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VwGH vom 22.01.2014, 2011/22/0050

VwGH vom 22.01.2014, 2011/22/0050

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch die Vorsitzende Senatspräsidentin Dr. Bernegger und die Hofräte Dr. Robl, Mag. Straßegger, Dr. Mayr und Dr. Schwarz als Richter, im Beisein der Schriftführerin Mag. Perauer, über die Beschwerde der Y, vertreten durch Mag. German Bertsch, Rechtsanwalt in 6800 Feldkirch, Saalbaugasse 2, gegen den Bescheid der Bundesministerin für Inneres vom , Zl. 156.516/2- III/4/10, betreffend Aufenthaltstitel, zu Recht erkannt:

Spruch

Der angefochtene Bescheid wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.

Der Bund hat der Beschwerdeführerin Aufwendungen in der Höhe von EUR 1.326,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

Mit dem angefochtenen, im Instanzenzug ergangenen Bescheid wies die belangte Behörde den am eingebrachten Antrag der Beschwerdeführerin, einer türkischen Staatsangehörigen, auf Erteilung einer "Niederlassungsbewilligung - Angehöriger" nach § 11 Abs. 2 Z 4 und Abs. 5 Niederlassungs- und Aufenthaltsgesetz (NAG) ab.

Begründend führte die belangte Behörde aus, die Beschwerdeführerin habe ihren Antrag im Wesentlichen auf die Familienzusammenführung mit ihrem Sohn, Herrn SY, gestützt, der die österreichische Staatsbürgerschaft besitze. Als Nachweis eines gesicherten Lebensunterhaltes habe sie eine von diesem unterfertigte Haftungserklärung sowie dessen Lohnbestätigungen beigelegt. Zudem seien eidesstattliche Erklärungen von zwei weiteren Söhnen der Beschwerdeführerin, MY und GY, vorgelegt worden, worin sich diese bereit erklärt hätten, monatlich einen Betrag von jeweils EUR 350,-- beizutragen, "falls dies rechtlich notwendig sein sollte". Dazu seien auch Lohnbestätigungen dieser beiden Söhne vorgelegt worden.

Zur Beurteilung der Tragfähigkeit der Haftungserklärung führte die belangte Behörde aus, dass sich aus den vorgelegten Einkommensnachweisen des zusammenführenden Sohnes unter Berücksichtigung der Sonderzahlungen ein monatliches Durchschnittseinkommen von ca. EUR 1.951,-- ergebe. Mit diesem Einkommen sei der Sohn der Beschwerdeführerin für dessen Gattin, die selbst nicht erwerbstätig sei, und drei minderjährige Kinder sorgepflichtig. Der Wohnungsaufwand betrage zudem EUR 913,75, wovon der Wert der freien Station in Abzug zu bringen sei. Für die nachziehende Person müsse nochmals ein Betrag von EUR 793,40 vorhanden sein, wobei zu berücksichtigen sei, dass die Beschwerdeführerin selbst eine Witwenpension in Höhe von EUR 321,68 beziehe. Auf Grund einer Differenz in Höhe von EUR 739,73 zwischen dem Gesamthaushaltseinkommen und den notwendigen Unterhaltsmitteln sei die Existenz des Zusammenführenden und der Beschwerdeführerin ohne Inanspruchnahme von Sozialleistungen nicht gesichert und damit auch die Tragfähigkeit der gemäß § 47 Abs. 3 NAG abzugebenden Haftungserklärung nicht gegeben.

Hinsichtlich der eidesstattlichen Erklärungen der Söhne MY und GY führte die belangte Behörde aus, dass diese für die Beurteilung, ob der Lebensunterhalt der Beschwerdeführerin gesichert sei, nicht berücksichtigt werden könnten. Dies wäre lediglich in Form eines Unterhaltsvertrages möglich gewesen. Außerdem seien diese Erklärungen schon vom Inhalt her, aber auch was die Dauer betreffe, keineswegs Haftungserklärungen im Sinne des § 2 Abs. 1 Z 15 NAG. Die beiden Söhne würden auch nicht mit dem zusammenführenden Sohn im gemeinsamen Haushalt leben und somit zu seinem Haushaltseinkommen beitragen. Letztendlich würde aber selbst für den Fall, dass die eidesstattlichen Erklärungen in Höhe von insgesamt EUR 700,-- zum Tragen kämen, das geforderte Mindesteinkommen des zusammenführenden Sohnes nicht erreicht werden.

