VwGH vom 20.12.2016, Ra 2015/01/0033
Betreff
Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Blaschek, die Hofräte Dr. Kleiser und Dr. Fasching sowie die Hofrätinnen Mag. Rossmeisel und Dr. Reinbacher als Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag. Berger, über die Revision der Mag. I Z in W, vertreten durch Mag. Dr. Thomas Hofer-Zeni, Rechtsanwalt in 1030 Wien, Landstraßer Hauptstraße 82, gegen das Erkenntnis des Verwaltungsgerichts Wien vom , Zl. VGW-102/013/626/2014, betreffend Ausübung unmittelbarer verwaltungsbehördlicher Befehls- und Zwangsgewalt in einer Angelegenheit nach dem Unterbringungsgesetz, zu Recht erkannt:
Spruch
Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.
Der Bund hat der Revisionswerberin Aufwendungen in der Höhe von EUR 1.346,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.
Begründung
1 Mit Erkenntnis vom wies das Verwaltungsgericht Wien die Maßnahmenbeschwerde der Revisionswerberin gegen die Ausübung unmittelbarer verwaltungsbehördlicher Befehls- und Zwangsgewalt (zwangsweise Verbringung in die psychiatrische Abteilung eines Krankenhauses und die zu diesem Zweck geübte Gewaltanwendung) durch Organe der Landespolizeidirektion Wien - nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung - gemäß Art. 130 Abs. 1 Z 2 B-VG ab und sprach aus, dass die Revision nicht zulässig sei.
2 Begründend führte das Verwaltungsgericht aus, am sei bei der Polizeiinspektion ein Schreiben des Bezirksgerichts eingelangt. In diesem sei um amtsärztliche Untersuchung der Revisionswerberin gebeten und angeregt worden, bei Erforderlichkeit eine zwangsweise Unterbringung der Revisionswerberin gemäß § 8 Unterbringungsgesetz (UbG) wegen akuter Selbstmordgefährdung durchzuführen. Dem Schreiben zufolge habe die Revisionswerberin im Verfahren zur Sachwalterbestellung mehrfach ihren Selbstmord angedroht. Nach dem Gutachten des vom Bezirksgericht beigezogenen Sachverständigen vom leide die Revisionswerberin an einer schweren depressiven Episode, deren Schweregrad Psychosewert habe und von der Revisionswerberin nicht mehr willentlich zu steuern sei. Aufgrund der klar ausgesprochenen Suiziddrohungen sowie der Tatsache, dass eine Beeinflussungsmöglichkeit von außen zurzeit nicht gegeben sei, sei die Notwendigkeit einer stationären Aufnahme der Revisionswerberin gegen ihren Willen zu prüfen. Weiters empfehle der Sachverständige, eine persönliche Begutachtung - für den Fall, dass das Bezirksgericht eine solche für erforderlich halten sollte - nur stationär in einem psychiatrischen "Setting" durchzuführen und die Revisionswerberin eventuell zu behandeln.
3 Aufgrund dieses Schreibens seien zwei Polizeibeamte zur Wohnadresse der Revisionswerberin gefahren und hätten sie vom Schreiben des Bezirksgerichts in Kenntnis gesetzt. Die Revisionswerberin habe eingeräumt, dass die Selbstmorddrohungen von ihr stammen würden. Sie habe jedoch angegeben, dass das im Schreiben des Bezirksgerichts zusammengefasst wiedergegebene Sachverständigengutachten nicht stimme. Daher sei von den Beamten über die Landesleitzentrale ein Polizeiamtsarzt angefordert worden. Die Amtsärztin sei um 17:30 Uhr erschienen, habe in die vom Bezirksgericht übermittelten Unterlagen Einsicht genommen und die Revisionswerberin untersucht. Das Gespräch mit der Amtsärztin sei von Seiten der Revisionswerberin "etwas heftiger" verlaufen, weil diese Gutachtern generell misstraue und besondere Vorbehalte gegen den vom Bezirksgericht bestellten Sachverständigen habe. Aufgrund der auffallenden Affektlage der Revisionswerberin - die Amtsärztin habe hierzu "agitiert" vermerkt -, der Gesprächsinhalte und des Gesprächsverlaufs habe die Amtsärztin schon nach kurzer Zeit die ihr schriftlich vorliegende Einschätzung des vom Gericht bestellten Sachverständigen bestätigt und eine paranoide Persönlichkeitsstörung diagnostiziert. Aufgrund der mehrfachen, von der Revisionswerberin nicht bestrittenen Selbstmordankündigungen habe die Amtsärztin eine akute Selbstgefährdung konstatiert und nach kurzem Gespräch eine Bescheinigung gemäß § 8 UbG ausgestellt.
