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VwGH vom 24.03.2015, Ra 2014/21/0049

VwGH vom 24.03.2015, Ra 2014/21/0049

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch die Vorsitzende Vizepräsidentin Dr.in Sporrer und die Hofräte Dr. Pelant, Dr. Sulzbacher und Dr. Pfiel sowie die Hofrätin Dr. Julcher als Richterinnen und Richter, im Beisein des Schriftführers Mag. Uhlir, über die Revision des J P in W, vertreten durch Mag.a Doris Einwallner, Rechtsanwältin in 1050 Wien, Schönbrunner Straße 26/3, gegen das Erkenntnis des Verwaltungsgerichtes Wien vom , VGW- 151/071/20900/2014, betreffend Erlassung eines befristeten Aufenthaltsverbotes (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl), zu Recht erkannt:

Spruch

Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.

Der Bund hat dem Revisionswerber Aufwendungen in der Höhe von EUR 1.106,40 binnen vierzehn Tagen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

Der aus dem Kosovo stammende und Mitte 1999 im Alter von 15 Jahren gemeinsam mit seiner Familie nach Österreich gekommene Revisionswerber wurde im Zeitraum Oktober 2006 bis Juni 2013 insgesamt viermal wegen Straftaten nach § 27 SMG und wegen Betrugsdelikten zu Freiheitsstrafen rechtskräftig verurteilt.

Im Hinblick darauf erließ die Landespolizeidirektion Wien gegen den Revisionswerber mit Bescheid vom gemäß § 52 Abs. 1 des Fremdenpolizeigesetzes 2005 (FPG) eine Rückkehrentscheidung und gemäß § 53 Abs. 1 und 3 Z 1 FPG ein auf die Dauer von zehn Jahren befristetes Einreiseverbot.

Dagegen erhob der Revisionswerber mit Anwaltsschriftsatz vom fristgerecht Berufung, die dem Verwaltungsgericht Wien (VwG) am vorgelegt wurde.

Diesem als Beschwerde behandelten Rechtsmittel gab das VwG mit dem angefochtenen Erkenntnis vom teilweise dahin Folge, dass gegen den Revisionswerber gemäß § 63 FPG ein mit fünf Jahren befristetes Aufenthaltsverbot erlassen werde. Unter einem sprach das VwG gemäß § 25a Abs. 1 VwGG aus, dass eine ordentliche Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG unzulässig sei.

Gegen dieses Erkenntnis richtet sich die vorliegende (außerordentliche) Revision, über die der Verwaltungsgerichtshof nach Aktenvorlage - Revisionsbeantwortungen wurden nicht erstattet - erwogen hat:

1.1. Nach Art. 133 Abs. 4 B-VG ist gegen ein Erkenntnis eines Verwaltungsgerichtes die Revision (nur) zulässig, wenn sie von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt, insbesondere weil das Erkenntnis von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes abweicht, eine solche Rechtsprechung fehlt oder die zu lösende Rechtsfrage in der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes nicht einheitlich beantwortet wird. Gemäß § 34 Abs. 1 VwGG sind Revisionen, die sich (u.a.) wegen Nichtvorliegens der Voraussetzungen des Art. 133 Abs. 4 B-VG "nicht zur Behandlung eignen", ohne weiteres Verfahren in nichtöffentlicher Sitzung mit Beschluss zurückzuweisen.

1.2. Das VwG begründete seinen Ausspruch über die Unzulässigkeit der Revision nur unter Bezugnahme auf den Gesetzestext, indem es das Vorliegen der in Art. 133 Abs. 4 B-VG normierten Voraussetzungen schlichtweg verneinte. Insbesondere sei die Frage der "Gefährdung im Sinne des FPG" in der höchstgerichtlichen Judikatur "auch in Bezug auf derartige Suchtgiftdelikte vollkommen einheitlich gelöst".

Demgegenüber wird in der Revision vor allem releviert, das VwG sei in Bezug auf seine Begründungspflicht von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes abgewichen, weil es weder für die Gefährdungsprognose noch für die Interessenabwägung ausreichende Feststellungen getroffen habe.

1.3. Damit wird im Ergebnis zutreffend geltend gemacht, dass die Revision entgegen dem - den Verwaltungsgerichtshof nicht bindenden (§ 34 Abs. 1a VwGG) - Ausspruch des VwG zulässig ist; sie ist auch berechtigt.

2.1. Das in sinngemäßer Anwendung der Übergangsbestimmung des § 125 Abs. 22 FPG zuständig gewordene VwG ist - einem entsprechendem Einwand in der Beschwerde (vormals Berufung) folgend - zu Recht davon ausgegangen, dass der Revisionswerber, der rechtzeitig vor Ablauf der Gültigkeit des ihm erteilten Aufenthaltstitels mit einen (noch nicht erledigten) Verlängerungsantrag gestellt hatte, gemäß § 24 Abs. 1 dritter Satz NAG weiterhin in Österreich rechtmäßig aufhältig war.