Weiters kam die belangte Behörde bei der nach § 11 Abs. 3 NAG gebotenen Interessenabwägung im Sinne des Art. 8 EMRK zu dem Schluss, dass das öffentliche Interesse an der Einhaltung einschlägiger Zuwanderungsbestimmungen das persönliche Interesse der Beschwerdeführerin - die familiären Bindungen nach Österreich -

an einer Neuzuwanderung überwöge. Dabei komme dem geordneten Zuwanderungswesen eine hohe Bedeutung zu und die Sicherung des Lebensunterhaltes sei auch eine wichtige Grundvoraussetzung für die Erteilung eines Aufenthaltstitels.

Abschließend könne auch eine allfällige Prüfung des Aufenthaltsrechts, abgeleitet unmittelbar vom Gemeinschaftsrecht der EU, nicht zum gewünschten Erfolg führen, weil die in der Freizügigkeitsrichtlinie festgelegten Voraussetzungen nicht erfüllt würden.

Der Verwaltungsgerichtshof hat über die gegen diesen Bescheid erhobene Beschwerde nach Vorlage der Verwaltungsakten durch die belangte Behörde erwogen:

Soweit durch das Verwaltungsgerichtsbarkeits-Übergangsgesetz (VwGbk-ÜG), BGBl. I Nr. 33/2013, nicht anderes bestimmt ist, sind gemäß § 79 Abs. 11 VwGG i.d.F BGBl. I Nr. 122/2013 in den mit Ablauf des beim Verwaltungsgerichtshof anhängigen Beschwerdeverfahren die bis zum Ablauf des geltenden Bestimmungen weiter anzuwenden. Dies trifft auf den vorliegenden Fall zu.

Weiters ist darauf hinzuweisen, dass im Hinblick auf den Zeitpunkt der Erlassung des angefochtenen Bescheides (Jänner 2011) das NAG idF BGBl I Nr. 111/2010 maßgeblich ist.

Gemäß § 11 Abs. 2 Z 4 NAG dürfen Aufenthaltstitel nur erteilt werden, wenn der Aufenthalt des Fremden zu keiner finanziellen Belastung einer Gebietskörperschaft führen könnte.

§ 11 Abs. 5 NAG lautet:

"Der Aufenthalt eines Fremden führt zu keiner finanziellen Belastung einer Gebietskörperschaft (Abs. 2 Z 4), wenn der Fremde feste und regelmäßige eigene Einkünfte hat, die ihm eine Lebensführung ohne Inanspruchnahme von Sozialhilfeleistungen der Gebietskörperschaften ermöglichen und der Höhe nach den Richtsätzen des § 293 des Allgemeinen Sozialversicherungsgesetzes (ASVG), BGBl. Nr. 189/1955, entsprechen. Feste und regelmäßige eigene Einkünfte werden durch regelmäßige Aufwendungen geschmälert, insbesondere durch Mietbelastungen, Kreditbelastungen, Pfändungen und Unterhaltszahlungen an Dritte nicht im gemeinsamen Haushalt lebende Personen. Dabei bleibt einmalig ein Betrag bis zu der in § 292 Abs. 3 zweiter Satz ASVG festgelegten Höhe unberücksichtigt und führt zu keiner Erhöhung der notwendigen Einkünfte im Sinne des ersten Satzes. Bei Nachweis der Unterhaltsmittel durch Unterhaltsansprüche (§ 2 Abs. 4 Z 3) oder durch eine Haftungserklärung oder Patenschaftserklärung (Abs. 2 Z 15 oder 18), ist zur Berechnung der Leistungsfähigkeit des Verpflichteten nur der das pfändungsfreie Existenzminimum gemäß § 291a der Exekutionsordnung (EO), RGBl. Nr. 79/1896, übersteigende Einkommensteil zu berücksichtigen. In Verfahren bei Erstanträgen sind soziale Leistungen nicht zu berücksichtigen, auf die ein Anspruch erst durch Erteilung des Aufenthaltstitels entstehen würde, insbesondere Sozialhilfeleistungen oder die Ausgleichszulage."