4 Nachdem die Revisionswerberin verstanden habe, dass sie untergebracht werden solle, habe sie zu toben begonnen und geschrien, dass sie nicht in ein psychiatrisches Krankenhaus wolle. Sie sei aufgesprungen, in ein anderes Zimmer gelaufen und habe versucht, die Tür zuzudrücken. Dies sei von einem der Polizeibeamten verhindert worden, sodass er sie am Arm habe erfassen können. Daraufhin habe sich die Revisionswerberin fallen gelassen und auf den Boden gesetzt. Aufgrund des Tobens der Revisionswerberin habe die zweite Polizeibeamtin über Funk eine Notsituation gemeldet, sodass zahlreiche weitere Funkwägen zur Wohnung zugefahren seien. In der Zwischenzeit habe der Polizeibeamte beruhigend auf die Revisionswerberin eingeredet und versucht, sie zum Aufstehen und Mitgehen zu motivieren. Die Revisionswerberin habe sich jedoch geweigert, zu kooperieren. Daher sei ein weiterer Beamter auf die Revisionswerberin zugetreten, um sie am zweiten Arm zu erfassen. Daraufhin habe die Revisionswerberin begonnen, mit den Ellbogen "hin und her" zu schlagen und mit den Füßen "auszutreten". Die Revisionswerberin sei von den Beamten am Boden fixiert und ihr seien Handfesseln angelegt worden. Dabei sei weder ein Beamter auf ihren Kopf getreten noch sei auf andere Weise überschießende Gewalt angewendet worden. Anschließend sei die Revisionswerberin mit der Rettung in die psychiatrische Abteilung des Krankenhauses gebracht worden.
5 Beweiswürdigend hielt das Verwaltungsgericht u.a. fest, aus dem Gutachten des (im Verfahren vor dem Verwaltungsgericht beigezogenen) psychiatrischen Amtssachverständigen folge, dass die Begutachtung durch die Polizeiamtsärztin trotz einer Dauer von nur knapp drei Minuten des direkten Gesprächs ordnungsgemäß erfolgt sei. Der Amtssachverständige habe ausgeführt, dass es - unter Zugrundelegung der der Amtsärztin vorgelegenen Informationen des im Verfahren zur Sachwalterbestellung beigezogenen fachärztlichen Sachverständigen - durchaus möglich sei, innerhalb kurzer Zeit die beträchtliche psychische Auffälligkeit der Revisionswerberin festzustellen. Eine Kombination aus eigener Suizidankündigung und beträchtlicher psychischer Alteration stelle für einen psychiatrisch nicht ausgebildeten Arzt, wie die Amtsärztin, einen begründeten und hinreichenden Anlass für die fachärztliche Vorstellung zur weiteren Abklärung der Selbstgefährdung in einer psychiatrischen Abteilung dar. Bei der in der Bescheinigung angegebenen paranoiden Persönlichkeitsstörung handle es sich um eine psychiatrische Diagnose, die durchaus mit einer Suizidgefährdung verbunden sein könne.
6 Weiters hielt das Verwaltungsgericht fest, dass die Ausführungen des psychiatrischen Amtssachverständigen mit dem persönlichen Eindruck, den die Revisionswerberin in der mündlichen Verhandlung hinterlassen habe, übereinstimmen würden. Die Revisionswerberin habe erkennen lassen, dass sie sich von Psychiatern, Anwälten und Behörden verfolgt fühle und ihre Situation ausschließlich fremdverschuldet erlebe. Schon ihre unvermittelte Reaktion auf den beigezogenen Amtssachverständigen habe gezeigt, dass es für einen begutachtenden Arzt nicht schwierig sein könne, auf die Diagnose einer paranoiden Persönlichkeitsstörung zu kommen. Die entsprechenden Anhaltspunkte seien von der Polizeiamtsärztin auch in der Bescheinigung gemäß § 8 UbG schriftlich festgehalten worden ("alle stellen sich gegen mich", "ich brauche ein Aufnahmegerät"). Die Selbstmordankündigungen habe die Revisionswerberin ohnehin nicht bestritten.
