VwGH vom 13.09.2011, 2011/22/0151
Beachte
Miterledigung (miterledigt bzw zur gemeinsamen Entscheidung
verbunden):
2011/22/0152
2011/22/0155
2011/22/0154
2011/22/0153
Betreff
Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Sulyok, die Hofräte Dr. Robl und Mag. Eder sowie die Hofrätinnen Mag. Merl und Dr. Julcher als Richter, im Beisein des Schriftführers Mag. Zöchling, über die Beschwerden der
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1. | ZD, geboren am , 2. SD, geboren am , |
3. | SD, geboren am , 4. AD, geboren am , und 5. ZD, geboren am , alle in Wien, alle vertreten durch Dr. Gerfried Höfferer, Rechtsanwalt in 1020 Wien, Praterstern 2/1, gegen die Bescheide der Bundesministerin für Inneres jeweils vom , |
1. | Zl. 144.076/28-III/4/11 (Zl. 2011/22/0151), 2. Zl. 144.076/29- III/4/11 (Zl. 2011/22/0152), 3. Zl. 144.076/30-III/4/11 (Zl. 2011/22/0153), 4. Zl. 144.076/31-III/4/11 (Zl. 2011/22/0154) und 5. Zl. 144.076/32-III/4/11 (Zl. 2011/22/0155), jeweils betreffend Aufenthaltstitel, zu Recht erkannt: |
Spruch
Die angefochtenen Bescheide werden wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.
Der Bund hat den Beschwerdeführerinnen Aufwendungen in der Höhe von jeweils EUR 1.106,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.
Begründung
Die Erstbeschwerdeführerin ist die Mutter der übrigen (minderjährigen) Beschwerdeführerinnen; alle sind türkische Staatsangehörige.
Am stellten die Beschwerdeführerinnen jeweils einen Erstantrag auf Erteilung einer "Niederlassungsbewilligung - beschränkt" sowie gleichzeitig einen Zusatzantrag gemäß § 21 Abs. 3 Niederlassungs- und Aufenthaltsgesetz (NAG). Diese Anträge wurden vor der belangten Behörde "auf Grund der erfolgten Inlandsantragstellung und einer negativen Entscheidung hinsichtlich § 21 Abs. 3 NAG gemäß § 21 Abs. 1 NAG abgewiesen".
Begründend führte die belangte Behörde im Wesentlichen gleichlautend aus, die Erstbeschwerdeführerin habe im Mai 2003 für sich und die Zweit- und Drittbeschwerdeführerinnen, die in der Türkei geboren worden seien, Anträge auf Erteilung von Aufenthaltstiteln gestellt, die jedoch mangels ausreichender Unterhaltsmittel abgewiesen worden seien. Dennoch seien die Erstbis Drittbeschwerdeführerinnen am mit einem Visum der Kategorie C mit Gültigkeit bis in das Bundesgebiet eingereist und nach Ablauf der Visa in Österreich geblieben.
Am sei die Viertbeschwerdeführerin in Wien geboren worden.
Am habe die Erstbeschwerdeführerin für sich und die Zweit- bis Viertbeschwerdeführerinnen neuerlich Anträge auf Erteilung von Aufenthaltstiteln sowie Zusatzanträge aus humanitären Gründen gemäß § 19 Abs. 2 Z. 6 Fremdengesetz 1997 - FrG gestellt. Auch diese Anträge seien im Instanzenzug abgewiesen worden; dagegen eingebrachte Beschwerden an den Verwaltungsgerichtshof seien mit Erkenntnis vom , Zl. 2008/22/0791 bis 0794, ebenfalls abgewiesen worden.
Am sei die Fünftbeschwerdeführerin in Wien geboren worden. Auch ihr Antrag auf Erteilung eines Aufenthaltstitels sei abgewiesen worden.
Am hätten die Beschwerdeführerinnen die gegenständlichen Anträge gestellt. Zusammenführender sei der Ehemann der Erstbeschwerdeführerin bzw. Vater der übrigen Beschwerdeführerinnen, der sich seit 1989 im Inland aufhalte und über einen Aufenthaltstitel verfüge, der seit Inkrafttreten des NAG am als Aufenthaltstitel "Daueraufenthalt - EG" gelte.
