor Verwirklichung des maßgeblichen Sachverhaltes" findet sich in der nunmehrigen Bestimmung des § 67 Abs. 1 FPG nicht mehr, sodass eine solche Einschränkung seither nicht (mehr) Platz zu greifen hat (vgl. das hg. Erkenntnis vom , Zl. 2011/22/0264, Punkt 4. der Entscheidungsgründe).

Dies wurde von der belangten Behörde nicht beachtet, die demnach unrichtig die Anwendbarkeit des verschärften Maßstabes nach dem fünften Satz des § 67 Abs. 1 FPG allein damit verneinte, dass der Revisionswerber "vor Verwirklichung des maßgeblichen Sachverhaltes" seinen "Hauptwohnsitz" noch nicht seit zehn Jahren im Bundesgebiet gehabt habe.

Bei der Frage nach dem auf den Revisionswerber anzuwendenden Gefährdungsmaßstab wird allerdings das zu Art. 28 Abs. 3 lit. a der Richtlinie 2004/38/EG (Freizügigkeitsrichtlinie) ergangene Urteil des Gerichtshofes der Europäischen Union (EuGH) vom , Rs C-400/12, zu berücksichtigen sein, weil § 67 Abs. 1 FPG insgesamt der Umsetzung von Art. 27 und 28 dieser Richtlinie - § 67 Abs. 1 fünfter Satz FPG im Speziellen der Umsetzung ihres Art. 28 Abs. 3 lit. a - dient. Der zum erhöhten Gefährdungsmaßstab nach Art. 28 Abs. 3 lit. a der genannten Richtlinie bzw. dem fünften Satz des § 67 Abs. 1 FPG führende zehnjährige Aufenthalt im Bundesgebiet muss demnach grundsätzlich ununterbrochen sein. Es können einzelne Abwesenheiten des Fremden unter Berücksichtigung von Gesamtdauer, Häufigkeit und der Gründe, die ihn dazu veranlasst haben, Österreich zu verlassen, auf eine Verlagerung seiner persönlichen, familiären oder beruflichen Interessen schließen lassen. Auch der Zeitraum der Verbüßung einer Freiheitsstrafe durch den Betroffenen ist grundsätzlich geeignet, die Kontinuität des Aufenthaltes iSd Art. 28 Abs. 3 lit. a der Freizügigkeitsrichtlinie zu unterbrechen und sich damit auf die Gewährung des dort vorgesehenen verstärkten Schutzes auch in dem Fall auszuwirken, dass sich der Fremde vor dem Freiheitsentzug mehrere Jahre lang (kontinuierlich) im Aufnahmemitgliedstaat aufgehalten hat. Dies ist - bei einer umfassenden Beurteilung - im Rahmen der Prüfung zu berücksichtigen, ob die zuvor mit dem Aufnahmemitgliedstaat geknüpften Integrationsverbindungen abgerissen sind (vgl. insbesondere Rn. 25 sowie 31 bis 36 des zitierten und - daran anknüpfend - das hg. Erkenntnis vom , Zl. 2013/22/0309).

Abwesenheiten vom Bundesgebiet sind fallbezogen wiederholt (nach den Feststellungen erstmals im Jahr 2004) vorgelegen, ohne dass ihre Gründe, ihr zeitliches Ausmaß sowie die Auswirkungen auf die persönlichen, familiären oder beruflichen Interessen des Revisionswerbers näher geprüft worden wären. Dasselbe gilt sinngemäß für den Vollzug der erwähnten (zwischen 2008 und 2010 verbüßten) Freiheitsstrafe, wobei selbst das genaue Datum der Entlassung des Revisionswerbers aus dem Strafvollzug bislang nicht festgestellt wurde.

Hinzuweisen ist schließlich darauf, dass - wenn dem Revisionswerber das Recht auf Daueraufenthalt (nach einem fünfjährigen rechtmäßigen und ununterbrochenen Aufenthalt im Bundesgebiet) zukommen sollte - jedenfalls der in § 66 Abs. 1 letzter Satzteil FPG vorgesehene Maßstab, der im abgestuften System der Gefährdungsprognosen zwischen jenen nach dem ersten und dem fünften Satz des § 67 Abs. 1 FPG angesiedelt ist, heranzuziehen wäre (vgl. dazu im Einzelnen das hg. Erkenntnis vom , Zl. 2012/21/0181, Punkt 3. der Entscheidungsgründe).

All das blieb in Verkennung der Rechtslage im angefochtenen Bescheid ungeprüft, weshalb dieser gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG wegen inhaltlicher Rechtswidrigkeit aufzuheben war.

Der Spruch über den Aufwandersatz gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG iVm der (gemäß § 3 Z 1 iVm § 4 der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2014 anzuwendenden) VwGH-Aufwandersatzverordnung 2008.

Wien, am