VwGH vom 18.12.2015, Ra 2015/02/0125

VwGH vom 18.12.2015, Ra 2015/02/0125

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Beck und die Hofräte Dr. Lehofer und Dr. N. Bachler als Richter, im Beisein der Schriftführerin Mag. Harrer, über die Revision 1. des J K, und

2. der B Ges.m.b.H., beide in Wien, beide vertreten durch Mag. Wolfgang Gartner, Rechtsanwalt in 1010 Wien, Salzgries 17/4/11A, gegen das Erkenntnis des Verwaltungsgerichts Wien vom , Zl. VGW-042/014/27373/2014-14, betreffend Übertretung arbeitnehmerschutzrechtlicher Vorschriften (Partei gemäß § 21 Abs. 2 Z 1 VwGG: Magistrat der Stadt Wien), zu Recht erkannt:

Spruch

Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.

Der Bund hat den Revisionswerbern Aufwendungen in Höhe von EUR 1.346,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

Mit dem angefochtenen Erkenntnis wurde der Erstrevisionswerber schuldig erkannt, er habe es als handelsrechtlicher Geschäftsführer und somit als gemäß § 9 Abs. 1 VStG zur Vertretung nach außen Berufener der Zweitrevisionswerberin zu verantworten, dass ein Arbeitnehmer dieser Gesellschaft am auf einer auswärtigen Baustelle ein Metallrohrgerüst auf allen vier Gerüstlagen gebäudeseitig für Fassadenarbeiten benutzt habe, obwohl dieses Gerüst den Anforderungen an Gerüste nicht voll entsprochen habe, weil die Brust-, Mittel- und Fußwehren am Gerüst gefehlt hätten.

Der Erstrevisionswerber habe dadurch gegen § 130 Abs. 5 Z 1 i. V.m. § 118 Abs. 3 ASchG i.V.m. § 62 Abs. 4, § 8 Abs. 1 sowie § 58 Abs. 3 BauV verstoßen. Die von der Verwaltungsbehörde verhängte Geldstrafe wurde vom Verwaltungsgericht auf EUR 1.000,-- (Ersatzfreiheitsstrafe 40 Stunden) herabgesetzt. Die Zweitrevisionswerberin hafte für die Beträge gemäß § 9 Abs. 7 VStG. Die ordentliche Revision an den Verwaltungsgerichtshof wurde für unzulässig erklärt.

Das Verwaltungsgericht stellte, soweit für die gegenständliche Revision relevant, fest, dass ein namentlich genannter Arbeitnehmer der Zweitrevisionswerberin das Metallrohrgerüst betreten habe, obwohl gebäudeseitig auf allen vier Gerüstlagen (und sohin bei mehr als 2 m Absturzhöhe) keine Brust-, Mittel- und Fußwehren abgebracht gewesen seien. Das Verwaltungsgericht führte aus, es folge der Darstellung des Erstrevisionswerbers, wonach der Arbeitnehmer das Gerüst zum Zwecke der Überprüfung des von einer anderen Gesellschaft errichteten Gerüstes betreten habe. Hinsichtlich der Mangelhaftigkeit des Arbeitsgerüstes folge das Verwaltungsgericht jedoch den Angaben der Arbeitsinspektorin in deren Anzeige und anlässlich deren Einvernahme, bei der die Zeugin einen aufrichtigen, kompetenten und zuverlässigen Eindruck hinterlassen habe. Die Zeugin habe anschaulich und daher sehr glaubwürdig vermittelt, dass im Erhebungszeitpunkt (am Tattag) das Fehlen der beanstandeten Wehren ohne Betreten des Gerüstes feststellbar gewesen sei.

Werde - wie im vorliegenden Fall - das Gerüst zur Gewährleistung der Sicherheit der Mitarbeiter von einer fachkundigen Person des Gerüstbenützers besichtigt, und werde dabei das Gerüst von jener Person auch selbst betreten, so handle es sich zweifelsfrei bereits um eine Benützung des Gerüstes. Demnach sei das Tatbild des § 62 Abs. 4 (wonach ein Gerüst, das den Anforderungen nicht entspricht, nicht benutzt werde darf) i. V.m. § 58 Abs. 3 BauV als verwirklicht anzusehen.

