VwGH vom 18.10.2012, 2011/22/0163
Betreff
Der Verwaltungsgerichtshof hat durch die Vorsitzende Senatspräsidentin Dr. Bernegger, die Hofräte Dr. Robl und Mag. Eder, die Hofrätin Mag. Dr. Maurer-Kober und den Hofrat Mag. Straßegger als Richter, im Beisein der Schriftführerin Mag. Perauer, über die Beschwerde des J, vertreten durch die Weh Rechtsanwalt GmbH in 6900 Bregenz, Wolfeggstraße 1, gegen den Bescheid der Bundesministerin für Inneres vom , Zl. 157.393/2-III/4/10, betreffend Aufenthaltskarte, zu Recht erkannt:
Spruch
Der angefochtene Bescheid wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.
Der Bund hat dem Beschwerdeführer Aufwendungen in der Höhe von EUR 1.106,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.
Begründung
Mit dem angefochtenen, im Instanzenzug ergangenen Bescheid wies die belangte Behörde den Antrag des Beschwerdeführers, eines nigerianischen Staatsangehörigen, auf Erteilung einer Aufenthaltskarte nach § 54 Niederlassungs- und Aufenthaltsgesetz (NAG) ab.
Zur Begründung führte die belangte Behörde im Wesentlichen aus, dass der Beschwerdeführer am illegal eingereist sei und am einen Asylantrag eingebracht habe. Dieser sei in erster Instanz "gemäß §§ 7 und 8 AsylG negativ entschieden" worden. Diese Entscheidung sei nicht rechtskräftig; derzeit sei ein Verfahren beim Asylgerichtshof anhängig. Der Beschwerdeführer sei im Besitz einer vorläufigen Aufenthaltsberechtigung nach asylrechtlichen Bestimmungen.
Am habe er eine österreichische Staatsbürgerin geheiratet. Am sei die gemeinsame Tochter geboren worden, die österreichische Staatsbürgerin sei.
Parallel zum noch anhängigen Asylverfahren habe der Beschwerdeführer am im Rahmen der Familienzusammenführung mit seiner Ehefrau die Ausstellung einer Aufenthaltskarte nach § 54 NAG beantragt. Diesen Antrag habe er damit begründet, dass seine Ehefrau ihre Jugendzeit gemeinsam mit ihren Pflegeeltern in Deutschland verbracht habe. Diese habe in den Jahren 1992 und 1993 sowie 1998 und 1999 in München gelebt und in der Zeit zwischen 1993 bis 1998 in E.
Nach § 54 Abs. 1 NAG sei zu prüfen, ob das Freizügigkeitsrecht echt und tatsächlich ausgeübt worden sei und somit ein sogenannter "Freizügigkeitssachverhalt" vorliege. Die Ehefrau des Beschwerdeführers und die minderjährige Tochter lebten seit Februar 2011 nicht mehr mit dem Beschwerdeführer in einem gemeinsamen Haushalt. Zweifelsfrei habe die Ehefrau des Beschwerdeführers mehrere Jahre ihrer Jugendzeit in Deutschland verbracht. Es bestehe aber kein zeitlicher Zusammenhang zwischen diesem Aufenthalt und der Eheschließung mit dem Beschwerdeführer im Jahr 2008 sowie dem Antrag auf Ausstellung einer Aufenthaltskarte in Österreich. Die Ehefrau sei daher "als nicht freizügigkeitsberechtigte EWR-Bürgerin" anzusehen, weshalb dem Beschwerdeführer auch kein von seiner Frau abgeleitetes Recht erwachsen könne. Sachverhalte ohne entsprechende Anknüpfungspunkte an das Gemeinschaftsrecht fielen nicht in den Anwendungsbereich der Vertragsbestimmungen über die Freizügigkeit und die zur Durchführung dieser Bestimmungen erlassenen Maßnahmen. Da der Beschwerdeführer nach den Bestimmungen des Asylgesetzes zum Aufenthalt in Österreich berechtigt sei, sei das mit in Kraft getretene NAG auf ihn derzeit nicht anwendbar. Dies habe der Verfassungsgerichtshof als unbedenklich beurteilt.
Der Verwaltungsgerichtshof hat über die gegen diesen Bescheid erhobene Beschwerde nach Aktenvorlage durch die belangte Behörde erwogen:
Eingangs ist festzuhalten, dass im Blick auf den Zeitpunkt der Erlassung des angefochtenen Bescheides im Mai 2011 die Bestimmungen des NAG in der Fassung BGBl. I Nr. 111/2010 und der KM BGBl. I Nr. 16/2011 maßgeblich sind und sich nachfolgende Zitierungen dieses Gesetzes auf diese Fassung beziehen.
§ 57 NAG lautet:
"Die Bestimmungen der §§ 51 bis 56 finden auch auf Schweizer Bürger, die das ihnen auf Grund des Freizügigkeitsabkommens EG-Schweiz zukommende Aufenthaltsrecht von mehr als drei Monaten in Anspruch genommen haben, und deren Angehörige Anwendung. Für Angehörige von Österreichern gelten die Bestimmungen der §§ 52 bis 56 sinngemäß, sofern der Österreicher sein gemeinschaftsrechtliches oder das ihm auf Grund des Freizügigkeitsabkommens EG-Schweiz zukommende Aufenthaltsrecht von mehr als drei Monaten in einem anderen EWR-Mitgliedstaat oder in der Schweiz in Anspruch genommen hat und im Anschluss an diesen Aufenthalt nach Österreich nicht bloß vorübergehend zurückkehrt."
