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VwGH vom 20.12.2016, Ra 2015/01/0162

VwGH vom 20.12.2016, Ra 2015/01/0162

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Blaschek, die Hofräte Dr. Kleiser und Dr. Fasching sowie die Hofrätinnen Mag. Rossmeisel und Mag. Liebhart-Mutzl als Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag. Berger, über die Revision des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl in Wien, gegen den Beschluss des Bundesverwaltungsgerichts vom , L508 2107020-1/5E, betreffend eine Angelegenheit nach dem AsylG 2005 (mitbeteiligte Partei: A B in I, vertreten durch Mag. Ernst Lehenbauer, Rechtsanwalt in 4470 Enns, Hauptplatz 21, als bestellter Sachwalter), zu Recht erkannt:

Spruch

Der angefochtene Beschluss wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.

Begründung

1 Der Mitbeteiligte, ein pakistanischer Staatsangehöriger, stellte erstmals am einen Antrag auf internationalen Schutz. Diesen wies das Bundesasylamt mit rechtskräftigem Bescheid vom gemäß §§ 3 Abs. 1 und 8 Abs. 1 Asylgesetz 2005 (AsylG 2005) ab und sprach gemäß § 10 Abs. 1 Z 2 AsylG 2005 die Ausweisung aus dem österreichischen Bundesgebiet nach Pakistan aus. Der Mitbeteiligte verblieb in der Folge in der Grundversorgung.

2 Mit Urteil des Landesgerichtes für Strafsachen Graz vom wurde der Mitbeteiligte in eine Anstalt für geistig abnorme Rechtsbrecher eingewiesen. Dem Urteil lag zu Grunde, dass er unter dem Einfluss eines die Zurechnungsfähigkeit ausschließenden Zustandes, der auf einer geistigen und seelischen Abartigkeit von höherem Grad, und zwar einer akuten wahnhaften Störung (paranoide Schizophrenie) beruhe, eine versuchte schwere Nötigung begangen habe. Er befinde sich im forensischen Zentrum A der Justizanstalt L, eine Heilung des gesundheitlichen Zustandes sei nicht zu erwarten.

3 Am stellte der Mitbeteiligte, unterstützt durch einen Rechtsberater des V M Ö, einen zweiten Antrag auf internationalen Schutz. Mit Bescheid des Bundesamts für Fremdenwesen und Asyl vom wurde der Antrag auf internationalen Schutz hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 (Spruchpunkt I) sowie des subsidiär Schutzberechtigten gemäß § 8 Abs. 3a iVm § 9 Abs. 2 AsylG 2005 abgewiesen, verbunden mit der Feststellung, dass die Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung nach Pakistan gemäß § 8 Abs. 3a iVm § 9 Abs. 2 AsylG 2005 unzulässig ist (Spruchpunkt II). Ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß §§ 57 und 55 AsylG (Spruchpunkt III) wurde nicht erteilt.

4 Gegen Spruchpunkt II) dieses Bescheides erhob der Mitbeteiligte Beschwerde an das Bundesverwaltungsgericht und brachte zusammengefasst vor, er habe mangels Zurechnungsfähigkeit kein Vorsatzdelikt begangen, daher liege kein Asylausschlussgrund vor und es sei subsidiärer Schutz zu gewähren.

5 Mit dem nunmehr angefochtenen Beschluss des Bundesverwaltungsgerichts vom wurde der bekämpfte Bescheid zur Gänze behoben und die Angelegenheit gemäß § 28 Abs. 3 VwGVG zur Erlassung eines neuen Bescheides an das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl zurückverwiesen.

