VwGH vom 05.05.2015, Ra 2014/22/0162
Beachte
Miterledigung (miterledigt bzw zur gemeinsamen Entscheidung
verbunden):
Ra 2014/22/0164
Ra 2014/22/0163
Betreff
Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Köhler, Hofrat Dr. Robl, Hofrätin Mag.a Merl und die Hofräte Dr. Mayr und Dr. Schwarz als Richter, im Beisein der Schriftführerin Mag.a Lechner, über die Revision der Bundesministerin für Inneres gegen das Erkenntnis des Landesverwaltungsgerichtes Steiermark vom , Zlen. LVwG 26.16-2030/2014-31, LVwG 26.16-2031/2014-12, LVwG 26.16- 2032/2014-11, betreffend Aufenthaltsbewilligung (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Landeshauptmann von Steiermark; mitbeteiligte Parteien: 1) Z K, 2) X X, geboren am , und 3) X Y, geboren am , alle in G), zu Recht erkannt:
Spruch
Die Revision wird als unbegründet abgewiesen.
Begründung
Mit dem angefochtenen Erkenntnis gab das Verwaltungsgericht den Beschwerden der Mitbeteiligten Folge und ihren Anträgen auf Erteilung einer Aufenthaltsbewilligung "Besonderer Schutz" gemäß § 69a Abs. 1 Z 3 Niederlassungs- und Aufenthaltsgesetz (NAG) in der Fassung vor BGBl. I Nr. 87/2012 statt. Es erteilte die Aufenthaltstitel für zwölf Monate und erklärte die ordentliche Revision für unzulässig.
Es stellte fest, dass die Mitbeteiligten am in das Bundesgebiet eingereist seien und Anträge auf internationalen Schutz gestellt hätten. Diese Anträge seien in Verbindung mit Ausweisungen abgewiesen worden. Die Erstmitbeteiligte (Mutter der übrigen Mitbeteiligten) habe im Jahr 1994 den mittlerweile von ihr wieder geschiedenen H. K. geheiratet. Die Ehe sei eine Zwangsheirat gewesen. H. K. habe 1989 die Türkei verlassen und sei nach Österreich gekommen, wo er über eine "Rot-Weiß-Rot-Karte - Plus" verfüge. Die "Familien" hätten beschlossen, dass die Erstmitbeteiligte dem Ehemann nach Österreich folgen sollte. Dieser sei der Erstmitbeteiligten gegenüber aggressiv und demütigend vorgegangen. Die Erstmitbeteiligte habe nach einem gewalttätigen Übergriff am Anzeige erstattet. Sie habe sich an die Caritas gewendet und sei ins Frauenwohnhaus gekommen. Das Bezirksgericht Graz-West habe mit Beschluss vom eine einstweilige Verfügung gemäß § 382e EO gegenüber H. K. erlassen. Es sei ihm aufgetragen worden, das Zusammentreffen sowie die Kontaktaufnahme mit der Erstmitbeteiligten zu vermeiden. Am sei die Erstmitbeteiligte geschieden worden. Am habe sie für sich und ihre Kinder Anträge gemäß § 69a Abs. 1 Z 3 (NAG) eingebracht. Diese Anträge habe der Landeshauptmann von Steiermark mit Bescheid vom abgewiesen. Dagegen hätten die Mitbeteiligten Berufungen erhoben.
Gemäß den Angaben einer Zeugin habe H. K. zur Erstmitbeteiligten anlässlich einer Verhandlung über Unterhaltsforderungen gesagt: "Hier sind die Gesetze für dich, aber du bist illegal hier, du hast keinen Aufenthaltstitel. In ein paar Monaten wirst du in der Türkei landen, du wirst deine Kinder nie wieder sehen und deine Strafe wirst du büßen." In den Wochen nach der Trennung sei die Erstmitbeteiligte "durch die Familie" massiv am Telefon bedroht worden. Es habe sich "die Familie" darauf geeinigt, dass die Erstmitbeteiligte, wenn sie zurück in der Türkei sei, bestraft werde. Der Vater der Erstmitbeteiligten habe anlässlich eines laut gestellten und daher in der Verhandlung mit zu hörenden Telefongespräches der Erstmitbeteiligten erklärt, sie müsse, bevor sie abgeschoben werde, jedenfalls zu ihrem Mann zurückkehren, andernfalls würde er sie mit eigenen Händen umbringen. Die Erstmitbeteiligte habe das Gefühl, H. K. warte derzeit nur ab, weil er ohnehin glaube, dass die Erstmitbeteiligte abgeschoben werde und dann werde es ohnehin die "Strafe" durch die "Familie" geben.