Gegen dieses Erkenntnis richtet sich die vorliegende außerordentliche Revision der Revisionswerber mit dem Antrag, der Verwaltungsgerichtshof möge eine mündliche Verhandlung durchführen, gemäß § 42 Abs. 4 VwGG in der Sache selbst entscheiden und das angefochtene Erkenntnis wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes, in eventu wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufheben, sowie den zuständigen Rechtsträger zum Kostenersatz zu verpflichten. Das Verwaltungsgericht legte die Revision gemeinsam mit den Verfahrensakten vor. Eine Revisionsbeantwortung wurde nicht erstattet.

Der Verwaltungsgerichtshof hat erwogen:

1. Die relevanten Bestimmungen der Bauarbeiterschutzverordnung (BauV), BGBl. Nr. 340/1994, in der hier anzuwendenden Fassung BGBl. II Nr. 33/2012, lauten auszugsweise wie folgt:

"Begriffsbestimmungen

§ 2. (1) Bauarbeiten sind Arbeiten zur Herstellung, Instandhaltung, Sanierung, Reparatur, Änderung und Beseitigung von baulichen Anlagen aller Art, einschließlich der hiefür erforderlichen Vorbereitungs- und Abschlußarbeiten. Bauarbeiten sind insbesondere auch Zimmerer-, Dachdecker-, Glaser-, Maler-, Anstreicher-, Spengler-, Fliesenleger-, Estrich-, Isolierarbeiten, und Gerüstbauarbeiten, Stahlbauarbeiten, Gas-, Wasser-, Heizungs-, Lüftungs- und Elektroinstallationsarbeiten, Sprengarbeiten, Abbrucharbeiten sowie Fassadenreinigungsarbeiten und Rauchfangkehrerarbeiten. Als Bauarbeiten gelten auch Erdarbeiten, wie Aufschüttungen, Auf- und Abgrabungen sowie die Herstellung von künstlichen Hohlräumen unterhalb der Erdoberfläche.

(...)"

"Arbeitsgerüste

§ 58. (1) Arbeitsgerüste sind Gerüste, von denen aus oder auf denen Arbeiten ausgeführt werden.

(...)

(3) Bei Absturzgefahr nach § 7 Abs. 2 Z 2 oder 4 müssen die Gerüstlagen mit Wehren gemäß § 8 versehen sein. Abweichend davon kann bei bauartbedingter Notwendigkeit bei Systemgerüsten der Abstand von Belagoberfläche zu Brustwehrenoberkante auf 950 mm verringert werden.

(...)

(5) Der Abstand zwischen dem Gerüstbelag und dem eingerüsteten Objekt muß möglichst gering sein. Auf der dem eingerüsteten Objekt zugewandten Seite des Gerüstes sind Wehren anzubringen, wenn


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1.
Absturzgefahr gemäß § 7 Abs. 2 Z 2 oder 4 besteht und
2.
der Abstand zwischen Gerüstbelag und eingerüstetem Objekt
a)
bei reich gegliederten Fassaden sowie bei Vormauerungen und ähnlichen Arbeiten, bei denen mit dem Anbringen einer Wandverkleidung der Abstand zwischen Gerüstbelag und eingerüstetem Objekt um mindestens 10 cm verringert wird, mehr als 40 cm,
b)
in allen sonstigen Fällen mehr als 30 cm
beträgt.
(...)"
"Prüfung von Gerüsten

§ 61. (...)

(2) Gerüste sind vor ihrer erstmaligen Benützung von einer fachkundigen Person des Gerüstbenützers auf offensichtliche Mängel zu prüfen. Solche Prüfungen sind nach jeder längeren Arbeitsunterbrechung, nach Sturm, starkem Regen, Frost oder sonstigen Schlechtwetterperioden, bei Systemgerüsten mindestens einmal monatlich, bei sonstigen Gerüsten mindestens einmal wöchentlich, auf offensichtliche Mängel durchzuführen.

(...)"

"Benützung von Gerüsten

§ 62. . (1) Gerüste dürfen erst benützt werden nach


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1.
ihrer Fertigstellung,
2.
den Prüfungen gemäß § 61 Abs. 1 bis 3 und
3.
Beseitigung der bei diesen Prüfungen festgestellten Mängel.
(...)