6 Das Bundesverwaltungsgericht führte in seiner Begründung aus, dass sich im Laufe des Verfahrens vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl genügend Anhaltspunkte für berechtigte Zweifel an der uneingeschränkten Handlungsfähigkeit des Mitbeteiligten im Sinn des § 11 AVG ergeben hätten. Seine Eingaben, mit welchen auf die vorliegende paranoide Schizophrenie hingewiesen wurde, sowie das strafgerichtliche Urteil hätten das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl jedenfalls dazu veranlassen müssen, ein psychiatrisch-neurologisches Gutachten einzuholen. Die Beurteilung der Prozessfähigkeit wäre vonnöten gewesen, letztlich seien jedoch alle Einvernahmen ohne Abklärung dieser Frage erfolgt. Aufgabe der Behörde wäre es gewesen, ein Gutachten zur Frage der Prozessfähigkeit einzuholen und im Fall deren Verneinung gemäß § 11 AVG von Amts wegen die Bestellung eines Sachwalters beim hierfür zuständigen Pflegschaftsgericht zu veranlassen sowie mit dem bestellten gesetzlichen Vertreter das erstinstanzliche Verfahren fortzusetzen. Damit sei das erstinstanzliche Verfahren mit einem schweren Verfahrensmangel behaftet, der Bescheid leide unter erheblichen Feststellungsmängeln hinsichtlich der Einvernahmefähigkeit bzw. der Prozessfähigkeit des Mitbeteiligten. Überdies werde sich das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl insbesondere mit jenem Einwand der Beschwerdeschrift auseinanderzusetzen haben, wonach es sich bei gerichtlich angeordneten Maßnahmen der Unterbringung nicht um Vorsatzdelikte handle und daher kein Asylausschlussgrund vorliege. Eine Nachholung des Ermittlungsverfahrens sowie eine erstmalige Beurteilung des maßgeblichen Sachverhaltes durch das Bundesverwaltungsgericht könne im Licht der Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes zu § 66 Abs. 2 AVG nicht im Sinn des Gesetzes liegen. Eine unmittelbare weitere Beweisaufnahme durch das Bundesverwaltungsgericht würde auch nicht im Interesse der Raschheit liegen, da es sich im verwaltungsgerichtlichen Verfahren um ein Mehrparteienverfahren mit erhöhtem Aufwand handle; die Voraussetzungen des § 28 Abs. 2 VwGVG seien somit nicht erfüllt. Außerdem erklärte das Bundesverwaltungsgericht mit einem Hinweis auf Art. 133 Abs. 4 B-VG die ordentliche Revision für unzulässig.

7 Gegen diesen Beschluss des Bundesverwaltungsgerichts richtet sich die vorliegende außerordentliche Revision des Bundesamts für Fremdenwesen und Asyl.

8 Der Verwaltungsgerichtshof hat nach Vorlage der Verwaltungsakten durch das Bundesverwaltungsgericht und Einleitung eines Vorverfahrens - der Mitbeteiligte erstattete durch seinen einstweiligen Sachwalter eine Revisionsbeantwortung - erwogen:

9 Die Revision ist - entgegen dem den Verwaltungsgerichtshof nicht bindenden Ausspruch des Bundesverwaltungsgerichts nach § 25a Abs. 1 VwGG - zulässig, weil das Bundesverwaltungsgericht, wie das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl in der Revision zutreffend aufzeigt, von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes zu den Voraussetzungen für Behebungen und Zurückverweisungen nach § 28 Abs. 3 zweiter Satz VwGVG abgewichen ist.

10 Der Verwaltungsgerichtshof hat bereits in zahlreichen Erkenntnissen, beginnend mit jenem vom , Ro 2014/03/0063, zur Befugnis der Verwaltungsgerichte zur Behebung und Zurückverweisung gemäß § 28 Abs. 3 zweiter Satz VwGVG Stellung genommen.

Demnach stellt die Zurückverweisungsmöglichkeit eine Ausnahme von der grundsätzlichen meritorischen Entscheidungszuständigkeit der Verwaltungsgerichte dar. Das im § 28 VwGVG insgesamt normierte System, in dem insbesondere die normative Zielsetzung der Verfahrensbeschleunigung bzw. der Berücksichtigung einer angemessenen Verfahrensdauer ihren Ausdruck findet, verlangt, dass von der Möglichkeit der Zurückverweisung nur bei krassen bzw. besonders gravierenden Ermittlungslücken Gebrauch gemacht wird. Eine Zurückverweisung der Sache an die Verwaltungsbehörde zur Durchführung notwendiger Ermittlungen wird daher insbesondere dann in Betracht kommen, wenn die Verwaltungsbehörde jegliche erforderliche Ermittlungstätigkeit unterlassen hat, wenn sie zur Ermittlung des maßgebenden Sachverhalts (vgl. § 37 AVG) lediglich völlig ungeeignete Ermittlungsschritte gesetzt oder bloß ansatzweise ermittelt hat. Gleiches gilt, wenn konkrete Anhaltspunkte annehmen lassen, dass die Verwaltungsbehörde (etwa schwierige) Ermittlungen unterließ, damit diese dann durch das Verwaltungsgericht vorgenommen werden.