7 In rechtlicher Hinsicht führte das Verwaltungsgericht - soweit hier wesentlich - aus, aufgrund des festgestellten Sachverhalts sei es jedenfalls vertretbar, dass die Amtsärztin das Vorliegen der Voraussetzungen gemäß § 8 iVm § 3 UbG angenommen und bescheinigt habe. Schon diese rechtmäßig zustande gekommene Bescheinigung indiziere zugleich die Rechtmäßigkeit der Verbringung in die psychiatrische Abteilung gemäß § 8 UbG. Misshandlungen oder eine übertriebene Gewaltanwendung hätten nicht festgestellt werden können. Es sei jedenfalls nicht rechtswidrig, Unterstützung anzufordern, wenn eine psychisch kranke Person in einem überraschenden Anfall zu toben beginne. Auch sei es nicht rechtswidrig, wenn kurzfristig mehr unterstützende Beamte als notwendig vor Ort seien.
8 Gegen dieses Erkenntnis richtet sich die vorliegende außerordentliche Revision, über die der Verwaltungsgerichtshof nach Vorlage der Verfahrensakten und einer Revisionsbeantwortung durch die belangte Behörde erwogen hat:
9 In der Revision wird zur Zulässigkeit u.a. vorgebracht, das Verwaltungsgericht weiche von Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ab, wonach in der vom Arzt nach § 8 UbG auszustellenden Bescheinigung das Vorliegen der Unterbringungsvoraussetzungen im Einzelnen zu begründen sei. Die von der Amtsärztin ausgestellte Bescheinigung enthalte keine Angaben zum Fehlen einer Behandlungs- oder Betreuungsmöglichkeit außerhalb einer psychiatrischen Abteilung.
10 Darüber hinaus habe das Verwaltungsgericht es entgegen der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes für zulässig erachtet, dass der Revisionswerberin Handfesseln am Rücken angelegt worden seien. Das Verwaltungsgericht habe es aber unterlassen, konkrete Feststellungen dazu zu treffen, inwiefern ohne die vorgenommene Fesselung eine Gefährdung der einschreitenden Beamten gedroht hätte.
11 Die Revision ist zulässig. Sie ist auch berechtigt. 12 Das Bundesgesetz vom über die Unterbringung
psychisch Kranker in Krankenanstalten (Unterbringungsgesetz - UbG), BGBl. Nr. 155/1990 idF BGBl. I Nr. 18/2010, lautet auszugsweise:
"(...)
Voraussetzungen der Unterbringung
§ 3. In einer psychiatrischen Abteilung darf nur
untergebracht werden, wer
1. an einer psychischen Krankheit leidet und im
Zusammenhang damit sein Leben oder seine Gesundheit oder das Leben
oder die Gesundheit anderer ernstlich und erheblich gefährdet und
2. nicht in anderer Weise, insbesondere außerhalb einer
psychiatrischen Abteilung, ausreichend ärztlich behandelt oder betreut werden kann.
(...)
Unterbringung ohne Verlangen
§ 8. Eine Person darf gegen oder ohne ihren Willen nur dann in eine psychiatrische Abteilung gebracht werden, wenn ein im öffentlichen Sanitätsdienst stehender Arzt oder ein Polizeiarzt sie untersucht und bescheinigt, dass die Voraussetzungen der Unterbringung vorliegen. In der Bescheinigung sind im Einzelnen die Gründe anzuführen, aus denen der Arzt die Voraussetzungen der Unterbringung für gegeben erachtet.
§ 9. (1) Die Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes sind berechtigt und verpflichtet, eine Person, bei der sie aus besonderen Gründen die Voraussetzungen der Unterbringung für gegeben erachten, zur Untersuchung zum Arzt (§ 8) zu bringen oder diesen beizuziehen. Bescheinigt der Arzt das Vorliegen der Voraussetzungen der Unterbringung, so haben die Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes die betroffene Person in eine psychiatrische Abteilung zu bringen oder dies zu veranlassen. Wird eine solche Bescheinigung nicht ausgestellt, so darf die betroffene Person nicht länger angehalten werden.