Gegen einen Drittstaatsangehörigen, der sich auf Grund eines Aufenthaltstitels rechtmäßig im Bundesgebiet aufhält, kann nach § 63 Abs. 1 FPG (in der gemäß § 125 Abs. 22 FPG hier generell noch anzuwendenden Fassung des FrÄG 2011) ein Aufenthaltsverbot dann erlassen werden, wenn auf Grund bestimmter Tatsachen die Annahme gerechtfertigt ist, dass sein Aufenthalt die öffentliche Ordnung und Sicherheit gefährdet oder anderen in Art. 8 Abs. 2 EMRK genannten öffentlichen Interessen zuwiderläuft. In diesem Sinn bestimmte Tatsachen sind gemäß § 63 Abs. 2 FPG insbesondere jene des § 53 Abs. 3 Z 1 FPG; sie liegen vor, wenn ein Drittstaatsangehöriger von einem Gericht zu einer unbedingten Freiheitsstrafe von mehr als drei Monaten, zu einer bedingt oder teilbedingt nachgesehenen Freiheitsstrafe von mehr als sechs Monaten oder mehr als einmal wegen auf der gleichen schädlichen Neigung beruhenden strafbaren Handlungen rechtskräftig verurteilt worden ist. In diesen Fällen kann ein Aufenthaltsverbot gemäß § 63 Abs. 3 FPG für höchstens zehn Jahre erlassen werden.

2.2. Nach ständiger Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ist bei der Erstellung der für jedes Aufenthaltsverbot zu treffenden Gefährdungsprognose das Gesamtverhalten des Fremden in Betracht zu ziehen und auf Grund konkreter Feststellungen eine Beurteilung dahin vorzunehmen, ob und im Hinblick auf welche Umstände die jeweils anzuwendende Gefährdungsannahme gerechtfertigt ist. Dabei ist nicht auf die bloße Tatsache der Verurteilung bzw. Bestrafung des Fremden, sondern auf die Art und Schwere der zu Grunde liegenden Straftaten und auf das sich daraus ergebende Persönlichkeitsbild abzustellen (vgl. zuletzt das Erkenntnis vom , Zl. Ra 2014/21/0039, Punkt 2.1. der Entscheidungsgründe, und daran anschließend die Erkenntnisse vom , Zl. Ra 2014/21/0052, sowie vom , Zl. Ra 2014/21/0059, und Zl. Ra 2014/21/0064; siehe beispielsweise auch das Erkenntnis vom , Zl. 2008/21/0576, sowie das Erkenntnis vom , Zl. 2007/21/0197, Punkt 2. und 3., je mwN).

2.3. Das VwG hat im Rahmen der (zusammengefassten) Wiedergabe der Begründung des erstinstanzlichen Bescheides die vier strafgerichtlichen Verurteilungen des Revisionswerbers zwar erwähnt; diese wurden allerdings nur durch die Nennung des Gerichts, des Urteilsdatums und der Geschäftszahl sowie der verwirklichten strafgesetzlichen Bestimmungen und der verhängten Freiheitsstrafen umschrieben. Darauf bezog sich das VwG dann im Rahmen der rechtlichen Beurteilung und führte aus, der Revisionswerber habe unstrittig "die oben detailliert festgestellten strafrechtlichen Verurteilungen des Landesgerichtes für Strafsachen Wien zu verantworten". Demnach sei er wegen der Vergehen des unerlaubten Umganges mit Suchtgiften und wegen Betrugs mehrmals rechtskräftig verurteilt worden, wobei jeweils Freiheitsstrafen von drei bis acht Monaten bedingt und Freiheitsstrafen von neun und zehn Monaten unbedingt verhängt worden seien. Die Verurteilungen hätten sich in einem Zeitraum von sieben Jahren ereignet, wobei die letzte Verurteilung wegen eines Suchtmitteldeliktes dreizehn Monate zurückliege. In diesem Zusammenhang steht dann noch der Hinweis des VwG auf Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes (Erkenntnis vom , Zl. 2007/21/0474), wonach die "Suchtgiftdelinquenz" ein besonders verpöntes Verhalten darstelle, bei dem erfahrungsgemäß eine hohe Wiederholungsgefahr gegeben sei und an dessen Verhinderung ein großes öffentliches Interesse bestehe. Die Zeit des Wohlverhaltens des Revisionswerbers seit der letzten Verurteilung im Juni 2013 sei angesichts der Dauer von etwas mehr als einem Jahr als zu kurz anzusehen, um einen Wegfall der von ihm ausgehenden Gefahr annehmen zu können.