Von der Caritas würden Vorkehrungen getroffen, dass die Mitbeteiligten im Fall des Verbleibs im Bundesgebiet zum Beispiel durch eine Meldesperre möglichst große Sicherheit hätten.
Rechtlich folgerte das Verwaltungsgericht im Wesentlichen, dass als Voraussetzung für die Aufenthaltsbewilligung nach § 69a Abs. 1 Z 3 NAG eine bis gültige einstweilige Verfügung nach § 382b EO erlassen worden sei. Diese sei somit zum Zeitpunkt der behördlichen Entscheidung vorgelegen.
Diese Voraussetzung sei allerdings auch dann erfüllt, wenn eine einstweilige Verfügung (bloß) hätte erlassen werden können. Dies sei zum Zeitpunkt der Entscheidung des Verwaltungsgerichtes der Fall. Auf Grund der eindringlichen Schilderungen sei davon auszugehen, dass im Fall einer Abweisung der Beschwerde das Bedrohungsszenario, welches sich durch zahlreiche Drohungen gegenüber der Erstmitbeteiligten manifestiert habe, erneut aktuell werde und erneut ein Verhalten gesetzt werde, das dem Tatbild der § 382b oder 382e EO entspreche. Die Drohung sei auch vor Zeugen geäußert worden, weshalb die Schilderungen der Erstmitbeteiligten als absolut glaubhaft eingeschätzt würden. Entgegen der Einschätzung der Behörde habe die Erstmitbeteiligte absolut glaubhaft gemacht, dass der Aufenthaltstitel zum Schutz vor weiterer Gewalt notwendig sei. Der geschiedene Mann der Erstmitbeteiligten habe mehrfach seine Geringschätzung der Erstmitbeteiligten gegenüber zum Ausdruck gebracht und ihr vor Zeugen erklärt, dass sie keinen Aufenthaltstitel hätte und illegal im Bundesgebiet wäre. In Österreich wären die Gesetze "für sie, aber wenn sie in der Türkei landen werde, werde sie die Kinder nie wieder sehen und die Strafe büßen". Daraus zeige sich, dass ganz offensichtlich für den geschiedenen Ehemann die derzeit mangelnde Aufenthaltsbewilligung in Österreich ein zentraler Anknüpfungspunkt sei und diese daher einen Schutz vor weiterer Gewalt bieten könne.
Entgegen der Behörde sei die Frage, weshalb die Erstmitbeteiligte in das Bundesgebiet eingereist sei, nachdem sie zehn Jahre lang getrennt von ihrem Ehemann in der Türkei gelebt habe, nicht entscheidungserheblich. Sie habe nicht damit rechnen müssen, bei Einreise in das Bundesgebiet und Nachzug zu ihrem Ehemann das Opfer familiärer Gewalt zu werden, zumal diese Einreise - wie glaubhaft ausgeführt - nicht ihrem freien Willen zuzuschreiben gewesen sei.
Somit lägen die Voraussetzungen für die Erteilung der Aufenthaltsbewilligungen auch zum Zeitpunkt der Entscheidung des Landesverwaltungsgerichtes vor.
Die Revision sei unzulässig, weil keine Rechtsfrage grundsätzlicher Bedeutung zu beurteilen gewesen sei.
Gegen dieses Erkenntnis richtet sich die außerordentliche Revision der Bundesministerin für Inneres. Die Mitbeteiligten erstatteten eine Revisionsbeantwortung.
Der Verwaltungsgerichtshof hat erwogen:
Die Revision ist zulässig, weil Rechtsprechung zu der im Folgenden behandelten Frage fehlt, sie ist aber nicht berechtigt.