Wie in § 47 Abs. 3 NAG zwingend vorgesehen, legte der zusammenführende Sohn der Beschwerdeführerin eine Haftungserklärung und für deren Tragfähigkeit bzw. für den Nachweis der Unterhaltsmittel diverse Lohnbestätigungen vor. Die belangte Behörde überprüfte die Haftungserklärung auf ihre Tragfähigkeit hin, indem sie ermittelte, ob zumindest die Deckung der erforderlichen Unterhaltsmittel gegeben sei (vgl. zur Tragfähigkeit das hg. Erkenntnis vom , Zl. 2008/22/0637). Dabei ließ sie die eidesstattlichen Erklärungen der zwei weiteren Söhne der Beschwerdeführerin mit der Begründung unberücksichtigt, dass diese sowohl vom Inhalt her als auch hinsichtlich der Gültigkeitsdauer nicht als Haftungserklärungen zu werten seien. Gegen diese Rechtsansicht richtet sich die vorliegende Beschwerde mit der Begründung, es handle sich bei den eidesstattlichen Erklärungen um Haftungserklärungen im Sinne des NAG und diese würden außerdem aus einem Unterhaltsanspruch der Beschwerdeführerin gegenüber ihren Söhnen resultieren.

Zunächst ist anzumerken, dass die Unterhaltsberechnung der belangten Behörde aus Sicht des Verwaltungsgerichtshofes grundsätzlich keinen Bedenken begegnet. Zwar ergibt sich unter Zugrundelegung der im angefochtenen Bescheid verwendeten und von der Beschwerdeführerin nicht bestrittenen Zahlen richtigerweise ein Fehlbetrag an Unterhaltsmitteln des zusammenführenden Sohnes von EUR 737,75 anstatt EUR 739,73, diese Differenz ist jedoch angesichts der Höhe des Fehlbetrages für die gegenständliche rechtliche Beurteilung nicht entscheidungserheblich.

Weiters ist nicht zu beanstanden, dass die belangte Behörde das Vorliegen von Haftungserklärungen hinsichtlich der beiden weiteren Söhne, die eidesstattliche Erklärungen abgaben, verneinte. Gemäß § 2 Abs. 6 NAG ist bei einem Antrag auf Erteilung eines Aufenthaltstitels nur die Vorlage einer Haftungserklärung zulässig. Darin können zwar mehrere Personen als Verpflichtete auftreten, dies hätte jedoch die Haftung jedes Verpflichteten für den vollen Haftungsbetrag zur ungeteilten Hand zur Folge. Eine solche Absicht ist den eidesstattlichen Erklärungen aber - abgesehen von der Tatsache, dass es sich nicht um ein einzelnes Dokument handelt - nicht zu entnehmen, weil die beiden genannten Söhne erkennbar keine unbeschränkte Haftung für die in § 2 Abs. 1 Z 15 NAG angeführten Kosten übernehmen wollten, sondern sich lediglich bereit erklärten, jeweils EUR 350,-- für den Unterhalt der Beschwerdeführerin zu leisten. Hinzu kommt, dass durch die in § 2 Abs. 6 NAG vorgesehene Haftung zur ungeteilten Hand auch jeder Verpflichtete für sich über die erforderlichen Mittel verfügen müsste, was jedenfalls schon beim zusammenführenden Sohn nach dem Akteninhalt und den unbestrittenen Feststellungen der belangten Behörde nicht der Fall ist.