Die Erst- bis Drittbeschwerdeführerinnen hielten sich seit Ablauf ihrer Visa am , die Viert- und Fünftbeschwerdeführerinnen seit ihrer Geburt im Juli 2005 bzw. Mai 2007 unrechtmäßig im Bundesgebiet auf. Unbestritten seien sie noch nie im Besitz eines Aufenthaltstitels gewesen. § 21 Abs. 1 NAG stehe daher der Erteilung der beantragten Aufenthaltstitel entgegen.
Der Antrag auf Zulassung zur Inlandsantragstellung gemäß § 21 Abs. 3 NAG sei - soweit hier entscheidungsrelevant - damit begründet worden, dass der Ehemann bzw. Vater der Beschwerdeführerinnen pflegebedürftig sei. Er leide unter diversen - im angefochtenen Bescheid näher beschriebenen - Krankheiten verbunden mit Depressionen und beziehe eine Invaliditätspension. In der Berufung sei diesbezüglich ergänzt worden, die Leiden des Zusammenführenden seien irreversibel und würden immer schlechter. Er sei in orthopädischer und psychiatrischer Behandlung, sei auf die Betreuung seiner Ehefrau angewiesen und bedürfe auf Grund seiner Depressionen der ständigen Aufsicht seiner Ehefrau. Im Fall der Ausreise der Beschwerdeführerinnen könnte der Zusammenführende auf Grund seiner Krankheit nicht mitkommen, weil er auf die medizinische Behandlung in Österreich angewiesen sei.
Dazu führte die belangte Behörde im Wesentlichen aus, laut medizinischem Befund vom erfolge auf Grund der Erkrankungen des Zusammenführenden eine konservative Therapie, außerdem wäre in Hinsicht auf eine bestehende Depression die Hilfestellung und Aufsicht durch die Ehefrau notwendig. Seit der ersten Antragstellung der Erst- bis Drittbeschwerdeführerinnen seien insgesamt sechs medizinische Befunde für den Zusammenführenden vorgelegt worden, die alle ein ähnliches - im angefochtenen Bescheid näher dargestelltes - Krankheitsbild beschrieben. Eine Wiederherstellung der Beschwerdefreiheit sei nicht wahrscheinlich, neben einer konservativen Therapie seien die Pflege, Aufsicht und Hilfestellung durch die Familie bzw. Ehefrau empfohlen worden. Aus keiner dieser Unterlagen gehe jedoch eine erforderliche dauernde Pflege oder besondere medizinische Versorgung des Zusammenführenden hervor. Der Verwaltungsgerichtshof habe daher in seinem Erkenntnis vom nicht erkennen können, dass die Erkrankung des Zusammenführenden zu einem aus Art. 8 EMRK abzuleitenden Anspruch auf Familienzusammenführung führen könnte. Auch aus dem neuen medizinischen Befund vom sei kein dauerhafter Pflegebedarf oder eine erforderliche besondere medizinische Versorgung des Zusammenführenden ersichtlich. Bis dato liege "keine anderweitige maßgebliche Änderung des Sachverhaltes seit dem Erkenntnis des Verwaltungsgerichtshofes" vor. Eine maßgebliche Verschlechterung des Gesundheitszustandes des Zusammenführenden könne nicht erkannt werden, ein solcher sei auch in dem neuen Befund vom nicht attestiert worden.
Über die Beschwerde hat der Verwaltungsgerichtshof nach Vorlage der Verwaltungsakten durch die belangte Behörde erwogen:
Die Beschwerde bestreitet nicht, dass die Beschwerdeführerinnen noch nie über einen Aufenthaltstitel für das Bundesgebiet verfügt haben, und behauptet auch nicht, sie seien zur Inlandsantragstellung berechtigt. Die Auffassung der belangten Behörde, dass es sich bei den gegenständlichen Anträgen vom um Erstanträge im Sinn des § 21 Abs. 1 NAG handle, auf die grundsätzlich das Erfordernis der Auslandsantragstellung Anwendung findet, begegnet vor dem Hintergrund der behördlichen Feststellungen keinen Bedenken (vgl. das hg. Erkenntnis vom , 2008/22/0805, mwN).