§ 69a NAG in der hier gemäß § 81 Abs. 26 NAG anzuwendenden Fassung vor der Novelle BGBl. I Nr. 87/2012 lautete auszugsweise:
" Besonderer Schutz
§ 69a. (1) Im Bundesgebiet aufhältigen Drittstaatsangehörigen ist trotz Vorliegens eines Erteilungshindernisses gemäß § 11 Abs. 1 Z 3 bis 6 sowie trotz Ermangelung einer Voraussetzung gemäß § 11 Abs. 2 von Amts wegen oder auf begründeten Antrag, der bei der örtlich zuständigen Behörde im Inland einzubringen ist, eine Aufenthaltsbewilligung für besonderen Schutz zu erteilen:
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1. | ... |
2. | ... |
3. | wenn der Drittstaatsangehörige, der im Bundesgebiet nicht rechtmäßig aufhältig oder nicht niedergelassen ist, Opfer von Gewalt wurde, eine einstweilige Verfügung nach §§ 382b oder 382e EO erlassen wurde oder erlassen hätte werden können und der Drittstaatsangehörige glaubhaft macht, dass die Erteilung der Aufenthaltsbewilligung zum Schutz vor weiterer Gewalt erforderlich ist oder |
4. | ... |
..." | |
Die Revisionswerberin vertritt den Standpunkt, dass in der vorliegenden Konstellation der Tatbestand "eine einstweilige Verfügung nach § 382b oder § 382e EO hätte erlassen werden können" nicht vorliege. Diese Voraussetzung sei nur dann gegeben, wenn das Verhalten des Täters zwar dem Tatbild des § 382b EO entspreche, eine einstweilige Verfügung aber lediglich mangels aktuellen Bedrohungsszenarios (z.B. der Täter befindet sich in Haft oder wurde abgeschoben) nicht erlassen werden konnte. Im vorliegenden Fall sei die einstweilige Verfügung am für die Gültigkeit eines Jahres erlassen worden. Seit dem Sommer 2012 gebe es somit keine aufrechte einstweilige Verfügung mehr, woraus geschlossen werden könne, dass eine solche seitdem nicht mehr zum Schutz vor weiterer Gewalt benötigt werde. Falls eine solche zum Schutz weiterhin notwendig gewesen wäre, hätte das Gericht eine solche grundsätzlich erlassen können, weil sich Täter und Opfer in Österreich aufhielten und auch sonst kein Grund ersichtlich sei, der einer einstweiligen Verfügung entgegengestanden wäre. Die Erteilung eines solchen Aufenthaltstitels fuße grundlegend auf der Feststellung der Schutzwürdigkeit der Opfer, die durch das Erlassen einer einstweiligen Verfügung zum Ausdruck komme. Zur Erteilung der Aufenthaltstitel wäre es daher zwingend notwendig gewesen, dass eine aktuell aufrechte einstweilige Verfügung des Gerichtes vorliege. Der Fall, dass eine einstweilige Verfügung hätte erlassen werden können, komme hier nicht in Betracht. Somit liege diese besondere Erteilungsvoraussetzung nicht vor. | |
Diese Ansicht der Revisionswerberin entspricht nicht der Rechtslage. Dieser eingeengten Sichtweise hinsichtlich der Gefährdungssituation fehlt eine gesetzliche Grundlage. | |
Voraussetzung für die begehrte Aufenthaltsbewilligung ist (u.a.), dass eine einstweilige Verfügung nach § 382b oder § 382e EO "erlassen wurde oder erlassen hätte werden können". Somit ist nicht zwingend vorausgesetzt, dass eine derartige einstweilige Verfügung tatsächlich erlassen wurde. Nichts anderes kann für den Fall gelten, dass eine befristete einstweilige Verfügung erlassen worden war und nach Ablauf der Frist die Bedrohungssituation noch andauert. Nach dem klaren Gesetzeswortlaut ist daher die Voraussetzung für die Aufenthaltsbewilligung "Besonderer Schutz" im vorliegenden Fall, in dem eine einstweilige Verfügung im Zeitpunkt der Entscheidung bereits abgelaufen war, die Bedrohungssituation aber noch anhält, gegeben. | |
Weiters entfällt entgegen der Ansicht der Revisionswerberin eine Schutzbedürftigkeit "vor weiterer Gewalt" nicht schon deswegen, weil sich die gefährdete Person in einem Frauenwohnheim befindet und aus diesem Grund zu einem bestimmten Zeitpunkt eine einstweilige Verfügung nicht erlassen werden brauchte. Die von der Revisionswerberin angesprochenen Fälle, nämlich Haft oder Abschiebung des Täters, sind in den Erläuterungen (RV 88 BlgNR 24. GP 14) nur beispielhaft angeführt. | |
Entgegen der Ansicht der Revisionswerberin hat das Verwaltungsgericht zutreffend die Voraussetzungen für die begehrte Aufenthaltsbewilligung "Besonderer Schutz" bejaht und diesen Titel erteilt. Die Ableitung einer der Erstmitbeteiligten zustehenden Aufenthaltsbewilligung auf die übrigen Mitbeteiligten wird von der Revisionswerberin nicht in Zweifel gezogen. | |
Die Revision war daher gemäß § 42 Abs. 1 VwGG als unbegründet abzuweisen. Ein Kostenzuspruch hatte mangels Kostenbegehren nicht zu erfolgen. | |
Wien, am |