(4) Ein Gerüst, das den Anforderungen an Gerüste nicht voll entspricht, darf nicht benützt werden."

2. Die Revisionswerber bringen zur Zulässigkeit der Revision unter anderem vor, § 61 BauV über die Tätigkeit der "Prüfung von Gerüsten" stelle gegenüber § 2 BauV eine Spezialnorm dar, der seitens des Gerüstbenützers Folge zu leisten sei. Der Gerüstbenützer müsse gemäß § 61 BauV sicherstellen, dass das Gerüst vor der erstmaligen Benützung von einer fachkundigen Person auf offensichtliche Mängel geprüft werde. Inwieweit auf offensichtliche Mängel nur geprüft werden dürfe, sofern das Gerüst nicht betreten werde, gehe aus dieser Norm nicht hervor. Ein Verbot der Gerüstüberprüfung durch Begehung sei in dieser Spezialnorm ebenfalls nicht vorgesehen. Wie also eine Überprüfung auf offensichtliche Mängel tatsächlich ausgestaltet sein dürfe und ob damit eine Gerüstbegehung erfolge dürfe, bleibe ungewiss.

3. Die Revision ist zulässig. Sie ist - im Ergebnis - auch berechtigt.

4. Gemäß § 61 Abs. 2 BauV sind Gerüste vor ihrer erstmaligen Benützung von einer fachkundigen Person des Gerüstbenützers auf offensichtliche Mängel zu prüfen. Offensichtliche Mängel liegen vor, wenn sie ohne vertiefte Untersuchung durch bloße Inaugenscheinnahme festgestellt werden können.

Die in der Revision zum Ausdruck gebrachte Ansicht, wonach ein Betreten des Gerüstes zur Überprüfung auf offensichtliche Mängel jedenfalls erfolgen dürfe, ohne dadurch § 62 Abs. 4 BauV zu übertreten, auch wenn solche Mängel bereits ohne Betreten des Gerüstes festzustellen sind, vermag der Verwaltungsgerichtshof nicht zu teilen. Sind Mängel nämlich bereits ohne Betreten des Gerüstes zu erkennen, so steht fest, dass das Gerüst den Anforderungen an Gerüste nicht voll entspricht. Die Prüfung nach § 61 Abs. 2 BauV hat in diesem Fall offensichtliche Mängel festgestellt, die im Sinne des § 62 Abs. 1 Z 3 BauV zu beheben sind, bevor ein (weiteres) Betreten des Gerüstes nach § 62 BauV erlaubt ist.

Entgegen der Ansicht der Revisionswerber besteht zudem kein Anhaltspunkt dafür, die Prüfung von Gerüsten, die zur Durchführung von Bauarbeiten aufgestellt werden, durch eine fachkundige Person des Gerüstbenützers im Sinne des § 61 Abs. 2 BauV sei nicht als vom Begriff der Bauarbeiten im Sinne des § 2 Abs. 1 BauV umfasst anzusehen, zumal dieser ausdrücklich Vorarbeiten einschließt. Soweit die Revisionswerber auch mit ihrem diesbezüglichen Vorbringen der Sache nach darauf abzielen, diese "Prüfung von Gerüsten" nach § 61 Abs. 2 BauV von der "Benützung von Gerüsten" nach § 62 BauV abzugrenzen und damit ihre Ansicht zum Ausdruck bringen, dass eine "Benützung von Gerüsten" nicht vorliegen könne, wenn das Betreten des Gerüstes nur zum Zweck der Prüfung nach § 61 Abs. 2 BauV erfolge, ist dem entgegenzuhalten, dass die Regelungen über Gerüste in der BauV darauf abzielen, Gefahren für Arbeitnehmer zu erkennen und diesen wirksam zu begegnen; diese Zielsetzung kommt insbesondere auch darin zum Ausdruck, dass nach § 62 Abs. 1 BauV eine Benützung des Gerüstes erst nach Beseitigung der bei einer Prüfung nach § 61 Abs. 1 bis 3 BauV festgestellten Mängel zulässig ist. Dieser Zielsetzung der Rechtsvorschrift würde es widersprechen, das Betreten eines bereits als offensichtlich mangelhaft erkannten Gerüstes durch Arbeitnehmer des Gerüstbenützers vor Behebung der festgestellten Mängel zuzulassen, selbst wenn dieses Betreten lediglich dem Ziel dienen sollte, allfällige weitere offensichtliche Mängel des Gerüstes zu erkennen. Auch in diesem Fall liegt daher eine Benützung des Gerüstes im Sinne des § 62 Abs. 4 BauV vor.