(2) (...)
(3) Der Arzt und die Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes haben unter möglichster Schonung der betroffenen Person vorzugehen und die notwendigen Vorkehrungen zur Abwehr von Gefahren zu treffen. Sie haben, soweit das möglich ist, mit psychiatrischen Einrichtungen außerhalb einer psychiatrischen Abteilung zusammenzuarbeiten und erforderlichenfalls den örtlichen Rettungsdienst beizuziehen.
(...)"
13 Voraussetzung für eine Unterbringung iSd UbG ist somit - kumulativ - eine psychische Krankheit, eine damit im Zusammenhang stehende ernstliche und erhebliche Gefährdung des (eigenen oder fremden) Lebens oder der Gesundheit (§ 3 Z 1 UbG) sowie der Mangel ausreichender ärztlicher Behandlungs- oder Betreuungsmöglichkeiten außerhalb einer psychiatrischen Abteilung (§ 3 Z 2 UbG).
14 Aus den §§ 8 und 9 UbG ergibt sich, dass eine Beurteilung, ob die Unterbringungsvoraussetzungen des § 3 UbG gegeben sind, nicht erst bei der Aufnahme in eine psychiatrische Abteilung, sondern schon bei der "Verbringung" in eine solche vorzunehmen ist. Dabei ist zu prüfen, ob die Sicherheitsorgane zumindest vertretbar das Vorliegen der Unterbringungsvoraussetzungen annehmen konnten (vgl. das hg. Erkenntnis vom , 94/11/0340, VwSlg 14.706/A).
15 Dem Verwaltungsgericht ist nicht entgegen zu treten, wenn es - gestützt auf das Gutachten des im Verfahren beigezogenen psychiatrischen Sachverständigen und die Ergebnisse der mündlichen Verhandlung - die Annahme einer psychischen Krankheit durch die Amtsärztin für unbedenklich erachtet. Aufgrund der unbestrittenen Selbstmorddrohungen ist es auch nicht als rechtswidrig zu erkennen, wenn das Verwaltungsgericht von einer mit dieser Erkrankung im Zusammenhang stehenden ernstlichen und erheblichen Gefährdung des Lebens oder der Gesundheit der Revisionswerberin ausgegangen ist.
16 Das Verwaltungsgericht hat es jedoch unterlassen, sich mit der in § 3 Z 2 UbG normierten (Negativ )Voraussetzung für die Unterbringung in einer psychiatrischen Abteilung auseinander zu setzen. Dem angefochtenen Erkenntnis sind keine Feststellungen dahingehend zu entnehmen, ob die Revisionswerberin nicht in anderer Weise, insbesondere außerhalb einer psychiatrischen Abteilung, ausreichend ärztlich behandelt oder betreut hätte werden können.
17 Da solche Feststellungen für die Beurteilung der Rechtmäßigkeit der Verbringung in die psychiatrische Abteilung erforderlich gewesen wären, hat das Verwaltungsgericht das angefochtene Erkenntnis mit inhaltlicher Rechtswidrigkeit belastet.
18 Soweit sich die Revision gegen das Anlegen der Handfesseln wendet, ist - ausgehend vom Vorliegen der Unterbringungsvoraussetzungen nach § 3 UbG - nicht zu erkennen, dass das Verwaltungsgericht in unvertretbarer Weise von der Rechtmäßigkeit der Handfesselung ausgegangen wäre. So hat das Verwaltungsgericht festgestellt, dass die Revisionswerberin getobt und geschrien, mit den Ellbogen "hin und her" geschlagen und mit den Füßen "ausgetreten" hat. Dass die Sicherheitsbehörden dem Widerstand der Revisionswerberin auf maßvollere Weise als durch das Anlegen von Handfesseln hätten begegnen können, vermag die Revision nicht aufzuzeigen (vgl. zur Eigensicherung der Beamten das hg. Erkenntnis vom , 2004/01/0547, VwSlg 16.771/A).
19 Das angefochtene Erkenntnis war aus den oben dargestellten Gründen gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufzuheben.
20 Die Entscheidung über den Aufwandersatz beruht auf den §§ 47 ff VwGG iVm der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2014.
Wien, am