11 Zu prüfen war daher, ob diese Voraussetzungen fallbezogen gegeben sind:

12 Im vorliegenden Fall hat das Bundesverwaltungsgericht Ermittlungen zur Prozessfähigkeit des Mitbeteiligten, insbesondere die Einholung eines psychiatrisch-neurologischen Gutachtens, vermisst.

13 Die maßgeblichen gesetzlichen Bestimmungen lauten:

§ 17 Verwaltungsgerichtsverfahrensgesetz (VwGVG) lautet auszugsweise:

"Anzuwendendes Recht

§ 17. Soweit in diesem Bundesgesetz nicht anderes bestimmt ist, sind auf das Verfahren über Beschwerden gemäß Art. 130 Abs. 1 B-VG die Bestimmungen des AVG mit Ausnahme der §§ 1 bis 5 sowie des IV. Teiles, die Bestimmungen der Bundesabgabenordnung - BAO, BGBl. Nr. 194/1961, des Agrarverfahrensgesetzes - AgrVG, BGBl. Nr. 173/1950, und des Dienstrechtsverfahrensgesetzes 1984 - DVG, BGBl. Nr. 29/1984, und im Übrigen jene verfahrensrechtlichen Bestimmungen in Bundes- oder Landesgesetzen sinngemäß anzuwenden, die die Behörde in dem dem Verfahren vor dem Verwaltungsgericht vorangegangenen Verfahren angewendet hat oder anzuwenden gehabt hätte."

Die maßgeblichen Bestimmungen des Allgemeinen

Verwaltungsverfahrensgesetzes 1991 (AVG) lauten:

"Rechts- und Handlungsfähigkeit

§ 9. Insoweit die persönliche Rechts- und Handlungsfähigkeit von Beteiligten in Frage kommt, ist sie von der Behörde, wenn in den Verwaltungsvorschriften nicht anderes bestimmt ist, nach den Vorschriften des bürgerlichen Rechts zu beurteilen.

§ 11. Soll von Amts wegen oder auf Antrag gegen einen handlungsunfähigen Beteiligten, der eines gesetzlichen Vertreters entbehrt, oder gegen eine Person, deren Aufenthalt unbekannt ist, eine Amtshandlung vorgenommen werden, so kann die Behörde, wenn die Wichtigkeit der Sache es erfordert, die Betrauung einer Person mit der Obsorge oder die Bestellung eines Sachwalters oder Kurators beim zuständigen Gericht (§ 109 JN) veranlassen."

14 Die Frage der prozessualen Handlungsfähigkeit (Prozessfähigkeit) einer Partei ist zufolge des § 9 AVG - wenn in den Verwaltungsvorschriften nichts anderes bestimmt ist - nach den Vorschriften des bürgerlichen Rechts zu beurteilen. Damit wird die prozessuale Rechts- und Handlungsfähigkeit an die materiellrechtliche Rechts- und Handlungsfähigkeit geknüpft. Hiefür ist entscheidend, ob die Partei im Zeitpunkt der betreffenden Verfahrensabschnitte in der Lage war, Bedeutung und Tragweite des Verfahrens sowie der sich aus ihm ereignenden prozessualen Vorgänge zu erkennen, zu verstehen und sich den Anforderungen eines derartigen Verfahrens entsprechend zu verhalten, was neben den von ihr gesetzten aktiven Verfahrenshandlungen auch Unterlassungen erfasst.

Nach der hg. Rechtsprechung ist das Fehlen der Prozessfähigkeit nach § 9 AVG als Vorfrage in jeder Lage des Verfahrens und von Amts wegen wahrzunehmen. Hat die Behörde hinsichtlich des Vorliegens der Prozessfähigkeit einer Partei Bedenken, so hat sie die Frage - idR durch Einholung eines Sachverständigengutachtens - von Amts wegen zu prüfen. Bei Bestätigung der Bedenken hat die Behörde nach § 11 AVG vorzugehen, d.h. die Bestellung eines Sachwalters beim zuständigen (Pflegschafts )Gericht zu veranlassen (vgl. zu allem die hg. Erkenntnisse vom , Ra 2014/20/0139, mwN, und vom , Ra 2014/02/0095 sowie Hengstschläger/Leeb , AVG2 (2014) § 9 Rz 2; § 11 Rz 3). Gemäß § 17 VwGVG iVm §§ 9, 11 AVG gelten diese Ausführungen auch für das Bundesverwaltungsgericht.