5. Das Verwaltungsgericht hat aufgrund einer vom Verwaltungsgerichtshof nicht zu beanstandenden Beweiswürdigung festgehalten, dass am Tattag das Fehlen der beanstandeten Wehren ohne Betreten des Gerüstes feststellbar gewesen sei. Bei der Beurteilung, ob es sich beim Fehlen der Brust-, Mittel- und Fußwehren um eine Übertretung der BauV gehandelt hat, hat das Verwaltungsgericht jedoch die Rechtslage verkannt und das angefochtene Erkenntnis mit Rechtswidrigkeit belastet.

6.1. Der Tatvorwurf im vorliegenden Fall betraf die Benutzung eines Gerüstes "gebäudeseitig", obwohl dieses Gerüst den Anforderungen an Gerüste nicht entsprochen habe. Sowohl im Verfahren vor der Verwaltungsbehörde als auch vor dem Verwaltungsgericht war demnach die mangelhafte Ausgestaltung der gebäudeseitigen, dem eingerüsteten Objekt zugewandten Gerüstlagen gegenständlich. Gleiches geht auch aus den dem Akt beiliegenden Fotos hervor. Als übertretene Norm nennt das Verwaltungsgericht § 58 Abs. 3 BauV.

6.2. Bei der dem eingerüsteten Objekt zugewandten Seite des Gerüstes sind jedoch nicht in jedem Fall gemäß § 58 Abs. 3 BauV Wehren im Sinne des § 8 BauV am Gerüst anzubringen. Vielmehr kommt in einem solchen Fall, wie die Revisionswerber zutreffend aufzeigen, § 58 Abs. 5 BauV zur Anwendung. Gemäß dieser Norm sind auf der dem eingerüsteten Objekt zugewandten Seite des Gerüstes nur dann Wehren anzubringen, wenn Absturzgefahr gemäß § 7 Abs. 2 Z 2 oder 4 BauV besteht und - zusätzlich - ein gewisser Mindestabstand im Sinne des § 58 Abs. 5 Z 2 lit. a und b BauV gegeben ist.

Das angefochtene Erkenntnis geht auf die Erfordernisse des § 58 Abs. 5 BauV nicht ein. Mangels Feststellungen ist demnach nicht nachvollziehbar, ob diese zusätzlichen Kriterien des § 58 Abs. 5 BauV - und somit eine Verpflichtung zum Anbringen von Wehren auf der gebäudeseitige Gerüstlage - gegeben waren.

6.3. In Verkennung der Rechtslage hat das Verwaltungsgericht anstelle von § 58 Abs. 5 BauV die Bestimmung des Abs. 3 leg. cit. als verletzte Verwaltungsvorschrift angewendet und auch nur im Hinblick auf die in dieser Bestimmung genannten Voraussetzungen Feststellungen getroffen. Alleine die Unterlassung des Anbringens von Wehren an der gebäudeseitigen Gerüstlage könnte den Revisionswerbern jedoch - ohne Hinzutreten der weiteren Voraussetzungen des § 58 Abs. 5 Z 2 BauV - nicht zum Vorwurf gemacht werden.

7. Das angefochtene Erkenntnis war daher gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG wegen inhaltlicher Rechtswidrigkeit aufzuheben.

Von der beantragten mündlichen Verhandlung vor dem Verwaltungsgerichtshof konnte gemäß § 39 Abs. 2 Z 6 VwGG abgesehen werden.

Der Ausspruch über den Aufwandersatz gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2014, BGBl. II Nr. 518/2013 in der Fassung BGBl. II Nr. 8/2014.

Wien, am