2.4. Das VwG hat keinerlei Feststellungen zu dem den strafgerichtlichen Verurteilungen zugrundeliegenden Verhalten des Revisionswerbers getroffen. Demzufolge reichen die wiedergegebenen Ausführungen, denen keine konkrete Auseinandersetzung mit den angelasteten Straftaten und deren Begleitumständen zu entnehmen ist, am Maßstab der unter Punkt 2.2. dargelegten Rechtsprechung nicht für eine nachvollziehbare Darstellung der Gefährdungsannahme iSd § 63 Abs. 1 FPG. Das konnte auch nicht dadurch kompensiert werden, dass auf generelle Aussagen in der Judikatur zur Suchtgiftdelinquenz hingewiesen wurde, weil deren fallbezogene Relevanz nur an Hand der festzustellenden Umstände des Einzelfalls geprüft werden kann. Gleiches gilt für die Einschätzung des VwG, das Wohlverhalten des Revisionswerbers sei noch zu kurz, um von einem Gefährdungswegfall ausgehen zu können.

Im Übrigen bemängelt die Revision in diesem Zusammenhang zu Recht, das VwG habe die sowohl vom Bewährungshelfer als auch von der behandelnden Therapeutin in der Verhandlung vor dem VwG erstellten günstigen Zukunftsprognosen überhaupt nicht einbezogen (vgl. zu einem ähnlichen Begründungsmangel etwa das hg. Erkenntnis vom , Zl. 2011/23/0417). Außerdem hätte das VwG zu dem von einem Freund und von Verwandten des Revisionswerbers attestierten Gesinnungswandel Stellung beziehen müssen. Im Übrigen wären zu diesen Ermittlungsergebnissen konkrete Feststellungen zu treffen gewesen; die im Erkenntnis vorgenommene bloße Wiedergabe der Aussagen in der mündlichen Verhandlung reicht nicht (vgl. zu den Begründungsanforderungen für Verwaltungsgerichte des Näheren das hg. Erkenntnis vom , Zl. Ro 2014/03/0076, Punkt IV.B.5.2. der Entscheidungsgründe).

3.1. Würde durch eine Rückkehrentscheidung, eine Ausweisung oder ein Aufenthaltsverbot in das Privat- oder Familienleben des Fremden eingegriffen, so ist die Erlassung einer solchen Maßnahme gemäß § 61 Abs. 1 FPG (in der - wie schon erwähnt - gemäß § 125 Abs. 22 FPG anzuwendenden Fassung des FrÄG 2011) aber nur dann zulässig, wenn dies zur Erreichung der im Art. 8 Abs. 2 EMRK genannten Ziele dringend geboten ist. § 61 FPG entspricht in weiten Bereichen dem davor geltenden § 66 FPG (alt), weshalb sinngemäß auf die dazu ergangene Judikatur verwiesen werden kann. Es ist daher nach wie vor unter Bedachtnahme auf alle Umstände des Einzelfalls eine gewichtende Abwägung des öffentlichen Interesses an einer Aufenthaltsbeendigung mit den gegenläufigen privaten und familiären Interessen, insbesondere unter Berücksichtigung der im § 61 Abs. 2 FPG genannten Kriterien und unter Einbeziehung der sich aus § 61 Abs. 3 FPG ergebenden Wertungen, in Form einer Gesamtbetrachtung vorzunehmen (vgl. das Erkenntnis vom , Zl. 2011/21/0277, mwN).

3.2. Der Revisionswerber hat in seinem gegen den erstinstanzlichen Bescheid erhobenen Rechtsmittel zu allen Aspekten des § 61 Abs. 2 FPG ein konkretes Vorbringen erstattet. In diesem Zusammenhang bemängelt die Revision zu Recht, dass sich das VwG damit nicht im Einzelnen auseinandergesetzt und zu den diesbezüglich insbesondere durch Vernehmung des Revisionswerbers und Befragung von Zeugen erzielten Ermittlungsergebnissen keine ausdrücklichen Feststellungen getroffen hat. Auch insoweit blieb es bei der ungenügenden (siehe oben) bloßen Wiedergabe des Inhalts des Verhandlungsprotokolls.

Es finden sich zwar im Rahmen der rechtlichen Beurteilung die kursorischen Konstatierungen, die "gesamte engere Familie" des Revisionswerbers (Eltern, Brüder, Schwestern, Nichten, etc.) lebe in Österreich und es bestehe ein "intensives" Familienleben. Das wird aber dem umfangreichen Vorbringen des Revisionswerbers, auf das auch in der Revision Bezug genommen wird, nicht gerecht. Außerdem gestand das VwG dem Revisionswerber ausdrücklich zu, dass Bindungen zum Heimatland "praktisch nicht vorhanden" seien. Daraus folgerte es insgesamt einen durch das Aufenthaltsverbot bewirkten "massiven" Eingriff in das Privat- und Familienleben des Revisionswerbers. Somit hätte es auch angesichts dessen näherer Feststellungen zum strafbaren Verhalten des Revisionswerbers, aber auch zu seinen Bemühungen zur Überwindung der offenbar den Anlass hierfür bildenden Drogensucht bedurft, um die Annahme des VwG, das große Gewicht der öffentlichen Interessen überwiege jene des Revisionswerbers, nachvollziehbar zu begründen.

4.1. Das angefochtene Erkenntnis war daher gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 lit. b und c VwGG wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufzuheben.

4.2. Der Kostenzuspruch gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2014.

Wien, am