15 Vorliegend hegte das Bundesverwaltungsgericht offenbar begründete Zweifel an der Prozessfähigkeit des Mitbeteiligten während des Verfahrens vor der Verwaltungsbehörde und hat auch aus diesem Grund gemäß § 28 Abs. 3 VwGVG den Bescheid der Behörde behoben und die Angelegenheit zur Erlassung eines neuen Bescheides zurückverwiesen.

16 Nach den eben dargelegten Grundsätzen hätte das Bundesverwaltungsgericht die Frage der Prozessfähigkeit jedoch schon im Hinblick auf die Zulässigkeit der Beschwerde als Vorfrage (§ 38 AVG) selbstständig zu beurteilen gehabt. Insbesondere wäre zu prüfen gewesen, ob der Mitbeteiligte im Beschwerdeverfahren vor dem Bundesverwaltungsgericht sowie allenfalls auch schon ab Beginn des Verwaltungsverfahrens tatsächlich jene Fähigkeiten besessen hat, die für die Wirksamkeit von Verfahrensschritten erforderlich sind, zumal behördliche Akte nicht gegenüber Personen wirksam werden können, denen die Fähigkeit fehlt, die Bedeutung und Tragweite dieser Akte zu erkennen und für sie noch kein Sachwalter bestellt ist. War der Mitbeteiligte schon bei Zustellung des verwaltungsbehördlichen Bescheids prozessunfähig, führt dies zur Unwirksamkeit der verfahrensrechtlichen Akte der Behörde. Schon aus diesem Grund hätte das Bundesverwaltungsgericht nicht über die ihm vorliegende Beschwerde entscheiden können und wäre diese gemäß § 28 Abs. 1 VwGVG (als unzulässig) zurückzuweisen gewesen (W alter/Kolonovits/Muzak/Stöger , Verwaltungsverfahrensrecht10 (2014) Rz 824).

Die Voraussetzungen einer Zurückverweisung gemäß § 28 Abs. 3 VwGVG lagen damit nicht vor.

17 Nach den vom Verwaltungsgerichtshof anlässlich des Revisionsverfahrens durchgeführten Ermittlungen hinsichtlich der Prozessfähigkeit des Mitbeteiligten (in Bezug auf die Einbringung einer Revisionsbeantwortung) steht fest, dass mit Beschluss des Bezirksgerichtes S vom , 15 P 93/14b-27, die Sachwalterschaft über den Mitbeteiligten für beendet erklärt wurde und der eingesetzte Sachwalter seines Amtes enthoben wurde. Über Anregung des Verwaltungsgerichtshofs wurde für den Mitbeteiligten mit Beschluss des Bezirksgerichts Steyr vom , 17 P 164/16m-59, ein Sachwalter zur Vertretung vor Gerichten, Behörden und Sozialversicherungsträgern und Vertretung im Asylverfahren bestellt.

18 Im fortzusetzenden Verfahren wird das Bundesverwaltungsgericht unter Beiziehung des mittlerweile bestellten Sachwalters die Prozessfähigkeit des Mitbeteiligten selbst im Hinblick auf die entscheidungsrelevanten Zeiträume zu prüfen haben. Die Sachwalterbestellung wirkt nämlich nur insofern konstitutiv, als ab ihrer Wirksamkeit die Prozessfähigkeit und Handlungsfähigkeit im dort umschriebenen Ausmaß keinesfalls mehr gegeben ist. Das enthebt bei begründeten Bedenken hinsichtlich des davor liegenden Zeitraumes die Behörde bzw. das Verwaltungsgericht nicht der Prüfung des Vorliegens der Fähigkeiten in den in Betracht kommenden Zeitpunkten (vgl. das Erkenntnis vom , 2012/02/0198, mwN, sowie das bereits zitierte Erkenntnis vom ).

19 Insgesamt hat das Verwaltungsgericht daher zu Unrecht eine kassatorische Entscheidung nach § 28 Abs. 3 Satz 2 VwGVG getroffen, sodass der angefochtene Beschluss gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG wegen Rechtswidrigkeit seines Inhalts aufzuheben war. Auf das übrige Vorbringen in der Revision war daher nicht mehr weiter einzugehen.

Wien, am