Soweit sich die Beschwerdeführerinnen aber gegen die Weigerung der von ihnen beantragten Zulassung der Inlandsantragstellung gemäß § 21 Abs. 3 NAG (in der Fassung BGBl. I Nr. 29/2009) wenden, sind sie im Recht. Nach dieser Bestimmung kann die Behörde abweichend von § 21 Abs. 1 NAG auf begründeten Antrag die Antragstellung im Inland zulassen, wenn kein Erteilungshindernis gemäß § 11 Abs. 1 Z. 1, 2 oder 4 NAG vorliegt und die Ausreise des Fremden aus dem Bundesgebiet zum Zweck der Antragstellung u.a. zur Aufrechterhaltung des Privat- und Familienlebens im Sinn des Art. 8 EMRK (§ 11 Abs. 3 NAG) nachweislich nicht möglich oder nicht zumutbar ist.
In diesem Zusammenhang weist die Beschwerde zutreffend darauf hin, dass sich die Sachlage von der für die Entscheidung des Verwaltungsgerichtshofes vom damals maßgeblichen insoweit unterscheide, als der Ehemann bzw. Vater der Beschwerdeführerinnen damals nur eine vorläufige Invaliditätspension bezogen habe und nach den ärztlichen Unterlagen ("fachärztlicher Befundbericht" vom ) die Pflege durch die Ehefrau nur "angezeigt" und nicht "notwendig" gewesen sei. Nunmehr ergebe sich aus den vorgelegten medizinischen Unterlagen, dass "offensichtlich auf Grund der Verschlechterung des Gesundheitszustandes des Ehegatten der Erstbeschwerdeführerin die Hilfestellung und Pflege durch die Erstbeschwerdeführerin notwendig ist (und nicht nur angezeigt)".
Damit hat sich die belangte Behörde in der Begründung des angefochtenen Bescheides nicht inhaltlich auseinandergesetzt. Sie ging vielmehr - ohne Weiteres - davon aus, dass keine maßgebliche Änderung des Sachverhaltes seit dem Erkenntnis des Verwaltungsgerichtshofes vorliege. Ein mängelfreies Verfahren hätte die Klärung erfordert, ob die im Befund von Prim. Dr. W., Facharzt für Orthopädie und orthopädische Chirurgie, vom ausgesprochene Notwendigkeit einer Hilfestellung und Aufsicht des Zusammenführenden durch seine Ehefrau im Hinblick auf die bestehende Depression deren ständigen Aufenthalt im Bundesgebiet erforderlich macht. Darüber hinaus wird die belangte Behörde Feststellungen zu treffen und zu begründen haben, ob es der gesamten Familie unzumutbar ist, das Familienleben in ihrer Heimat fortzusetzen. Nur eine derartige Prüfung hätte das sich daraus möglicherweise ergebende Interesse der Beschwerdeführerinnen beurteilbar gemacht, ob deren Ausreise aus dem Bundesgebiet zum Zweck der Auslandsantragstellung auf Grund ihres Privat- oder Familienlebens im Sinn des Art. 8 EMRK nicht möglich oder nicht zumutbar, und daher die Erteilung von Aufenthaltstiteln geboten ist.
Da nicht auszuschließen ist, dass die belangte Behörde bei mängelfreien Feststellungen zu anderen Entscheidungen hätte gelangen können, waren die angefochtenen Bescheide - ohne dass auf das übrige Beschwerdevorbringen einzugehen war - gemäß § 42 Abs. 2 Z. 3 lit. a, b und c VwGG wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufzuheben.
Die Entscheidung über den Aufwandersatz gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der Verordnung BGBl. II Nr. 455/2008.
Wien, am
Fundstelle(n):
WAAAE-92398