Wenngleich neben den vertraglichen Unterhaltsansprüchen auch gesetzliche, etwa familienrechtliche, in Frage kommen (vgl. etwa das hg. Erkenntnis vom , Zl. 2009/21/0351), so ist der belangten Behörde dennoch nicht vorzuwerfen, dass sie die eidesstattlichen Erklärungen nicht in diesem Sinne ausgelegt hat. Gemäß § 2 Abs. 4 Z 3 NAG ist nämlich ein Unterhaltsanspruch zum Nachweis der Unterhaltsmittel nicht nur nach dessen Rechtgrundlage, sondern auch nach der tatsächlichen Höhe und der tatsächlichen Leistung zu beurteilen. Abgesehen von dem unkonkretisierten Vorbringen, dass die eidesstattlichen Erklärungen aus dem Unterhaltsanspruch der Beschwerdeführerin gegenüber ihren Söhnen resultieren würden, deutet der Wortlaut der Erklärungen, "EUR 350,-- beizutragen, falls dies rechtlich notwendig sein sollte" darauf hin, dass die beiden Söhne keine tatsächlichen Unterhaltszahlungen in dieser Höhe leisten. Dies wurde auch nicht behauptet. Die eidesstattlichen Erklärungen der beiden Söhne wurden daher von der belangten Behörde zu Recht nicht zu Gunsten der Beschwerdeführerin in die Berechnung einbezogen.

Zutreffend erkannte die belangte Behörde in weiterer Folge, dass sie die nach § 11 Abs. 3 NAG vorgesehene Interessenabwägung vorzunehmen hatte. Ihr ist aber vorzuwerfen, dass sie lediglich allgemein und ohne konkrete Bezugnahme auf die Besonderheiten des vorliegenden Falles einzelne Rechtssätze aus der Judikatur wiedergab. So traf sie - abgesehen von der Aussage, dass durch den Aufenthalt der Kinder der Beschwerdeführerin und deren Familien in Österreich familiäre Bindungen bestünden - keine Feststellungen, die eine Beurteilung im Sinn des § 11 Abs. 3 NAG ermöglicht hätten, obwohl die Beschwerdeführerin bereits im Verwaltungsverfahren ein Schreiben des Gemeindevorstehers ihres Heimatdorfes in der Türkei vorlegte, wonach sie auf Grund ihres hohen Alters pflegebedürftig sei, keine Verwandten und keine "Bleibe" mehr in der Türkei habe. Die belangte Behörde setzte sich mit diesem Vorbringen nicht auseinander, sondern hob lediglich das hohe öffentliche Interesse an einem geordneten Zuwanderungswesen und der Grundvoraussetzung eines Nachweises des gesicherten Lebensunterhaltes hervor (vgl. dazu das hg. Erkenntnis vom , Zl. 2009/22/0350). Indem sie auf die konkreten Umstände des Einzelfalls keinen Bezug nahm, hat daher die belangte Behörde die gebotene Interessenabwägung nur unzureichend vorgenommen.

Schließlich verneinte die belangte Behörde zwar zu Recht das Vorliegen eines Freizügigkeitssachverhaltes im Sinn der Richtlinie 2004/38/EG, zumal eine Inanspruchnahme des Rechts auf Freizügigkeit durch den zusammenführenden Sohn der Beschwerdeführerin nie behauptet wurde. Dem Urteil des Gerichtshofes der Europäischen Union vom , C- 256/11, "Dereci u.a.", zufolge darf jedoch ein Aufenthaltstitel (auch) dann nicht verweigert werden, wenn dies dazu führte, dass der die Unionsbürgerschaft besitzende Angehörige sich de facto gezwungen sähe, das Gebiet der Europäischen Union zu verlassen, womit ihm die Inanspruchnahme des Kernbestandes der durch den Unionsbürgerstatus verliehenen Rechte verwehrt wäre (vgl. das hg. Erkenntnis vom , Zl. 2008/22/0363).

Zu dieser Frage, die bisher nicht Gegenstand des behördlichen Verfahrens war, wird die belangte Behörde auch nach Einräumung von Parteiengehör allenfalls Feststellungen zu treffen und eine Beurteilung, die nicht mit der Interessenabwägung nach Art. 8 EMRK gleichzusetzen ist, vorzunehmen haben.

Der angefochtene Bescheid war somit aus den dargelegten Gründen gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG wegen inhaltlicher Rechtswidrigkeit aufzuheben.

Die Kostenentscheidung gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2008 und § 3 Z 1 der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2014 i.d.F BGBl. II Nr. 8/2014.

Wien, am