§ 57 NAG ordnet somit an, dass die Bestimmungen der §§ 51 bis 56 NAG - somit einschließlich jener über die Ausstellung einer Aufenthaltskarte für Angehörige nach § 54 NAG - für Angehörige von Österreichern sinngemäß gelten, sofern der Österreicher u.a. sein unionsrechtliches Aufenthaltsrecht von mehr als drei Monaten in einem anderen EWR-Mitgliedstaat in Anspruch genommen hat und im Anschluss an diesen Aufenthalt nach Österreich nicht bloß vorübergehend zurückkehrt.
Zunächst ist für den vorliegenden Fall anzumerken, dass der Beschwerdeführer im maßgeblichen Zeitpunkt unstrittig im Besitz einer asylrechtlichen vorläufigen Aufenthaltsberechtigung war. Die Bestimmungen des NAG sind aber nur dann nach § 1 Abs. 2 Z 1 leg. cit. auf den Beschwerdeführer nicht anwendbar, wenn das Vorliegen eines Freizügigkeitssachverhaltes mit Recht verneint werden kann (vgl. das hg. Erkenntnis vom , 2009/22/0032).
Diesbezüglich steht unstrittig fest, dass sich die (gemäß der im Akt erliegenden Heiratsurkunde 1979 geborene) Ehefrau des Beschwerdeführers mit österreichischer Staatsbürgerschaft in den Jahren 1992 bis 1999 in Deutschland bei ihren Pflegeeltern aufgehalten hat. Mit diesem mehr als fünf Jahre andauernden Aufenthalt hat sie jedenfalls die unionsrechtliche Freizügigkeit im Sinn der Freizügigkeitsrichtlinie 2004/38/EG (im Folgenden: Richtlinie) in Anspruch genommen.
In Ansehung des § 57 NAG in der genannten Fassung ist festzuhalten, dass diese Bestimmung vom österreichischen Staatsbürger fordert, dass dieser nach Inanspruchnahme des Freizügigkeitsrechts "im Anschluss an diesen Aufenthalt nach Österreich nicht bloß vorübergehend zurückkehrt".
Angesichts der Begründung im angefochtenen Bescheid, die auf den langen Zeitraum seit der Rückkehr der Ehefrau des Beschwerdeführers abstellt, ist anzumerken, dass nach § 57 NAG weder zu berücksichtigen ist, wann der Österreicher zurückgekehrt ist, noch wann das Angehörigenverhältnis zum österreichischen Staatsbürger begründet wurde oder wann der Angehörige nach Österreich gekommen ist.
In der Stammfassung des NAG hat der Gesetzgeber - im Einklang mit der Richtlinie, die in der Bestimmung des Art. 7 ebenfalls diese Einschränkung verwendet - noch als Voraussetzung normiert, dass die Angehörigen des freizügigkeitsberechtigten EWR-Bürgers, und somit auch gemäß § 57 NAG die Angehörigen des Österreichers, den EWR-Bürger bzw. Österreicher "begleiten oder zu ihm nachziehen".
In der Folge hat aber der Gerichtshof der Europäischen Union im Beschluss vom , Rechtssache C-551/07 "D. Sahin", ausgesprochen, dass auch solche Angehörige eine abgeleitete unionsrechtliche Berechtigung in Anspruch nehmen können, die unabhängig vom Unionsbürger in den Aufnahmemitgliedstaat gelangt sind und erst dort die Angehörigeneigenschaft erworben oder das Familienleben mit diesem Unionsbürger begründet haben. Unionsrechtlich gesehen kommt somit einem zeitlichen Zusammenhang zwischen der Inanspruchnahme der Freizügigkeit durch den Unionsbürger und der Begründung des Angehörigenverhältnisses keine Relevanz zu. Kommt es nun aber auf einen solchen zeitlichen Zusammenhang nicht an, so ist es auch nicht von rechtlicher Bedeutung, wann der österreichische Staatsbürger begonnen hat, seine unionsrechtliche Freizügigkeit auszuüben, wann er nach Österreich zurückgekehrt ist und wann das Angehörigenverhältnis mit dem Drittstaatsangehörigen begründet wurde (vgl. auch das Erkenntnis des Verfassungsgerichtshofes vom , G 244/09 u.a.).
Zu Unrecht hat somit die belangte Behörde die Tatbestandsvoraussetzung der Inanspruchnahme der unionsrechtlichen Freizügigkeit durch die österreichische Staatsbürgerin allein damit verneint, dass ein großer zeitlicher Abstand zwischen dieser Freizügigkeitsinanspruchnahme und der Begründung des Angehörigenverhältnisses zum Beschwerdeführer verstrichen ist.
Da die belangte Behörde insoweit die Rechtslage verkannt hat, war der angefochtene Bescheid wegen inhaltlicher Rechtswidrigkeit gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG aufzuheben.
Von der beantragten Durchführung einer Verhandlung konnte gemäß § 39 Abs. 2 Z 4 VwGG abgesehen werden.
Die Kostenentscheidung beruht auf den §§ 47 ff VwGG iVm der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2008.
Wien, am